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Zwölf Uhr!
Die Mittagsstille saß in einer Ecke des Hofes auf einem Stein und sah in das Gewirr von Blättern, die leblos an den schlaffen Stielen hingen.
Nichts regte sich in der weiten Umgebung. Nur ab und zu der Pfiff einer Lokomotive, der langausgezogen durch das müde, sonnenheiße Land glitt, kaum hörbar, weit nach Soest zu, um lautlos in der zitterigen Luft zu verklingen.
Herzblattförmige Schatten klebten am Boden. Helle Reflexe lagen daneben. Sie rückten nicht von der Stelle. Kein Windhauch rührte sich. Alles zwinkerte mit verschläferten Augen. Ein schwerer Duft von Thymian und Lindenblüten war ausgetan, und doch trugen die Bienen nicht ein. Der sonst von Meisen und Heckenbraunellen belebte Hausgarten war ausgestorben. Unbeweglich, mit gesenkten Kelchen, standen die Kartäusernelken auf den Buchsbaumrabatten. Einzig und allein flogen die Schwalben noch ab und zu, und von den nahen Kleeäckern kam das verträumte Geigen der Heimchen herüber.
Der Hof war menschenleer. Die Arbeit ruhte während der heißesten Stunden. Knechte und Mägde hatten sich von Staub und Schweiß gesäubert und waren zu Tisch gegangen. Nur ein Stalljunge bewegte sich schwerfällig von Krippe zu Krippe und tränkte die Pferde. Dann ging auch er in die Küche.
An langer Tafel, dem Herde schräg gegenüber, an dem eine Magd mit aufgesteckten Kleidern hantierte, saßen fünfzehn bis zwanzig Personen. Türe und Fenster standen offen. Ein kräftiger Geruch nach frischem Heu wölkte sich über Speck und dicke Bohnen. Zwei andere Mägde trugen ab und zu.
Ignaz Greving, der Großknecht, präsidierte. Neben ihm saß Juffer Eli, still und bedächtig, aber in reger Tätigkeit, während Karl Mersmann am anderen Ende des langen Tisches auftauchte. Alle sprachen kein Wort, um besser essen zu können. Minute reihte sich an Minute, eine Viertelstunde rundete sich ab, ohne daß sich eine Silbe vorgewagt hätte. Jeder Augenblick war kostbar. Er mußte ausgenutzt werden, und so geschah es denn, daß Speck und dicke Bohnen eine äußerst solenne, aber auch eine sehr schweigsame Bestattung erfuhren. Jeder wollte es dabei dem andern zuvor tun. Keiner blieb zurück, aus Furcht, zu wenig geleistet zu haben.
»Wenn de Katten musen, dann mauet se nich,« griemelte der Spökenkieker in sich hinein und löffelte weiter.
Nur eine aß nicht. Messer und Gabel lagen unberührt neben dem Teller. Sie saß zwischen den übrigen Mägden und war rank und schlank gewachsen und lieblich anzusehen. Ihr halbgeöffnetes Leibchen spannte sich prall über der harten, jungen Brust und ließ einen kleinen Teil des milchweißen Fleisches erkennen. Heute war sie beim Heuen beschäftigt, sonst meistens im Hause, ging ihrer Herrin zur Hand und wurde von dieser mit Zuneigung und stiller Liebe behandelt.
»Die gefällt mir nicht,« sagte Juffer Eli vor sich hin und legte Gabel und Messer beiseite.
Fragend sah sie Ignaz an.
Dieser verstand sie.
»Sie hat's soeben beim Heuen erfahren,« sagte er mit verhaltener Stimme.
»Was denn beim Heuen erfahren?«
»Na, das mit die blutigen Köpfe; es ist von Dortmund gekommen.«
»Da ist doch nichts Schlimmes passiert?«
»Wie man's nimmt,« sagte Ignaz und zuckte mit den Schultern, »und wen's trifft, kann darüber wirbelsinnig werden. Möglich, sie hat was abgekriegt und ist darüber wirbelsinnig geworden.«
Er flüsterte ihr einige Worte zu.
»Was?! – ihr Verlobter . . .!«
Juffer Eli mußte sich an der Tischkante halten, um nicht vom Stuhle zu fallen.
»Wie ist das nur möglich gewesen?«
»Je,« sagte Ignaz und dämpfte seine Stimme zu einem leisen Geflüster, »wenn so die Kerls nach Gleichheit und Brüderlichkeit schreien und die Wetterführung zertöppern, dann kann alles passieren. Na, und die Dreizehner erst! Was sie mit den anderen machten, haben sie auch mit dem Zechendores gemacht.«
»Um Gott nicht, was taten sie denn?«
»Still!« sagte der Großknecht und deutete mit einem stummen Zeichen auf das blonde Geschöpf, dem große Tränen in den Augen standen. »Eli, sie haben ihn einfach aus dem Leben getrommelt. Und nu liegt er im Totenhäuschen auf Stroh und besieht sich die Decke.«
Eli war wie gelähmt.
Der gutmütige Riese sah steif auf den Teller.
»Das kommt toujours von die neumodische Lehre und ihre verfluchtigen Predigers,« sagte er ernst vor sich hin.
Dann wurde seine Zunge ungelenkig. Er sprach nicht mehr. Aber seine schlichte Ruhe behielt er, und diese Ruhe war so selbstverständlich wie die eines verrosteten Sargnagels. Mit dieser Ruhe musterte er die Tischgesellschaft, Knechte und Mägde, ob jemand noch ein Verlangen oder ein Anliegen anbringen würde.
Er las in allen Gesichtern.
Niemand hatte ein Anliegen mehr. Alle saßen da mit dem Wohlbehagen gesättigter Menschen.
Da ergriff Ignaz sein Messer und stieß es bis ans Heft in ein Laib Brot, das neben ihm ruhte, erhob sich, machte das Kreuzzeichen und sagte mit lauter Stimme: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen!«
Alle beteten mit, rückten mit den Stühlen und stellten sich in Gruppen zusammen.
Sie warteten auf ihre Orders.
»Holthövel!« rief Ignaz.
Der Angerufene, ein breitspuriger Gesell, antwortete denn auch in behaglicher Breite: »Ich will für meine Person zu wissen tun, daß ich hier bin.«
»Ihr spannt die Braunen an und holt die Brinkschulte ab. Schlag fünf Uhr auf dem Bahnhof in Soest.«
»Wollen's besorgen.«
»Aber vorher ordentlich kardätscht und gestriegelt. Ihr wißt, die Madam sieht nach.«
»Weiß ich. Die ist nie kommode gewesen.«
»Für alle: Mittagspause bis drei Uhr von wegen die Hitze.«
»Merci!«
»Wo wird weiter gefahren?« kam es von dritter Stelle.
»Toujours an die Mergelgrube beim Finkenkamp. Was nicht mehr unter Dach und Fach kann, wird auf Mieten gestellt.«
»Es soll seine Richtigkeit haben.«
»Aber alles schlankweg auf Reihe, denn was die Madam ist, sie kommt an die Mergelgrube vorbei.«
»Man keine Bange, Großknecht. Adjüs denn.«
»Adjüs denn.«
Flinke Hände rückten die Stühle zurecht, während Knechte und Mägde der Türe zudrängten, um im Heu oder im Schatten der Bäume ein Mittagsschläfchen zu halten. Da breitete Karl Mersmann die Arme und rief ihnen mit feierlicher Stimme nach: »Heiliger Bülo Krawallo, segne die Arbeit!«
Ein unterdrücktes Lachen kam als Antwort zurück.
»Den Düwel noch mal! – wollt ihr wohl kusch sein, sonst läßt der Herr Pech und Schwefel vom Himmel regnen, drei Tage und drei Nächte hindurch.«
Erneutes Lachen setzte ein, und einer rief aus diesem Lachen heraus:
»De Narren, Papen un de Hiärk
Verdiärft dat ganze Dageswiärk!«
Da bäumte sich der Spökenkieker auf, als habe ihn eine Kugel getroffen. Er ballte die Fäuste und streckte unwillkürlich die breite Brust hervor, als sei er gewillt, den Spötter auf die Dielen zu legen.
Aber Ignaz trat dazwischen und gab den Abziehenden ein stummes Zeichen.
Karl Mersmann sah es.
»Ignaz, verfluchtig . . .!« trumpfte er auf.
»Laß die Kerls man laufen,« begütigte Ignaz.
Da gab sich der Spökenkieker zufrieden und ließ sich schwer in einen Lehnstuhl fallen, den die Brinkschulte zu benutzen pflegte, sah aber den Knechten und Mägden nach, als müsse er allen die fallende Sucht auf den Leib hexen.
»Verklammtes Volk . . .!« knirschte er zwischen den Zähnen, umgriff die Lehnen und stierte mit glanzlosen Augen in die dämmerige Helle, die von der Diele herüberzwinkerte.
»Ich möchte sein wie unser Herr Jesus Christus,« sagte er hierauf und mit demselben Tonfall, wie er es gewohnt war, in der Kirche zu beten, »oder« – und er brach in ein lustiges Grinsen aus – »wie Jan von Leyden und Knipperdölling. 'runter mit die Köpfe!«
Seine rechte Hand sirrte flach durch die Luft, als habe sie ein breites Schwert zu regieren. Dann verfiel er in ein dumpfes Brüten und zählte die Sonnenstäubchen, die vor ihm auf- und niedertanzten. Der Kopf sank ihm tiefer. Er zählte nicht mehr. Seine Gedanken waren schlafen gegangen.
»Er hat wieder seinen schlimmen Tag,« flüsterte Ignaz Juffer Eli zu, die bereits am Fenster saß, den Faden wächste und ihn gegen das Licht und mit vorgeschobener Zunge in das Nadelöhr hineinpraktizierte.
»Jeja!« sagte diese, »das kann kein gutes Ende nicht nehmen.«
»Warum bleibt er denn hier?«
»Ich weiß nicht.«
»Auch das nicht, was sie an ihm gefressen hat?»
»Was für 'ne ›sie‹ denn?«
»Toujours die Madam.«
»Ignaz, das kann keiner nicht wissen – hat keiner niemals gewußt – wird keiner niemals in Erfahrung nicht bringen. Da liegt so was drüber; wissen Sie, Ignaz, so was wie überm Düstermoor, wenn der Heidemann mit seinem weißen Laken herumwuschert. Ignaz, das können keine zehn Finger nicht heben.«
»Auch er nicht? Ich meine, hat er gar keine Besinnung von früher, an das, was ihm mal als Junge oder so um diese Zeit herum passiert ist? Er muß seine Gedanken doch irgendwo anhaken können.«
»Nee,« meinte die Nähterin, indem sie einen neuen Faden einzog, »er erinnert sich nicht oder man dösig. Ebensowenig können sich die gefirnißten Sargbretter erinnern, daß sie mal lebendig gewesen sind.«
»Merkwürdig!« versetzte der Großknecht, trat an den Herd, nahm ein glimmendes Spänchen und setzte seine Pfeife in Brand, die er vorher mit aller Sorgfalt gestopft hatte. »Ich meine, Eli, das geht doch nicht so toujours weiter mit ihm; da muß doch jemand nach dem Richtigen kucken. Da müßte die Madam doch sagen: Jetzt wird reine Bahn gemacht; der Mann muß 'ne anderweitige Unterkunft haben.«
»Ja, wenn sie könnte!«
»Warum kann sie denn nicht?«
»Ignaz, wenn ich das wüßte. Da kennt sich niemand drin aus. Vielleicht ist die Sache so oder so. Schon Jahre um Jahre sitzt er hier auf dem Hof, und ich will nicht Eli Distelkamp heißen, wenn das nicht immer so langsam voran geht, bis sie ihm mit 'ner Hand voll Erde das letzte Honör erweisen.«
Der gutmütige Riese schüttelte bedenklich den Kopf und sah auf den Spökenkieker, der mit zusammengelegten Händen fest zu schlafen schien.
»Aber wo stammt er denn eigentlich her?« fragte er nach einigem Besinnen, rückte näher ans Fenster heran und umgriff das Arbeitstischchen mit beiden Händen.
Juffer Eli hielt mit Nähen inne.
»Das ist auch so 'ne Sache,« meinte sie schließlich. »Da ist soviel drüber geredet worden, krauses und dummes Zeug durcheinander, daß es schwer hält, das Richtige unter Beobachtung zu kriegen. Aber eigentlich ist er doch wohl dem seligen Schulmagister Asmus Mersmann aus Hilbeck sein jüngster gewesen, hatte auch 'nen hellen und anstelligen Kopf und ist bei dem verstorbenen Pfarrer daselbst in die Lehre gekommen. Für seinetwegen hätte er auch alle Tage Student werden können. Aber wie das bei die Schullehrer so ist: sieben bis zehn Kinder, fünfhundert Taler Gehalt und man knapp in Beköstigung. Da hat denn der Brinkschultenhöfer ein übriges getan, nahm ihn in Kost und Logis und ließ ihn toujours, wie Sie immer sagen, in die Höhe avancieren: erst Stalljunge, dann Vorarbeiter, na und so weiter – und war einer, der einherging wie jemand, der Sonnenlicht um sich hatte und festen Grund unter den Füßen und alle Weibsbilder aus Verstand und Fassung brachte, bis der liebe Gott der Wirtschaft ein Ende machte und sagte: Bis hier und nicht weiter.«
Ignaz rückte mit seinem Gesicht immer näher.
»Und das ist ganz plötzlich gekommen?« fragte er mit scheuer Betonung.
»Ganz plötzlich, wie so'n Malör kommt.«
»Und Ihr wißt nichts Bestimmtes darüber?«
»Keine blasse Idee.«
»Man sollte doch meinen, wo Ihr hier seit Jahren ein- und ausgegangen seid, da hätten die Schlüssellöcher nicht dicht halten können.«
»Da muß ich aber doch bitten . . .!«
Energisch knipste sie einen Faden ab und legte ebenso energisch die Hände zusammen.
»Exküsiert!« meinte Ignaz, »selbstverständlich ohne Euch nahe zu treten. Ihr habt doch nicht nötig, Eure Ohren einzuwachsen.«
»Das nicht,« sagte Eli und lenkte ihre Aufregung wieder in stilleres Fahrwasser.
»Also gar nichts gehört?«
Ignaz legte seinen Mund dicht an ihr Ohr: »Ich frage nicht aus Neugierde, Eli, aber es tut mir barbarisch leid, den armen Menschen in dieser Verfassung um sich zu wissen.«
»Ignaz, das ist es ja eben! Was ich vorhin erzählte: die Geschichte vom Düstermoor und dem Weißen Laken . . . Das kann keiner nicht heben. – Ich werde mir auch nicht die Finger verbrennen. Und darum: nichts, reineweg gar nichts.«
»Aber sie – was die Brinkschulte ist! Wie sie's mit ihm aushalten kann, das will nicht unter meinen Hut und ist schwer zu begreifen. Toujours diesen Menschen um sich zu haben! – Überall ist er und ist nirgendwo zu finden. Rufst du ihn, so ist er da und doch nicht zu sehen. Er versinkt in den Boden. Er sieht und hört nichts, und doch weiß er alles. Er geht durch Mauern, ohne sich den Schädel einzurennen. Woher kommt er? Wohin will er? Eli, und dann immer diese Hellweggeschichten! – das läßt einem ja das Vaterunser im Munde gefrieren. Amüsiert sich da halbe Nächte hindurch, um dann verweht und ganz auseinander nach Hause zu kommen. Da müßte doch die Madam . . .«
»Ignaz, die kann nicht.«
»Wo sie doch sonst wie'n richtiges Mannsmensch zugreift . . .!«
»Auch da nicht.«
»Das wäre denn doch!«
»Ignaz, ich habe so meine Gedanken.«
»Was für Gedanken?«
»Ignaz . . .!« – und Juffer Eli versteinerte, so strack und aufrecht saß sie da, ohne Bewegung, ohne auch nur im geringsten mit den Wimpern zu zucken. Hierauf legte sie ihr Nähzeug beiseite und klopfte mit ihrem Fingerhut dreimal laut und deutlich unter die Tischplatte.
»Ich will nichts berufen, aber ich kann die Sache nicht los werden. Immer ist sie bei mir, drückt sich mit mir in die Posen hinein und ißt mit mir aus ein und derselbigen Schüssel.«
Damit zog sie Ignaz dicht an sich heran und flüsterte ihm mit aufgerissenen Augen zu: »Sie, Ignaz, ich habe mal so was Ähnliches gelesen und denke mir immer: sie, was die Brinkschulte ist, sie geht mit 'ner armen Seele herum, die 'ne schwere Eisenkugel hinter sich her schleppt.«
Ignaz prallte zurück.
»Aber, Eli!«
»Pst!« sagte diese, zeigte auf Karl Mersmann und simulierte einen Fleiß, als müsse noch vor Abend der ganze Leinwandballen, der neben ihr lag, zugeschnitten und umsäumt werden.
Der Gottesnarr streckte sich nämlich, knurrte wie ein Hund, den man mit einem Fußtritt beglückt hat, und versuchte, aus seinem Dusel herauszukommen.
»Hat hier jemand geredet?« fragte er lauernd vor sich hin, »du, Eli, oder du, Ignaz?«
»Keinen Ton,« sagte dieser.
»Von mir oder der Brinkschulte?« inquirierte der Spökenkieker weiter und ließ seine glasigen Blicke von einem zum andern gleiten.
»Nee,« sagte Ignaz.
»Dann ist es das verklammte Volk von eben gewesen.«
Ignaz trat auf ihn zu und bot ihm den Tabaksbeutel an: »Dummes Zeug, Kardel! – 'ne Pfeife gefällig?«
»Her damit!« sagte der Angeredete, zog einen Tonstummel aus der Seitentasche und griff in den Beutel.
»AB Reuter, prima Qualität,« meinte Ignaz und hielt ihm einen brennenden Span hin.
»Merci!«
Karl Mersmann blies seine Kringel zur Decke, aber er schnalzte dabei wie ein geangelter Karpfen.
»Das schluckt den Ärger herunter,« sagte er nachdenklich.
»Was für'n Ärger?«
»Na, der von soeben. Alles met Moten, aber das unwiese Volk ist ja leiger als Ratzen und Wanzen.«
Er streckte die Fäuste. Der alte Grimm kehrte zurück: »Hauen will ich sie mit 'ner Wagenrunge über den Bregen!«
Auf seiner Stirn schwollen die Adern an. Die Stimme dröhnte mächtig auf. In seinem Hirn kam ein wirrer Gedanke zu Raum. Ein Zittern und Rütteln ging durch seinen stahlharten Körper. Er warf den Kopf herum und suchte durch die Küchentür die weite Diele ab.
»Wer ist da?« schrie er plötzlich auf. »Es ist jemand gekommen. Der will was.«
Ignaz versuchte zu lächeln.
»Es ist niemand gekommen,« sagte er mit einer gewissen Beklemmung.
Auch Juffer Eli fühlte sich ungemütlich.
Der Spökenkieker sah vorsichtig über die Schulter zurück.
»Wer da?!« rief er gegen die Diele an.
Keiner war da. Nichts war zu sehen und nichts zu hören.
»Aber da stand einer mit 'nem Kreuzdorn und 'nem hafergelben Gesicht.«
»Keine Idee.«
»Ignaz!«
»Nee, Kardel, da hat keiner gestanden.«
Da lachte der Spökenkieker hell auf, streckte die Hände und sagte: »Dann kommt er noch mit seinem verfluchtigen Gliewenkieken; aber der Herr wird erscheinen mit seinen himmlischen Heerscharen und ihn von der Tenne fegen wie Spreu vor dem Winde. Schiete, segg Leppers.«
Wie schlappe Segel klappten die Arme zusammen. Langsamen Fußes schritt er der Treppe zu, die zu den oberen Kammern führte. Auf den ersten Stufen blieb er stehn und sagte von hier aus: »So wird es geschehen, auf daß sich erfülle das Geschick auf dem Brinkschultenhof. Ich aber will beten zum Herrn und zu Knipperdölling – und siehe: es wird dann Licht werden über den Feldern. Und das Licht ist groß und schön und leuchtet wie eine Flamme des Herrn.«
Hierauf schloß er die Augen, und mit geschlossenen Augen ging er nach oben, innig lächelnd, zufrieden in sich und wie erleuchtet von einem inneren Glanz, die Vision dessen, was seine Seele bewegte.
Niemand wagte es jetzt, ihn noch auszufragen oder gar zu belästigen.
Ignaz warf ihm noch einen langen Blick nach; dann verließ er mit schweren Sorgen die Küche, um noch eine kleine Handvoll Schlaf zu sich zu nehmen.
Juffer Eli machte gleichfalls ein Nickerchen, während die Küchenmagd abdeckte, Teller und Schüsseln abwusch und alles wieder an Ort und Stelle setzte.
Abermals schlich eine Viertelstunde vorüber, da war es Juffer Eli so, als wenn jemand spräche, aber gedämpft und mit unverständlichen Lauten durchbrochen. Bald darauf gewannen die einzelnen Worte an Schärfe. Deutlich klangen sie in ihre Traumwelt hinein. Sie hörte dieselben, als würden sie in ihrer unmittelbaren Nähe gesprochen, und also hörte sie: »Und siehe: er, der König, führte Elisabeth Wandscherer sogleich auf den Markt und schlug ihr am zwölften des Brachmonats mit eigenen Händen, in Gegenwart des ganzen Volkes und aller Kebsweiber, den Kopf mit dem Schwerte herunter und trat ihren toten Leichnam mit Füßen. Hierauf tanzete er mit seinen übrigen Kebsen einen Ringelreihenrosenkranz um das gerichtete Weib, und alle sangen dabei den Lobgesang ab: ›Ehre sei Gott in der Höhe‹ und tanzeten weiter.«
»Um Gott nicht!« erschreckte sich Juffer Eli, machte in ihrer Bedrängnis das Zeichen des heiligen Kreuzes und sagte: »Da drippelt wohl schon Blut durch die Decke. Nein, dieser Kardel! Wenn die Sache man gut geht! Aber hier in diesem Hause nimmt alles einen konträrigen Gang, wenn sich die Brinkschulte den Menschen nicht vom Halse schafft. Jesus, Maria . . .!«
Dann nahm sie wieder die Arbeit auf und machte große und runde Augen, in welchen ein Ausdruck tiefer und trauriger Güte lag. –
Etliche Stunden später ging ein fröhlicher Peitschenknall über die Roggen- und Weizenschläge, die zwischen Soest und dem Brinkschultenhof lagen. Eine frohe Verheißung ruhte auf den Feldern, die bereits die Milchreife hinter sich hatten. Man sah nur Getreide und nichts als Getreide, in welchem hier und da der Mohn flammte und die Kornblumen wie tiefblaue Sterne aufleuchteten. Die warme, schwere Frucht bewegte sich leise im Wind und harrte geduldig ihrer Niederkunft entgegen. Ab und zu lockte ein versprengtes Wachtelmännchen im Korn.
Auf der Landstraße war lustiges Wagenrollen. In schlankem Trabe führte Holthöwel seine feurigen Braunen dahin. Zeitweilig schnalzte er mit der Zunge und ließ lediglich aus guter Laune heraus seine Peitsche spielen; dann knatterte es wie mit Flintenschüssen über die ruhigen Felder. Nach viertelstündiger Fahrt bog er ab. Jetzt ging es über eigenen Grund und Boden.
Aufrecht saß die Herrin im offenen Wagen. Den Strohhut hatte sie neben sich liegen. Sie liebte es, sich von den heißen Strahlen der Sonne küssen zu lassen. Ein leichtes Gewebe hüllte ihre junonischen Formen ein. Ihre Hände steckten in schwedischen Handschuhen. Sie atmete tief auf. So weich und zärtlich ging die Luft, und von den Halmen und Ähren strömte ein gesunder und kräftiger Duft aus. Ein leises Beben zitterte um ihre Nüstern. Unter ihren Brauen lag eine stille Verklärung, für die sie keinen Grund hatte oder nicht haben wollte.
Sie hob sich im Wagen.
Dort über die blauen Wälder fort lag Sönnern.
Sie glaubte, ein fernes Schmiedegehämmer zu hören, und neben ihr und weit um sie her streckte sich Scholle bei Scholle, Acker bei Acker, Morgen bei Morgen. In schneller Fahrt durchquerte sie diese unermessenen Weiten – ihre Weiten, ihre Felder und Äcker. Bald kam die Zeit, wo sehnige Männer mit erdbraunen Gesichtern und offener Brust hinter dem Vormäher hergingen, denen die Binderinnen folgten, tiefgebückt und die Ähren sammelnd von der geschorenen Fläche. Sie hörte schon jetzt die eigenartige Musik, die diese Arbeit mit sich brachte: das Rauschen der blanken Sensen, das taktmäßige Schreiten und Wetzen und das Niedersäuseln der Schwaden, der einzelnen Ähren, die noch im Sterben ihre Psalmen sangen.
Ihr Auge, ein stolzes Frauenauge, bewachte dieses Schaffen und Ringen. Noch besser, wenn ein Herrenauge hier wachen könnte.
So dachte sie, und wieder schweiften ihre Blicke gen Sönnern, dessen Kirchturm in weiter Ferne aufdämmerte.
Dann warf sie sich in den Sitz zurück. Mit geblähten Nasenflügeln, die Lider halb geschlossen und mit verzückter Seele lauschte sie dem Rauschen und Wispern des Getreides, das unaufhörlich mit ihr zog.
Es war eine Musik für die kommenden Tage.
Bald darauf trabten die Braunen die sanfte Lehne hinan. In verschwenderischer Fülle nickte das Korn zu beiden Seiten der flinken Räder.
Sie streifte die Handschuhe ab und glitt mit glücklichen Fingern über die vorbeifließenden Wellen, zwischen denen ihr stolzer Hof eingebettet lag wie ein Schiff in sanfter Dünung. Kobaltblaues Licht ruhte auf den mächtigen Eichen. Gleich treuen Knechten aus alter Vorzeit umstanden diese ihr blühendes Anwesen.
Jetzt hob sich das Herrenhaus scharf von den Nebengebäuden ab. Die neuerbaute Scheune mit den brennendroten Ziegelpfannen knallte in die Landschaft hinein. Alles gab sich näher und freier.
»Endlich!« kam es leise und kaum hörbar von ihren Lippen.
Noch einmal ließ sie die Lider herunter. Wie eine Betäubung, wie eine selige Verwirrung ging es über sie fort. Das Oval ihres Gesichtes zog sich sanft in die Länge. Die Vorstellung: einer möchte dich besitzen, einer begehrt dich, ließ ihr das Herz bis in den Hals hinein schlagen und erregte den Wahn in ihr, er säße schon neben ihr, zöge sie stürmisch an seine Brust und sie müsse unter seiner wütigen Umarmung ersticken.
Wie in einem schwimmenden Nebel trieb sie voran.
Bald darauf war sie wieder Herrin über ihre Sinne geworden. Nicht das verzückte Weib, aber die steinerne Madonna von der Soester Börde fuhr nunmehr dem nahegelegenen Gehöft zu.
Kaum eine Viertelstunde noch, und der Wagen rollte im Schatten der alten Eichen dahin.
Plötzlich ließ sie halten – nicht an der Haustür, sondern mitten im Hof und zwischen den Scheunen, wo die Feldgespanne noch in voller Tätigkeit waren.
Den Hut am Arm hängend, mit kurzem Rock und zierlich gefesselt, schwang sie sich aus dem Wagen, rückte ihr schweres Haar zurecht und ließ Gespanne und Menschen Revue passieren.
Wo früher noch Kichern und heimliches Sprechen war, da schwieg jetzt alles. Ein großer Neufundländer, der sonst knurrend Haus und Stallung umkreiste, kam wedelnd näher und duckte sich zu ihren Füßen. Lautlose Stille war um sie. Nur das Knarren der ab- und zufahrenden Wagen ließ sich vernehmen.
Nichts entging ihr.
In schweren Zügen atmete sie den Geruch der Arbeit ein.
Eine Freiin, ein stolzes und blendendes Weib stand sie auf dem Grund ihrer Väter.
Ignaz Greving trat auf sie zu.
Den Hut zwischen den Fingern drehend, sagte er stockend: »Ick gröte Ju, Brinkschulte.«
Man merkte ihm die Befangenheit an.
»Ick danke Ju, leiwe Mann,« gab sie kurz zurück.
Dann flogen ihre Blicke nach den offenen Bodenluken.
»Wie weit ist die Arbeit?« fragte sie in ihrer abgerissenen Weise.
»Schlag Klock sieben wird die letzte Fuhre gemacht.«
»Und keine Mieten gesetzt?«
»Mensch und Vieh haben in die Hände gespuckt. Ist nicht nötig gewesen.«
Sie nickte befriedigt.
»Wenn der Herr erntet,« fuhr sie langsamer fort, »soll der Mietling nicht darben. Ihr versteht mich doch, Ignaz?«
»Offen gestanden, so recht nicht.«
»Ich meine von wegen der armen Marieke Maraunke. Einen Mann hat sie nie gehabt, aber zwei Kinder und nichts für den Pappenstiel. Ihre einzige Kuh jammert nach Fressen. Wenn Ihr vorbeifahrt, habt Ihr ihr doch einige Bündel vom Wagen geworfen?«
»Alles besorgt,« sagte Ignaz und fühlte sich freier.
»Ist sonst was passiert?« fragte sie wieder.
»Passiert eigentlich nicht; aber Simmchen Löwenthal sprach vor vierzehn Tagen vor und will heute das nämliche machen. Ich glaube, er muß schon im Hof sein.«
»Warum?«
»Er spekuliert toujours auf die Blesse.«
»Wieviel bot er?«
»Hundertfünfzig Taler preußisch Kurant.«
»Hundertundsechzig. Sonst nicht.«
»Hab' ich auch schon gesagt.«
»Dann habt Ihr richtig gesprochen.«
Sie warf ihm einen wohlwollenden Blick zu: »Ick danke Ju, leiwe Mann.«
»Guod lohn Ju, Brinkschulte.«
Der Großknecht war entlassen und ging wieder seiner Beschäftigung nach, kehrte aber auf halbem Wege zurück und sagte: »Madam, ich habe noch etwas vergessen.«
»Wo drückt's denn?«
»Mir nicht, aber die Dörte.«
»Was ist denn mit Dörte passiert?«
»Das hakt mit Dortmund zusammen.«
»Wo sie im Aufstand sind? Man keine Sorge. Das gibt sich in nächster Zeit. Blutige Köpfe bringen den Verstand wieder.«
»Bei dem Zechendores aber nicht mehr, Madam. Der liegt nu im Totenhäuschen und hat den Atem verloren.«
Die Brinkschulte zuckte zusammen.
»Dörte . . .!« kam es gepreßt von ihrem Munde.
»Das ist es ja grade.«
»Schlimmeres konnte für die Ärmste nicht kommen. Aber sie wollte kein Einsehn haben. Was betreibt sie jetzt?«
»Ich habe sie von's Heuen geschickt, denn sie suchte den gestrigen Tag und konnte den gestrigen Tag nicht mehr finden.«
»In einer Stunde will ich sie sprechen.«
Damit ging sie dem Herrenhaus zu, insichgekehrt und mit schweren Gedanken.
Am Eingang wurde sie von Eli empfangen, die ihr einen Strauß von Rittersporn und Sommerlevkojen überreichte.
Auch hier die Begrüßung: »Ick gröte Ju, Brinkschulte – ick danke Ju, Eli,« als sich ein feines Räuspern im Schatten der Diele erhob, das verlegen näher rückte, Glacehandschuhen überstreifte und schließlich in die Worte überging: »Schon ßurück von die Reise? Darf ich ergebenst fragen, wie's Ihnen bekommen is bei die Verwandten dahinten? Es sind ja vornehme Leute, die Sattelmeiers; un was mein Vetter, der Zodik, bedeutet, wo is angestellter Kommis bei's reiche Haus Siegfried Gutmann in Dortmund, der hat mir erßählt, daß sie leben sollen wie die wirklichen Förschten.«
Die Brinkschulte lächelte: »Simmchen, das ist wohl ein bißchen reichlich genommen.«
»Nu, dann wie die Edelmänners,« versetzte Löwenthal, legte den Kopf auf die Seite und ließ die Finger durch sein rötliches Bärtchen gleiten.
»Ich habe mit Ihnen ßu reden,« meinte er schließlich.
»Ich weiß,« versetzte die Brinkschulte, »Sie haben ein Angebot auf die Blesse gemacht.«
»'ne pompöse Kuh!« sagte Simmchen, »is sie doch unter Brüdern wert hundertunfünfßig Talers preußisch Kurant. Aber wo soll ich hernehmen hundertunfünfßig Talers preußisch Kurant? Gott Abrahams, die Szeiten sind miserabele Szeiten! Sie gefallen mir nich, wie auch mein Vetter, der Zodik, gesagt hat; haben sie doch gemacht die Rebellionierung unter die unbewußten Menschen in Dortmund.«
»Simmchen, das ist alles recht schön, aber gute Ware will auch bezahlt sein.«
»Soll sie auch,« sagte Löwenthal, trat einen Schritt näher und klimperte mit harten Talern in der Tasche herum, »wird auch gemacht das Geschäft, aber erst später, nu, sagen wir in vierßehn Tagen. Warum sollen wir nich machen das Geschäft in vierßehn Tagen von wegen die Blesse?«
»Ich dächte, Sie sind deswegen schon heute gekommen.«
Simmchen legte den Kopf noch mehr auf die Seite. Um seine Mundecken spielte ein verlegenes Zwinkern, während seine sanften Blicke sich ganz allmählich verschleierten.
»Wollte ich auch,« sagte er mit einem wehleidigen Anflug in der Stimme. »Aber was sind menschliche Pläne? Sie haben kurze Beine un bleiben im Chausseegraben liegen. Sie sind marode geworden. Sehn Sie, Madam Brinkschulte, ich habe ßwei Päckchen ßu Hause: eins mit die Geschäften un eins mit die Sorgen. Das mit die Geschäften habe ich bei Blümchen gelassen; mit dem ßweiten bin ich ßu Ihnen gekommen.«
Die Worte erstickten; jedes hatte ein Aschenkreuzchen am Hut.
»Was bedeutet das alles?« fragte die Brinkschulte.
»Daß die Sorgen über Ihnen kommen wie die ägyptischen Plagen.«
»Simmchen . . .!«
»Madam, ich bin ein ehrlicher Jude . . .!«
»Mensch, was haben Sie nur?«
»Auf daß Sie es wissen, auf daß Sie dagegen anoperieren können vor die Gewalt: der alte Jaspers is von die Vereinigten Staaten ßurück un kömmt Ihnen über dem Halse.«
Die Brinkschulte fuhr auf.
»Und kommt heute?« fragte sie tonlos.
»Er kommt, wenn Sie da sind.«
»Simmchen, ich frage noch einmal.«
Simmchen Löwenthal war nicht wiederzukennen. Der ganze Mensch schien verändert: »Gott Abrahams, straf' mich! – ich will liegen auf dem ›guten Ort‹, wenn es nich wahr is.«
In aller Feierlichkeit hob er die Hand auf und streckte zwei Finger zur Decke.
Da wußte Josepha Brinkschulte genug. Sie dankte und suchte ihre Kammer auf.
An der Schwelle stand Karl Mersmann. Mit einem tierischen Laut brach er nieder, ergriff den Saum ihres Kleides und küßte ihn.
»Es ist gut,« sagte sie leise und warf einen langen und wehen Blick auf den Ärmsten. Dann betrat sie ihr Zimmer.
Simmchen und Eli standen noch immer zusammen.
»Ich habe meine Schuldigkeit getan,« sagte Simmchen, »un komme wieder, wenn's Szeit is. Ich kann heute nich machen Geschäften. Sie liegen mir nich. Fräulein Eli, halten Sie mich in 'ner liebreichen Erinnerung, mich un mein Blümchen.«
Dann ging er. Eli war sprachlos. Schließlich kamen ihr die Worte zurück.
»Es hat schon seine Richtigkeit,« meinte sie schaudernd, »sie geht mit 'ner Seele herum, die 'ne Eisenkugel hinter sich herzieht.« – Und nicht lange, da trat einer in den Bann und den Frieden des Brinkschultenhofes.