Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Sechzehntes Kapitel

Nun war die Stunde gekommen.

Zwei Menschen standen sich hart gegenüber, die sich etwas zu sagen hatten, Auge in Auge, Mensch zum Menschen, mochte der Weg auch schroff und steinicht sein, der sie zusammenbringen sollte. Wille und Verstand vermochten hier nichts mehr zu ändern. Eine höhere Macht setzte ein, über die sie keine Bestimmung mehr hatten, und diese Macht drückte ihnen, wenn auch zögernd und ganz allmählich, die Herzen zusammen. Hier wollte Blut zu Blut strömen, das zueinander gehörte. Es war mächtiger als alle Bedenken, die sich drohend emporreckten. Nicht die Jahre zählen. Auch die Unterschiede nicht. Auch das nicht, was die sinnierenden Köpfe mit hoch und niedrig bezeichnen. Nur gleichgeartetes Blut schwemmt alle Hindernisse beiseite, wittert das Gleiche im Gleichen und läßt die Stunde gebieten.

Mann und Weib in der großen Einsamkeit! Beide in der Vollkraft des Lebens. Sie älter als er, aber immer noch so köstlich wie ein jungfräuliches Kornfeld, das in der ersten Blüte steht – herb, aber von dem geheimnisvollen Duft des Verlangens und verhaltener Sehnsucht umzittert.

Damals und heute!

Das war damals auf der Asbecker Scheid gewesen, als er in ihrer Gegenwart Furche bei Furche zog und in seiner ganzen majestätischen Kraft dahinschritt. Die Erde konnte glücklich sein, von ihm gebrochen zu werden. Das Pflugmesser blinkte auf, als wäre es von einem König geführt. Das sah sie alles noch einmal. Nichts entging ihr. Jede Einzelheit trat ihr deutlich vor Augen. Damals wölbte sich ein stahlblauer Himmel über sie beide, über Äcker und das dampfende Gespann, das sich wiehernd in die Stränge legte und dem leisesten Wink seines Führers gehorchte. Dreimal hintereinander brach er das schwere Feld in der Längsrichtung, mit offener Brust und dem freien Spiel seiner Muskeln und Sehnen. Sie fühlte seine Nähe und die gebieterische Macht, die sie ausströmte. Es war ein erlösendes Büscheln. Und dann war Jans Stedink nähergetreten, besonnen und würdig und gehoben durch die Schönheit seines wehenden Bartes. Kein Wort von dem, was er gesagt hatte, war ihr entfallen. »Wenn Ihr den mal gebrauchen könnt,« also hatte er gesagt und dabei auf Heinrich Tillbeck gezeigt, »sei es so oder so, in guten oder in bösen Tagen . . . Brinkschulte, ich heiße Jans Stedink und weiß, was ich anpräsentiere.«

So hatte Meister Stedink gesprochen, und sie freute sich dessen, weil sie eins mit dem Meister war und die bösen Stunden sich wieder zu regen begannen. Jans Stedink meinte es ehrlich. Seine Worte griffen zu, und seine Gedanken, die er langsam und zäh vorbrachte und die treffsicherer waren als die besten im Lande, waren ihr aus der Seele gesprochen. Solche Worte und Gedanken hatte sie nötig. Aus der eigenen Umgebung wuchs etwas gegen sie an, dem sie allein nicht gebieten konnte. Das machte ihr die Tage zur Qual und sah entsetzt in ihre Träume hinein. Jans Stedink hatte ihr Mittel und Wege an die Hand gegeben, das Quälerische ihrer Tage zu bannen und die Träume weniger schreckhaft zu machen. Das war damals geschehen, als sie in Gegenwart ihrer Freundin den angelieferten Schwingpflug ausprobieren ließ. Damals riß das blanke Messer den Schoß der Mutter Erde in breiten Wunden auf, in die das Saatkorn hineinsollte, um zu schwellen und in Halm und Ähren zu schießen und dreißigfältige Frucht zu tragen – und heute . . .

Kein stahlblauer Himmel lachte herunter. Dumpfiges Brüten ringsum. Nur ab und zu verlorene Unkenrufe aus der Ferne und das Gejaule von Hunden. Schwaden stiegen auf und blieben regungslos in der Luft hängen. Ein Tag, um geweihte Kerzen anzustecken, damit das Unheil vorbeiginge. So sah es draußen aus. Mit geschlossenen Fensterläden lag die Welt da, und doch war es noch nicht Abend geworden. Aber eins war wie damals. Auch heute zog eine blanke Pflugschar dahin. Zeitweilig blitzte sie auf. Aber sie pflügte keinen irdischen Acker, und keine menschliche Hand lenkte sie. Sie schlitzte die lehmgelben Wolken, um wieder durch tiefes Dunkel zu gleiten. Und Gott, der Herr, führte sie. Und wenn er sie von neuem einsetzte, dann öffnete sich jedesmal der Himmel . . .

Das war heute.

Und heute war er gekommen. Erst heute! Warum war er nicht früher gekommen?

Sie reichte ihm die Hand.

»Tillbeck, Ihr seid lange geblieben,« sagte sie in ihrer verhaltenen Weise, und doch hatte sie die Wochen gezählt, die Tage, die Stunden . . .

»Ja, ich bin lange geblieben.«

Er gab ihre Hand frei. Er erschauerte vor diesem Weibe. Sein Leib straffte sich, aber sein Geist und seine Überlegung konnten nicht mit; jetzt nicht, in diesem Augenblick nicht. Das fühlte auch sie. Ein qualvolles Schweigen setzte ein. So reihte sich Sekunde an Sekunde.

Da trat sie näher: »Ihr denkt doch noch an die Asbecker Scheid, an das, was Jans Stedink über Euch sagte?«

»An das denke ich schon – und ich hätte auch schon früher vorgesprochen. Aber warum sollte ich denn? Ein tiefes Gefühl sagte mir: Geh hin, und Jans Stedink sagte dasselbe. Und so bin ich denn durch die Felder gegangen.«

Er hielt plötzlich inne.

Von der Diele kam ein leiser Windhauch. Der streifte sie und ihn und trug ihm den Duft ihres Leibes zu. Da legte sich ihm die Erinnerung schwer auf die Seele. Die drückte ihn tiefer und tiefer und zwang seinen Geist in die Knie.

»Und so seid Ihr denn durch die Felder gegangen . . .«

Er horchte auf: »Ja, da bin ich denn durch die Felder gegangen . . . aber die Besinnung ging auch mit, und was ich früher nicht wußte, das ist mir soeben klar geworden. Da kann auch Jans Stedink nicht gegen an und alles das nicht, was ich mir selber zurechtgelegt habe. Das muß man in stillen Stunden überdenken. Und so eine stille Stunde war bei mir. Die weist einem schon den richtigen Platz an und sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel hineinwachsen. Man soll nicht aus seinen eigenen vier Pfählen heraus, wenn man keine besseren findet. Es ist nicht gut, Nägel ohne Köpfe zu schmieden. Sie halten keinen ordentlichen Schlag aus, und wenn sie es tun, rutschen sie schließlich doch durch die Bretter. Erst glaubte ich, ich wäre auf dem richtigen Wege. Dann sah ich, du bist daneben gegangen. Jans Stedink hat recht, aber auch meine Überlegung hat recht. Und da sagte ich mir: Es ist schon besser – ich lasse dem Brinkschultenhof seine Ruhe und mir meine Ruhe.«

Seine Worte waren trocken und hart und kamen ihm widerwillig von den Lippen. Und doch hatte er wie einer gesprochen, der über das Fleisch triumphierte, es unter die Füße trat und sich seiner doch nicht erwehren konnte.

Die Brinkschulte fieberte unter dem heißandringenden Blut. Sie ging einige Schritte zurück und dann ans Fenster. Von hier aus sagte sie mit abgewandtem Gesicht: »Ihr habt früher so nicht gesprochen.«

Es war ein weher Ton in der Stimme, als sie dies sagte.

»Ja, damals, auf der Asbecker Scheid, nicht! – Damals regierte ich etwas und stand unter freiem Himmel. Damals war ich mein eigener Herr und wußte, wo meine Kraft und Arbeit hinaussollte. Das ist jetzt anders geworden.«

»Warum anders geworden?«

Er riß sich zusammen.

»Brinkschulte,« sagte er heiser, »das muß ich mit mir selber ausmachen. Ihr hörtet schon eben: ich bin durch die Felder gegangen, und als ich so durch die Felder hindurchging, da ist mir die Besinnung gekommen. Nicht auf einmal, sondern ganz langsam, und da dachte ich mir: Was will so 'n Mensch von der Paderbörnschen Senne überhaupt auf dem Brinkschultenhof? Jans Stedink behauptet: Wer dort hin will, der muß die Ruhe vom Tabernakel besitzen. Die habe ich schon. Wenn's darauf ankäme, dann wäre hier schon für mich die richtige Stelle. Aber Jans Stedink hat etwas vergessen. Vornehme Herrenmenschen gehören nach hier. Und darin kann ich nicht mittun. Ich zähle nicht zu ihnen. Wer über seine eigene Kraft fortgeht, der sitzt später auf einem Stein, drückt sich die Faust gegen die Stirn und hat den Glauben an sich selber verloren. Und darum – was soll ich auf Eurem Hof? And wenn ich auch bliebe, ich müßte als fünftes Rad neben dem Wagen laufen. Ich bin nicht gerade auf 'nem besonderen Fuhrwerk in die Welt 'reinkutschiert, aber mich als fünftes Wagenrad verschleißen zu lassen, das geht mir auch gegen die Ehre. Also warum denn? – es wird nicht anders dadurch.«

»Ja, es wird anders dadurch.«

Herrisch kam es von ihrem Munde.

Er berührte sie mit hungrigen Augen. Hochaufgerichtet stand sie am Fenster. Er sah nur ihre Umrisse. Das Licht der Lampe reichte nicht so weit. Aber des Herrn Pflugschar ging in diesem Augenblick durch das schweigsame Dunkel da draußen. Ein heller Schein leuchtete auf, ohne daß ein bedrohliches Murren gefolgt wäre. Für Gedankenspanne stand sie in diesem gespenstischen Feuer. Da sah er den stolzen und verführerischen Bau ihrer Glieder – und das heiße Leben in ihr – und die großen, stillen Blicke, die auf ihn gerichtet waren.

»Ja, es wird anders dadurch. – Ihr seid eben gekommen, weil Ihr kommen mußtet, weil es Euch eine innere Stimme gebot – und das ist Euer gutes Verhängnis gewesen. Ihr stört nicht Eure Ruhe und die des Brinkschultenhofes – höchstens, daß Ihr Eure wohltätige Ruhe nach hier brächtet. Es geht ein verkehrtes Treiben durch die Welt, und aus dem verkehrten Treiben heraus streckt sich eine Faust, die in meine Äcker und in meine Seele hineingrapst. – Bitte, laßt mich ausreden, Tillbeck, sonst: es wird mir schwer, meine Gedanken auf die richtige Stelle zu setzen. Ich bin nicht stark genug, das, was in mir ist und um mich ist, ehrlich zu schützen und das Verkehrte, was durch die Welt geht, von meinem Erbe zu halten. Und einen sah ich am Amboß und sah, wie er den Hammer regierte, und da sagte ich mir: Der schafft an der richtigen Stätte. Und dann sah ich ihn wieder, wie er das Pflugmesser führte, um die Erde für ihre Empfängnis vorzubereiten, ein freier Mann, unter freiem Himmel und auf meinem Grund und Boden, und da sagte ich besser: Der Mann gehört nicht an den Amboß. Dein Anwesen aber – das hat einen Pfleger nötig, der nach dem Rechten sieht und der gierigen Faust gebietet: Finger vom Brinkschultenhof. Und so dachte ich denn: Du kannst nicht alles selbst beschaffen. Setze ihn daher als Obermann über die andern, und der Brinkschultenhof wird seinen Frieden haben.«

Sie unterbrach sich plötzlich.

Er hörte das Knistern ihres leichten Kleides. Sie war wieder in den Schein der Lampe und an seine Seite getreten. Ihre Nasenflügel zitterten.

»Tillbeck, habt Ihr keine Antwort darauf?« fragte sie ruhig.

Ja, er hatte eine Antwort darauf.

»Brinkschulte,« sagte er schmerzlich, »Ihr bietet mir etwas an, das Ihr nicht voll halten könnt, und wenn Ihr es könntet, es würde zu unserm Unglück ausschlagen. Es ist nicht um meinetwegen, daß ich so rede, es ist um Euretwegen, daß ich es tue.«

Er suchte nach Worten.

»Jans Stedink hat unrecht,« fuhr er schartig fort, »und ich bin auch nicht auf dem richtigen Wege. Und trotzdem, ich möchte schon. Ja, ich möchte schon, Brinkschulte! – Aber das Gerede im Kirchspiel! Es ist jetzt schon satt und genug. Mir ist's schon lange egal; aber ich will nicht, daß sie Euch durch die Gosse ziehn . . . Und wenn ich mich dann weiter drauf besinne, wie ich als so'n armer, fahriger Kerl dahergeschneit bin, nichts Rechtes bin und nichts Rechtes habe . . . aber doch meinen regelrechten Stolz besitze, und wie ich dann hier leben und schaffen soll, gegönnt Brot essen und Euch sehn muß. Euch – in all Eurer ruhigen Schönheit, und das alle Tage, allstündlich, bis abends die Sterne heraufwollen . . .«

Er griff hinter sich, um sich an die Tischkante zu halten.

»Brinkschulte,« stöhnte er gequält auf, »ich habe doch auch ein Herz im Leibe. Ich kann ihm doch nicht zurufen: Kusch dich! – und Ihr habt kein Recht, es mir auseinander zu reißen. Und das ist um meinetwegen, daß ich so rede.«

Er wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirne.

»Ist das Eure Antwort?« fragte sie mit einem verlorenen Lächeln.

»Ja,« sagte er mit fester Stimme, »es muß schon so bleiben.«

Nichts zitterte in ihm, und doch, als Gottes Wetterschein plötzlich über sein Gesicht fiel, war es kreidig geworden.

»Tillbeck . . .

Es kam aus wehem Herzen heraus.

Ihr Antlitz stand dicht neben dem seinen. Ihr weicher Arm berührte ihn. Er fühlte die Wärme ihres köstlichen Leibes. Ihr Odem ging über ihn fort. Hatte er denn keine Augen für sie? Sah er denn nicht? Fühlte er denn nicht, was sie bewegte! Ihre Lippen redeten doch, wenn auch lautlos, unhörbar. Aber sie sprachen doch. Und also sprachen sie: »Was soll das alles? Worauf wartest du noch? Ich gleiche einer Blume, die am Wege steht und ihren Kelch sehnsüchtig auseinanderbreitet. Ich kann doch nicht sagen: Pflücke mich, denn ich verlange danach, gebrochen zu werden. Ich bin nicht mehr die steinerne Madonna von der Soester Börde. Nur noch ein unbestimmtes Frösteln liegt mir in den Gliedern. Ich möchte an deiner Brust erwärmen. Du findest bei mir, was du suchst, und ich finde bei dir, was ich nötig habe und was meinen Schlaf ruhiger macht. Ich suche keinen Studierten oder einen solchen, der sinniert und groß ist in Worten. Aber den ich suche, der muß Herr über mich sein und einen klirrenden Schritt unter sich haben. Bist du ein solcher, so komme, bevor es zu spät ist. Sonst verkümmert das Weib in mir und geht elend zugrunde. Also, worauf wartest du noch?«

Sprachlos sah er sie an. Er begann wissend zu werden.

Unwillkürlich hatte er die Lehne eines Stuhles umgriffen. Er horchte auf. Ferne Saiten klangen ihm zu, eine stille Freude wehte ihn an. Taumelnd gingen seine Gedanken zurück. In diesem Augenblick erlebte er alles noch einmal: seine Kindheit und alles das, warum seine Mutter einsam und allein stand, um schließlich wie eine erfrorene Blume über die Rabatte zu fallen. Später erfuhr er: sie hatte Liebe gegeben, ohne Liebe geben zu dürfen. Die Stätte, wo er seine Jugend verlebte, duckte sich wie ein Kiebitz mitten in der endlosen Senne. Er sah die Heide blühen, mit dem glasigen, blauen Himmel darüber. Er sah sie im Sterbehemd, starr und kalt und doch so lieblich in ihrer wunderseligen Reinheit. An stillen Sommerabenden horchte er auf die Signale, die aus dem Lager herüberklangen. Das hatte auch seine Mutter getan. Sie liebte die blauen Husaren, obgleich es ihr Unglück und schließlich ihr Tod war. Alle wandten sich ab, nur der Pastor nicht. Das war der besten und gerechtesten einer und ein Mann nach dem Herzen Gottes. »Wer wagt es, hier Richter zu sein?« sagte er mit gerunzelter Stirn, ging hin und nahm sich des Hinterlassenen an, obgleich sein Einkommen so mager war, wie die Stimme des Glöckchens, das jeden Morgen und jeden Abend über die hartherzige Gemeinde hinwegbimmelte. Und er leitete ihn und führte ihn und gedachte, etwas Großes und Heiliges aus ihm zu machen. Und der Pflegling gedieh. Er wuchs aus den Spuren seiner Kinderschuhe heraus und saß mit heißem Kopf und heißen Gedanken über seinen Büchern, suchte Wissen und Wahrheit aus ihnen und war eifrigst dabei, sich eine feste Unterlage mit Scherwänden und Balkensielen für die höhere Schule zusammenzuzimmern, als der Herr, vor dem alles gleich ist: Reichtum und Bettelstab, Hammer und Amboß, dem Leben des Heidepastors ein Ziel setzte. Mit ihm fielen alle Pläne des doppelt Verwaisten wie ein Kartenhaus zusammen. Und die Not klopfte mit harten Fingern auf den Tisch und sagte: »Na, nu weiter, mein Junge!« Der aber, ein vom Sturm verschlagener Vogel, saß zwischen Kraut und Pfriem und überlegte, was er anfangen sollte. In seiner Verzweiflung brach er bei rohen Menschen den Acker, aber nicht lange; denn ein Mann kam des Weges, rußig und im ledernen Schurzfell. Dessen rechte Schulter stand hoch vom ewigen Hämmern. Er hieß Ludger Thoholte, war krumm wie ein Hufeisen, aber auch zäh wie Stahldraht und beschlug die Pferde der Bauern und montierte denen die Pflüge und Sensen, die zwischen Ems und Lippe saßen. Der rief nun: »Heidevogel, komm mit!« Und der arme Heidevogel ging mit ihm und lernte das Eisen schweißen und fügen und freute sich an der Sprache der dröhnenden Hämmer. Und er glich einer Heidebirke, schlank und sehnig, und dann einer Eiche am Osning, kernig und wetterfroh, und kam in die Jahre, reich an Arbeit und zufrieden mit sich und seinem ehrlichen Handwerk. Und überragte alle, die um ihn waren. Die Signale der Paderborner Husaren klangen in sein Leben hinein, und sie klangen ihm bei Königgrätz und später, als die jenseits des Wasgenwaldes den infamen Mut hatten, ihren Fuß auf den Nacken der deutschen Ehre zu setzen. Aber wo er auch sein mochte: auf stiller Heide, am einsamen Feuer, in Kampf und Not – drei Dinge vergaß er nicht: seine tote Mutter nicht, die Liebe gegeben hatte, ohne Liebe geben zu dürfen, den braven Pastor nicht und nicht das Schmiedegehämmer auf weltvergessener Senne.

Auch heute waren sie bei ihm, jetzt, in diesem Augenblick, wo es eisig über seine Stirne lief und sein Herz in verzehrendem Feuer glutete.

Und neben ihm die Brinkschulte, das Weib, das ihn knebelte und allnächtens in seine Träume hineinsah. Das herrliche Weib, geschaffen, einen Mann glücklich zu machen. Aber auch das Weib . . .

Er dachte nicht weiter.

Gottes Licht glitt wieder über sie hin.

Wie sie neben ihm stand! Ohne Bewegung, aber königlich in ihrer gebieterischen Art.

»Tillbeck, und das ist Eure ganze Antwort?« fragte sie nochmals.

Spielte da eine Pantherkatze mit ihm oder ein Wesen, das zwischen Torf und Moor hauste, im Verwunschenen, um ihm das Blut aus dem Leibe zu trinken? – ihm, dem Vaterlosen, dem gequälten Menschen . . .?!

Ja, sie spielte mit ihm.

Wütig lief diese Erkenntnis durch seine Sinne.

Da vergaß er seine tote Mutter und den toten Pastor . . . nur das Schmiedegeläut war bei ihm. Und aus diesem Schmiedegeläut dröhnte eine Stimme, erst aus weiter, verlorener Ferne, dann immer näher, dann mit häßlicher Gewalt: »Du Narr, du Narr, du Narr . . .!« – und dieses ›du Narr‹ sprang aus seinem Denken in seinen Arm hinein und von hier in die Faust . . .

»Brinkschulte!« schrie er auf und umgriff ihre Schultern. Mit roher Gewalt bog er ihren Oberkörper zurück.

Sie wehrte sich nicht.

»Weib!« brach es aus ihm hervor, »Ihr wollt doch kein Spiel mit mir treiben?! Denn wenn Ihr es tätet . . . Soll ich an Eurem Spiel verbluten? Denkt an den Schulmagister aus Werl! Soll ich um Euretwegen von der Lebenskoppel herunter, wie dieser arme Narr mit seiner gierigen Liebe? Soll ich um Euretwegen auch in die Ruhr . . .?!«

Sie gab keine Antwort

Sie hatte nur ein verlorenes Lächeln.

Ihre Lider schlossen sich.

Die brutalen Fäuste taten ihr wohl.

Ihr Kopf sank nach vorn. Er beugte sich vor: »Also soll ich verbluten – oder was wollt Ihr von mir . . .?!«

»Heinrich . . .!« ächzte sie, und durch ihre hohe Gestalt lief ein Zittern und Beben, »so versteh mich doch endlich! Ich will nichts von dir. Aber der Brinkschultenhof will was von dir – und ich bin der Brinkschultenhof . . .

»Josepha . . .

Da lag sie auch schon an seinem Hals und lachte und schluchzte. Und seine starke Brust schlug ihr entgegen, und seine Blicke standen über ihr – zwei herrliche Falkenaugen.

Wie sie zueinander paßten, diese zwei prächtigen Menschen! – zwei Menschen, die da wohnen zwischen Ruhr und Lippe, blondhaarig, blauäugig – sie eine Veleda, und er: einer aus dem Heerbann des Cheruskers . . . Hermann, fla Lärm an . . .

»Also du willst . . .?!«

»Sieh, wie ich will!« und immer enger drückte sie sich an ihn, immer enger und enger, an seinen Hals, an seine Schulter . . .. und er beugte ihr Antlitz zurück, das stolze, hochmütige Antlitz, jetzt so still und verklärt wie das eines Kindes.

Da schlang er die Arme um sie, immer fester und fester, und ihre halbgeöffneten Lippen suchten die seinen. Und sie fanden sich zu einem verzehrenden Kusse, der kein Ende nehmen wollte und schmerzhaft war in seiner Keuschheit und Reinheit.

Sie stöhnte und schluchzte. Sie erduldete alles mit einem seligen Grauen.

»Du erstickst mich!« seufzte sie atemlos und doch glücklich in dieser verzückten Umarmung.

»Das will ich, das will ich!« stammelte er in ihre Worte hinein, »denn ich habe dich jetzt: dich, das gefeierte Weib vom Brinkschultenhof – und die hochfahrigen Lippen, um die so viele gefleht und gebettelt haben – alles, alles, alles . . .! – dich und den Brinkschultenhof, den ich dir erhalten will durch meiner Hände Kraft und Arbeit . . . Und wenn es dann Frühling wird, und wenn es dann Sommer wird, und wenn dann das Korn in Pracht und Blust steht, dann gehn wir hinaus in die Felder, allein hinaus in die Felder, und ich rufe dem duftigen Korn zu: Sieh, wie mein Weib blüht, tausendmal schöner als du! – und wenn es dann Winter wird, kalter, lachender, frostiger Winter . . . und wir sind allein in der Kammer . . . Josepha, Josepha! – weißt du, was ich jetzt möchte . . .«

Taumelnd flüsterte er ihr einige Worte ins Ohr.

»O du – du – du . . .!« stöhnte sie auf und wurde starr in seinen Armen. »So glücklich, so glücklich . . .

Und wieder das Stammeln und die verzehrenden Küsse – und das ›du und du‹ – und das Überdenken ihres endlichen Findens . . . zwei herrliche Menschen, zusammengeschmiedet und für immer verkettet . . . und nur die Liebe war bei ihnen und das Pochen der stürmenden Herzen . . .

Und Gottes Wetterlicht umschien sie, und Gottes Donner überrollte sie – aber sie hatten dessen nicht acht, sie hatten nur sich und vergaßen die Welt und alles, alles, was um sie war und Odem und Leben hatte.

Und sie sahen es nicht, daß Juffer Eli die gegenüberliegende Kammer verließ, feierlich, mit gescheiteltem Haar, und sie sahen es nicht, daß sie die Brautkrone der Sattelmeier zwischen den Händen hatte. Sie trug sie, wie der Priester eine Monstranz trägt.

Geräuschlos kam sie näher, trat hinter die beiden und drückte der Herrin den Schmuck der Sattelmeier in die pochenden Schläfen. Dabei lispelte sie den alten westfälischen Brautspruch mit scheuen, aber seligen Lippen:

»Der da hoch vom Himmelsthrone
Hirt und Herde lenkt,
Hat dir eine goldne Krone
Liebevoll geschenkt.
Meine Seele will sich heben,
Auf zum Himmel tut sie schweben,
Und sie jubelt und sie preist
Gott den Vater, Sohn und Geist –
        Amen!«

Große Tränen rollten ihr über die Wangen.

Dann trat sie zurück.

Willenlos hatte die Brinkschulte alles über sich ergehen lassen, dann aber . . . Gleich einer Herzogin im goldenen Schmuck straffte sie sich, reckte sie sich und stand sie da, wie sie damals gestanden hatte, damals in der Sommernacht, als sie den Spiegel um ihre Schönheit befragte und sich kraft eigenen Willens das Erbstück ihrer Mutter auf die schweren Flechten setzte. Hoheit umgab sie, und Schönheit hüllte sie ein.

»Josepha . . .

Und Tillbeck lag vor ihr – auf den Knien – und umfing ihren Schoß – und preßte sie an sich.

»Josepha! – Josepha . . .

»Das tut's nicht allein!« sagte Eli, und ihre Stimme flackerte auf, und sie deutete auf die Diele, die jetzt unter blendender Helle und dem ersten wütigen Donner lag. »Dort müßt Ihr hin! – dort unter die Bodenluke! – Da ist heiliger Boden, da liegen die Toten, da hat der Vater selig geruht, als der Schrecken ihm das Blut stehn ließ, da werden Knechte und Mägde in Verpflichtung genommen, da wird Verlöbnis gehalten . . .«

»Was sagt Ihr da, Eli . . .?!«

»Brinkschulte, sonst ist kein Segen dabei!«

»Aber ich will nicht!«

»Brinkschulte, so ist es immer gewesen!«

»Das wißt Ihr . . .

»Das weiß ich, sonst ist kein Segen dabei!«

Da hob Tillbeck sie auf, obgleich sie sich gegen eine unheimliche Kraft sträubte, die unter ihr fortzog, und trug sie über die Schwelle und von dort auf die Diele, die aufleuchtete, um wieder einzudunkeln, die unter dem Donner polterte, um wieder still wie ein Kirchhof zu werden. Und so trug er sie durch Lohe und Licht, durch Dunkel und Wetterrollen bis an die Stelle, wo heilige Erde war und über ihnen die Luke gähnte.

Hier ließ er sie nieder.

»Heinrich!« schrie sie auf und wollte aus seiner Umarmung. »Ich darf nicht und kann nicht! – Das greift nach mir und stößt mir das Herz ab! Hier ist furchtbarer Boden.«

Wütend riß er sie an sich. Dann streckte er den rechten Arm zur Decke: »Ihr gütigen Geister, segnet mein Weib!«

»Die Angst, die entsetzliche Angst!«

»Fürchte dich nicht! Der Sturm peitscht nur, und der Donner rummelt über den Hof.«

»Heinrich, das ist es ja nicht, das ist es ja nicht! Ich hab' was zu sagen und darf es nicht sagen. Mein Gott, mein Gott . . .

Sie warf sich in seinen Armen herum; dann lag sie wie tot an seiner Brust. Ihre Glieder erstarrten. Sie stierte nach oben, von wo das Entsetzen über sie herfallen wollte.

»Willst du nicht reden?« fragte er schmerzlich.

Sie griff mit beiden Händen um seinen Hals.

»Ja, ich will!« sagte sie tonlos, fast gelassen, »aber wenn ich spreche . . .«

Sie suchte aus seiner Nähe zu kommen.

Sie stieß einen gellenden Schrei aus.

»Ich bin deiner nicht würdig! – jetzt nicht . . . später vielleicht, wenn alles klar zwischen uns ist, wenn du sagen kannst: Die Liebe vergibt, denn sie ist barmherzig – die Liebe!«

Er verstand sie nicht. Es war ein verzweifeltes Ringen in ihr. Sie stemmte sich gegen ihn an: »Komm fort von hier; hier sieht das Grauen aus den Balken, und die Sünde steht neben ihm . . .«

Aber Tillbeck umschlang sie fester und fester: »Josepha . . .! – Geliebte . . .

Mit einem jähen Ruck warf sie ihren Oberkörper zurück: »So sei doch barmherzig . . .

Von der raschen Bewegung löste sich ihr schweres Haar, und die Krone der Sattelmeier klirrte zu Boden. Etliche Steine sprangen aus der goldenen Fassung.

»Mein Gott, mein Gott . . .

Juffer Eli bekreuzte sich und hob das Heiligtum auf.

Die Brinkschulte streckte sich an der Seite Tillbecks. Schweigend und totenbleich sah sie auf das Erbstück aus verklungenen Tagen. Dann schluchzte sie: »Ich hab's ja gewußt. Nun ist mein junges Glück auseinander gerissen.«

Da wurde von der Dielentür her ihr Name gerufen.

Sie gab keine Antwort.

Aber Juffer Eli rief in das Dunkel hinein: »Was soll's denn?«

Eine untersetzte Gestalt, über und über mit Lehm und Torfwasser bespritzt, drängte sich näher.

Es war Holthövel.

Hinter ihm trieb der Wind das Tor zu.

»Ich tue zu wissen,« meldete er aufgeregt, »Ignaz hat sich verfahren. Zwei Gespanne scheuten im Wetter und stecken nu bis zu den Kummetgeschirren im Moorwasser.«

Die Brinkschulte stand regungslos. Sie hörte und sah nicht.

Juffer Eli aber stierte Holthövel an.

»Was ist das für ein Schrecken im Brinkschultenhof?« fragte sie entsetzt.

»Schlimm genug, um die Gespanne ersaufen zu lassen, und daß ich's man sage: ich will die Nachbarschaft um Hilfe ansprechen.«

»Und wo ist die Not?!«

Tillbeck hatte gerufen.

»Nirgends ist Not, nirgends ist Not!« ächzte die Verzweifelte. Sie stand genau an der Stelle, wo ihr Vater selig vor seinem letzten Gang auf den Flachsbrechen gelegen hatte.

»Ja, Brinkschulte,« kam es hart aus dem Munde des Knechtes, »das läßt sich nicht wegdisputieren; die Not sitzt im Düstermoor, dicht beim Vorwerk. Und wenn keine Hilfe nicht kommt . . . Ignaz kann's auch nicht mehr halten, so'n Durcheinander ist bei den Torfgruben.«

Damit griff er hinter sich, trieb das schwere Tor gegen den Wind und suchte die Nachbarschaft auf.

Juffer Eli bekreuzte sich wieder und wieder. Kalt lief es ihr den Rücken herunter. Sie schüttelte den Kopf und fröstelte. Hier – zwischen den Pfählen war doch alles verwunschen! Schritt für Schritt ging sie rücklings. Sie suchte die Kammer auf, um die Krone der Sattelmeier zu bergen.

Selbst das Wetter erschreckte. Für eine Augenblicksspanne wurde eine Totenstille, und in diese Totenstille hinein klang es mit Zuversicht: »Das mußte so kommen!«

Und eine heimliche Freude war in ihm, in Heinrich Tillbeck, eine Kraft, wie er sie noch nie gespürt hatte im Leben, höchstens damals, als er den schottischen Schwingpflug in die trockene Scholle hineinstieß. Nur – diese Kraft und diese Freude, sie waren sieghafter, nachhaltiger, und wie Jubel lag es in ihnen.

»Josepha!« schrie es aus ihm heraus, und er preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging, »drüben im Moor, bei der Torfgrube, da liegt sie – die erste Arbeit für mich, die erste Arbeit für dich und den Brinkschultenhof.«

»Heinrich . . .

Beide Arme straffte sie gegen ihn an.

Sie wollte sprechen; allein die Stimme ging unter in dem Krachen und Rollen des Wetters, das die Grundfesten des Hofes erschütterte. Sekundenlang stand das grelle Licht um sie her.

Da blieb sie an seinem Munde hängen, gierig, verlangend, zu allen Gipfeln des irdischen Glückes emporgerissen.

»Heinrich, Heinrich . . .! – und du kommst wieder?«

»Ja, wenn alles vorbei ist.«

Noch einmal küßte er sie; dann schritt er in die Lohe hinein, die ihn mit zischenden Raketen umspielte, dem Düstermoor zu, das weit dahinten unter dem schwarzen Himmel aufblenkerte.

Mit starren Blicken verfolgte sie ihn, und ihre Sehnsucht verfolgte ihn noch, als er längst die Türe zwischen sich und die Diele gelegt hatte und die schwülen Nebel durchquerte, die vom Moor herauf den Weg überschwemmten.

Sie verschränkte die Hände.

»Nun ist mir die Liebe gekommen,« sagte sie mit einer Stimme, die weder Glück noch Zuversicht hatte, »aber ich glaube, mein Leben geht darüber zugrunde. Vielleicht auch das seine. Jetzt weiß ich es. Noch heute soll er alles erfahren. Was dann geschieht . . . Die Welt ist so weit. Auf der Soester Börde liegt so viel des Glückes. Wer das mit reinen Händen aufheben könnte! Ja, wer das aufheben könnte! Aber mir ist so: für uns beide ist kein Platz mehr auf Erden.«

Mit beiden Händen griff sie aufwärts und legte ihr Haar wieder zurecht. Ein Lächeln spielte um ihre Mundecken. Und dieses Lächeln verzog sich. Es wurde zu einem schmerzhaften Zug, zu einem verhaltenen Schluchzen, das keine Tränen mehr hatte.

Es war ihr, als öffnete sich die Bodenluke ins Ungemessene, als senkten die Balkensiele sich tiefer und tiefer. Dann breiteten sich blutigrote Schleier vor ihr aus, dann schwarze Flore und dann das Nichts . . .

»Mein Gott und mein Heiland!«

Sie drohte niederzusinken.

Da warf sie ihren Körper herum – jäh, mit aller Gewalt, unvermittelt und von einer plötzlichen Eingebung getrieben.

Sie war wieder die alte, die Frau mit dem Blut der Sattelmeier im Herzen.

»Licht!« schrie sie auf. »Ich will Licht um mich haben. Licht, Licht, Licht . . .

Gefaßt schritt sie ihrer Kammer zu.

Da saß noch Juffer Eli neben der Brautkrone, kleinlaut und ganz durcheinander. Aber auch sie war wissend geworden.

»Per Malör ist er nicht aus der Bodenluke gefallen,« sagte sie in sich hinein. »Per Malör nicht, so wahr mir Gott helfe! Aber sie, was die Madam ist – bei all ihrem Glück, sie kann einem leid tun.«

Dann ging sie hin und steckte mit Dörte die Lampen im ganzen Hause an und setzte frische Kerzen auf die Leuchter.

 


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