Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Drittes Kapitel

Karl Mersmann, der unwiese Kardel, den sie auch den Spökenkieker nannten, war der alte geblieben. Nichts hatte sich an ihm und in ihm verändert. Nur seine Augen waren noch gespensterhafter geworden, weitsichtiger, klarer. Mit diesen Augen von graublauer Farbe, die nach der ungewöhnlich kleinen und zusammengezogenen Pupille zu immer lichter wurden, ging er allabendlich auf den Hellweg und in das Düstermoor hinaus und sah in die Gegend. Oft kam er zitternd zurück, mit kaltem Schweiß übergossen, und hielt große Reden. Vornehmlich dann, wenn der Vollmond im Scheitel stand und die Nebel nicht aus dem Röhricht heraus konnten, vielmehr gezwungen waren, niedrig zu schwimmen und sich um die alten Erlenstrünke zu häkeln. Dann mußte ihm etwas passiert sein, denn an solchen Abenden gab er sich menschenscheuer, insichgekehrter, und seine Gedanken nahmen an Verworrenheit zu, obgleich sie manchmal aufblitzen konnten wie scharfgeschliffenes Glas. Was ihn bewegte, hielt er meistens geheim, verschloß es ängstlich vor der Außenwelt, um nicht Gegenstand des Grausens zu werden. Einige hielten dieses fahrige Wesen für ein Erbübel, wie Fallsucht und Bluterkrankung, andere wieder für ein überkommenes Sehertum, während die Dritten es bei ihm als die Folgen eines vorhergegangenen Unglücks ansprachen. Knechte und Mägde, auch die Nachbarn, spotteten vielfach über ihn, obgleich ihnen dieses Spotten nicht so recht von Herzen kam; aber es war so. Tiefer Denkende vergaßen zu spotten, so die Brinkschulte selber und der junge Kaplan, der inzwischen in die verwaiste Pfarrstelle zu Sönnern eingerückt war. Zu diesem hatte damals der unwiese Kardel gesagt: »Morgen brennt's, Herr Kaplan, und einer muß mit,« und dann war das Malör mit der Scheune und der jähe Tod unter der Bodenluke gekommen. Drei Tage später stellte der Kaplan die Sterbeurkunde aus und schrieb daneben: »Viel Unglaubliches kannst du finden, wie auch vieles, was nicht wahrscheinlich ist; und dennoch ist es wahr. So der heilige Hieronymus,« und trotzdem wußte er nicht, was er mit diesem Gottestropf, mit seinem vergangenen und seinem gegenwärtigen Leben anfangen sollte. Um Karl Mersmann lag es wie ein engmaschiges Netz von Straminfäden, das sich eigenwillig gegen die Außenwelt absperrte.

Auch Juffer Eli war in all dieser Zeit dieselbe geblieben. Nur wenn einer genauer zusah, dann merkte er: ihr Gesicht war länger geworden und ihre Nase feiner und durchsichtiger. Auch hatte ihr der liebe Gott etwas Graumeliertes durch die straffgescheitelten Haare gesponnen. Im übrigen war sie die alte von früher. Noch immer sprach sie einmal in der Woche auf dem Brinkschultenhof vor, um Wäsche und Leinenzeug in Ordnung zu halten, schneiderte auf den Bauernschaften herum und legte die Toten zurecht, wenn ihre armen Seelen in den Himmel wollten. Innerhalb dieser Jahre hatte sie sich drei neue Merinokleider angeschafft, drei neue, weiche, schwarze Merinokleider. Das erste, als die braven Westfälinger aus Schleswig-Holstein zurückkehrten und ihr Bruder das Wiederkommen vergessen hatte. Er hatte es vergessen, als die Dänen hinter der Schlei und dem Danewerk in befestigter Stellung lagen und die Preußen gegen sie vorstürmten. Ohne einen Laut von sich zu geben, war er kopfüber gestürzt und hatte die Spitze seiner Pickelhaube in den hartgefrorenen Boden gestoßen. Auf dem Feld von Missunde träumt er jetzt von seiner westfälischen Heimat. Das zweite Merinokleid legte sie sich gleich nach sechsundsechzig um ihren tieftraurigen Menschen. Kurz zuvor war Juffer Eli zum zweiten Male in Liebe gefallen. Ihren verstorbenen Bräutigam, den Küster Blasius Küttelwäsch, hatte sie längst vergessen und abgetrauert. Bei einem Besuche in Münster lernte sie dann den schmucken Oberlazarettgehilfen Theophil Schentuleit kennen, der bei den Dreizehnern stand und auf den Zivilversorgungsschein lossteuerte. Er war aus ›Königsbarg‹ und hielt viel auf gutes ›Assen‹ und Trinken. Keine vierzehn Tage vergingen, und Juffer Eli ließ die Verlobungsanzeigen auf ihre Kosten drucken, gab einen monatlichen Zuschuß von fünf harten Talern und wartete geduldig auf den Augenblick, wo sie das goldne Ringlein vom linken auf den rechten Finger streifen konnte. In dieser hoffnungsvollen Zeit blühte sie sichtlich auf. Ihre Formen rundeten sich, auf ihren Wangen schimmerte es wie von Heckenröschen; sie war fidel wie ein Zwitschermäuschen geworden, das an einer fetten Käsekruste herumschnabulierte. Dann aber kam Weh und Leid über sie. Preußen und Österreicher machten mobil, und fett wie ein Kantinenwirt mußte Theophil Schentuleit sich aus den Armen der Geliebten reißen und zur Elbarmee stoßen. Mit kummerrotem Gesicht, vollgepfropftem Brotbeutel und den bräutlichen Ersparnissen im Sack ging es nach Böhmen. Tage der Bängnis begannen für Juffer Eli, bis die ersten Briefe einliefen. Da schwellte sich ihre Brust, denn nach diesen Briefen zu urteilen, mußte ihr Theophil Wunderdinge hinter der Front verrichten, und als dann eines Tages die große Siegespost kam, in welcher Theophil wieder gar viel von seinen Heldentaten erzählte, hielt sie ihren Oberlazarettgehilfen für den Zertrümmerer der österreichischen Macht, obgleich eine dumpfe Fama umging, weder Theophil Schentuleit noch die preußischen Heerführer, sondern der preußische Schulmeister habe die Schlacht von Königgrätz gewonnen. Juffer Eli jedoch hielt an ihrer Meinung fest und blieb dabei, bis die braven Truppen wieder

»Mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang«

in ihre Garnisonen einrückten. Aber von Theophil war nichts mehr zu hören. Da ging Juffer Eli hin und forschte nach ihm, genau so wie es die arme Leonore getan hatte, als sie nach der Prager Schlacht und ums Morgenrot aus feuchten Kissen emporschreckte und sich aufmachte, ihren ungetreuen oder toten Wilhelm zu suchen – und es kam Licht in die Sache. Laut Ausweis der Regimentspapiere war Theophil gleich nach Schluß des Feldzuges zur Reserve entlassen. Weitere Forschung ergab: Theophil Schentuleit, Oberlazarettgehilfe a. D., nunmehr domiziliert als Garnisoninspektoranwärter in Stallupönen, gedenkt sich demnächst zu verheiraten mit Sophia Franziska Sömmerau aus Pillkallen; nichts Nachteiliges über ihn bekannt . . . da weinte Juffer Eli unter dem blühenden Apfelbaum ihres kleinen Gärtchens still vor sich hin, legte ihr schwarzes Merinokleid auf den Altar christlicher Nächstenliebe und Barmherzigkeit und verfiel kurz nach dem glorreichen Kriege von siebzig und einundsiebzig wieder in Liebe. Dieses Mal war es eine bodenständige Neigung, und der Beglückte schrieb sich Jans Sandhage aus Sönnern, ein Mann mit vierzig Morgen Ackerland und fünf melkenden Kühen. Aber das nicht allein. Jans Sandhage liebte Rucksack und Pulverflasche und machte gern Dampf auf, um Meister Löffelmann niederzuschroten. Am vierzehnten Dezember fand die Verlobung statt. An diesem Tage trug Juffer Eli ihr neues Merinokleid, reich festoniert und mit zierlichen Rüschchen besetzt. Als sie sich dann verschämt an die neue Männerbrust herandrückte und einen kräftigen, heimatlichen Geruch unter die Nase bekam, war sie froh ihres Glückes und gönnte der Sophia Franziska Sömmerau aus Pillkallen ihren Ostelbier von ganzem Herzen. Aber das mit der Jagd, das war doch bei Licht besehn ein gottsträfliches Beginnen, und so zupfte sie denn ihren Jans beim Ohrläppchen und flüsterte ihm zu: »Aber keine Häschens mehr schießen.« »Morgen nur noch,« sagte dieser, »denn nie mehr,« und er streckte des zum Zeichen feierlichst die rechte Hand hoch. Das konnte ihm sein Bräutchen nicht abschlagen. – Anderen Tages wurde im Uhlenbrinker Feld und in der anliegenden Gemarkung getrieben. Die Kegelgesellschaft ›Gut Holz‹, zu der auch Jans Sandhage gehörte, hatte die Einladungen ergehen lassen. Fast alle sagten zu, so unter anderen der Apotheker Schölwink und der dicke Kreisrichter Zumloh aus Soest, zwei weidgerechte Männer, die sich aber,

damit die Augen klar und rein
und die Hasen größer sein,

stets des schärfsten Visierwassers bedienten, vornehmlich jetzt, wo der Schnee unter den Füßen piepste und knirschte und die Spatzen vor Kälte von den Dachrinnen purzelten. Ein knappiger, knusperiger Wintermorgen brach an. Ein zarter Schimmer, wie von der rosenfingrigen Eos getempert, legte sich über das Uhlenbrinker Feld. Die grimmige Kälte biß in die Ohren und Nasenspitzen hinein, und die fernen Buschpartien standen in einem feinmaschigen Duft. Erfahrene Rammler hoppelten schon hin und her, machten die Löffel hoch und trommelten verwarnend mit dem rechten Hinterlauf. »Tatteratta!« Der erste Kessel war geschlossen. Das Knallen und Treibergeschrei ging los. Zuerst an der Sandkuhle. Resultat: fünfzehn Krumme; dreizehn gesunde und acht angekratzte retteten sich in den folgenden Kessel. So ging das weiter bis zum Schüsseltreiben, wo das Blaue vom Himmel schwadroniert wurde und ungezählte Würste daran glauben mußten. Jans Sandhage war bis jetzt Jagdkönig geblieben. Vierzehn Löffelmänner hatte er in den Hasenhimmel verwiesen. Eine animierte Stimmung senkte sich über Bohnensuppe und angewärmten Klaren. Nur der dicke Kreisrichter konnte seines Lebens nicht froh werden. Er hatte einen hundsmiserablen Anlauf gehabt; außerdem machten ihm die dunstigen Brillengläser zu schaffen. Das mußte am Visierwasser liegen. Erneut nahm er es zu sich. Kaum war er damit fertig geworden, als auch schon wieder das ›Tatteratta‹ die Hasenherzen banger klopfen ließ. Also los denn dafür! – Stunde um Stunde verrann. Das Taglicht zwinkerte schon. Dicht bei Sönnern wurde zum letzten Male gekesselt. Es war das Haupttreiben. Ungezählte Hasen fegten aus ihrem Pott. Ein infernalisches Geknalle setzte ein. Jans Sandhage bewegte sich zwischen dem Apotheker und dem dicken Kreisrichter. Beide hatten kein Glück, und daher: neues Visierwasser. Es blitzte und paffte von allen Ecken und Enden. Graue Gestalten flitzten über die schneeblaue Fläche. Die meisten von ihnen schlugen ein Rad und blieben im Dampf, aber nicht von den Schroten der beiden. Die Schatten wurden länger und dichter. Neues Visierwasser war nötig. »Da löpt noch een!« schrie Jans den beiden zu. »Wo?« »Dichte bi! – Druff, druff!« »Himmel, Gewitter!« – Zwei Schießprügel bammelten wie die Ochsenschwänze durcheinander. Dann wurden sie an die Backen gerissen. »Nicht durchziehn!« schrie es von weither. Aber es war schon zu spät. Apotheker und Kreisrichter ließen gleichzeitig fahren. Dampf und Knall und dann ein verfluchtiges Spritzen. »Au weih!« zeterte Jans Sandhage und brach im Feuer zusammen. – Dunkle Schleier senkten sich über die Uhlenbrinker Gemarkung, und als drei lange, bange Tage vergingen, war Juffer Eli eine bräutliche Witwe geworden. Sie beweinte Jans, wie es sich gehörte, sie ehrte das Andenken des auf dem Uhlenbrinker Acker Gefallenen, wie es ihm zukam, aber seit dem Begräbnistage waren ihr Hasenbraten und Hasenpfeffer zuwider. Ihr Merinokleid aber legte sie nicht in die Kommode oder gab es, wie sie es mit dem zweiten getan hatte, etwa den Armen, sondern besetzte es mit Kreppstreifen und trug es in Erinnerung an den braven Jans Sandhage aus Sönnern und trug es bis zum heutigen Tage, eine reine Jungfer, die wieder ihrem stillen Beruf nachging, geliebt von Gott und den Menschen. Es blieb alles beim alten. Seit dem Tode des vergrämelten Brinkschulten hatte sich Juffer Eli nur wenig verändert. Leiden, ja, die waren ihr nicht erspart geblieben; sie bekam Ohnmachtsanfälle, wenn ihr ein Krummer über den Weg hoppelte und konnte kein Schießpulver mehr riechen; im übrigen jedoch lebte sie ihr früheres Leben. – Auch die Brinkschulte . . . wenigstens versuchte sie es, Stunden an Stunden zu reihen und Tage an Tage und Jahre an Jahre, die den früheren glichen.

Unter ihrer energischen Führung tat der Brinkschultenhof einen tiefen und langen Atemzug. Die Scholle wuchs ihr ans Herz, und sie konnte aufjubeln, wenn ihr Getreide in der Soester Börde Wellen um Wellen schlug, mit seinen Grannen und Spelzen blitzte, um dann in weicher und breiter Ruhe gegen die Goldfolie des ersterbenden Tages anzufließen.

Und wenn dann das Korn in die Milchreife trat, gelb wie Bernstein wurde und mit schwerem, sommerlichem Raunen der Sense entgegenharrte, dann schritt sie stolz und schön gefesselt durch die Roggengassen, streifte mit schmalen Händen über die Ähren und gefiel sich darin, ihre harte Brust mit flammendem Mohn zu schmücken. Nur – das Blühen währte nicht lange; denn kehrte sie von ihrem Gange zurück, war von der Blütenpracht nichts mehr zu finden, und dann sagten Knechte und Mägde: »Seht, da kommt sie. Wie alles verwelkt ist. Ihr Herz ist zu kalt für solche Dinge,« und gingen ihr scheu aus dem Wege. Sie verbreitete keine Liebe um sich. Ein mächtiges Stolz- und Machtgefühl schwellte ihre Brust. Sie war eine Königin in ihrem kleinen Bauernstaat und zum Herrschen geboren. Die hingemordete Roggen- und Weizenscheuer hatte sie schon im ersten Jahre ihres Regierens wieder aufbauen lassen. Ein Strohdach sollte nach altem Brauch auf die Sparren. Aber das ging nicht mehr nach dem neuen Gesetz. Da ließ sie brennendrote Ziegel über das Mauerwerk legen, aus Haß gegen den Brandstifter, dessen Racheakt den Vater mit brutaler Faust gewürgt und auf die Flachsbrechen gestreckt hatte. Sie erinnerte sich noch: eine wilde Erpresserszene war dem Feuer vorhergegangen. Bruder gegen Bruder, Zahn um Zahn und Auge um Auge, und ein Stuhlbein hätte einen Schädel zertrümmert, wäre nicht der Großknecht dazwischen getreten. So aber hielt dieser das zunächstgelegene Unheil ab, sah aber noch, wie der verwachsene Mensch mit eingezogenem Kopf über den Hof torkelte, scheinbar dem Tor zuging, um plötzlich wie von der Erde verschluckt zu werden. Eine halbe Stunde später roch es sengerig und brandig. Das Vieh brüllte auf, und die Pferde rasselten mit den Halfterketten. Knechte und Mägde sahen sich verstört an. Feine Rauchfäden drehten sich aus allen Ecken und Fugen. In der großen Scheuer, die bis unter Dach voll köstlicher Frucht lag, rumorte es. Es knisterte und knasterte wie von Schermäusen. Floriger Qualm biß in die Augen. Schwarze Laken fielen über die Dächer. Die Eichenkronen erschauerten im Luftzug. Ein Gewirr von blauen, gelben und roten Zungen lief plötzlich über die Sparren: Feuer und Lohe! – Dann aber prasselte eine Flackersäule nach oben, die blutige Garben mit sich führte, sie heulend gen Himmel trieb und in die zunächst gelegenen Strohmieten hineinschleuderte. Da legten sich gierige Glutherde um den Brinkschultenhof und schwelten sich lechzend an ihn heran. Nur mit knapper Not entging er diesen furchtbaren Tieren, die ihn mit Flammenhauch zu überschütten drohten. Das Entsetzen drehte sich auf dem Absatz herum und sank in die Knie. Und aus diesen Raketen heraus trat einer mit tiefer Ruhe und war still wie der Tod und bleich wie der Tod und war selber der Tod. Und ging in die große Diele, wo der Brinkschulte mit kaltem Gesicht unter der Bodenluke auf heiliger Erde stand und legte ihm die Hand auf die Schulter. Da sah der Alte zum letztenmal sein Erbe und wurde still wie der Mann, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte.

Dessen erinnerte sich Josepha Brinkschulte noch mit allen Einzelheiten, und dieses Erinnern ließ sie die roten Ziegel auf das Dach der neuen Scheune setzen, flammendrote Ziegel, rot wie Haß und rot wie die Glut, die damals gen Himmel leckte. Diesen Haß gegen den Brandleger pflegte sie durch alle Jahre hindurch bis zum heutigen Tage; aber sie vergaß ihre Pflicht nicht darüber. Nur wenn die Einsamkeit kam, wenn der Winter über das weite Land ging, streckte sie die Füße am Herdfeuer und gönnte sich bequeme Stunden. Dann konnte sie sitzen und ruhen und auf das monotone Geräusch der Dreschflegel hören, das von den knochenharten Tennen durch den eingeschneiten Frieden tönte. Dieses Geräusch hatte sie nötig. Es war ihr der Pulsschlag der Zeit, der in ihr Sinnen und Denken hineinarbeitete, und sie hörte auf ihn, bis ein anderer einsetzte, also der Pulsschlag der toten Erde wieder lebendig wurde. So saß sie in ihrer ganzen Herrschernatur bei den warmen Buchenscheiten und lauschte auf das ferne Gepoch der Dreschflegel und das Singen der Mägde, das gedämpft aus der Spinnstube herüberwehte. In solchen Augenblicken wurde sie weich gegen ihren eigenen Willen, wog das Heute gegen das Gestrige ab und suchte nicht mehr in der Vergangenheit herum, wo sie soviel des Unruhigen liegen hatte, das die Gedanken verlähmte und die Seele schwer machte. Dann fiel alles von ihr, womit sie sonst umherging: das Insichgekehrte, das Herbe und Strenge, nur – sie zeigte es keinem . . . und als eines Tages eine Jugendfreundin sie aufsuchte, die mit ihr bei den Ursulinerinnen gewesen und jetzt als die glückliche Frau eines Rechtsanwaltes in Dortmund lebte, da sagte diese, als Auge in Auge und Hand in Hand ruhte: »Du bist noch immer wie früher, Josepha.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, du bist eben die alte geblieben.«

»Die alte . . .

»Besinne dich doch. Im Klostergarten zu Dorsten, damals – du weißt doch?«

»Nein, ich entsinne mich nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht. Ich weiß nicht, wo du hinauswillst.«

»Auch dann nicht, wenn ich dir sage, wie wir dich verehrten und doch eine bange Scheu vor dir hatten?«

»Nun weiß ich.«

»Herrgott ja, Josepha! – wir nannten dich eben die steinerne Madonna von der Soester Börde.«

»Aber, Marie . . .

»So ist es, Josepha; das läßt sich nicht fortstreiten. So ist das immer gewesen – bis heute. Darunter leidest du. Das geht mit dir wie ein Schatten und sieht in deine Träume hinein. Schon am frühen Morgen ist es bei dir, um bei dir zu bleiben, bis die Sterne aufgehn . . . immer die steinerne Madonna von der Soester Börde. Du hast heißes Blut in dir und läßt es gefrieren. Alles in dir ist Kraft und schreit nach Leben; aber du benutzt es nur, die Erde zu knechten und sie für dich ergiebig zu machen. Der eigentliche Zweck jedoch verkümmert und findet keine Betätigung. Du lächelst? Das ist es ja eben. Das ist das Lächeln von früher. Es ist nicht herzerquickend und bringt keine Freude. Unter diesem Lächeln sterben die schönsten Blüten in dir ab. Das Weib in dir verkümmert darunter und geht schließlich elend zugrunde.«

Josepha Brinkschulte atmete tief auf.

»Und weißt du denn, warum es so ist?« fragte sie tonlos.

»Ich weiß nur: du bist nicht wie die übrigen Frauen. Das geht nicht so weiter, und wenn du auf mich hören würdest, ich wüßte schon das Weib in dir rege zu machen.«

»Du wirst immer rätselhafter, Marie.«

»Bis ich dir sage: einer muß kommen, der das verhaltene, niedergedrückte Sehnen und Suchen in dir wieder zum klingenden Leben erweckt. Ich weiß, das ist nicht so einfach. So einer ist rar und gehört zu den ganz besonderen Menschen. Er brauchte kein Studierter zu sein, einer der grübelt und sinniert. Aber er müßte dich zu packen verstehn, dich in deiner Absonderlichkeit und deinem verschlossenen Willen. Und beugen müßtest du dich, und sein Schritt müßte etwas Klirrendes an sich haben. Nur so wird das verhaltene Weib in dir zum wirklichen Weibe. Das wäre der Frühling für dich.«

Die Brinkschulte erhob sich aus ihrer träumerischen Ruhe.

»Wo ich bereits zu den alten Jungfern gehöre?« fragte sie bitter.

»Du?!« klang es ihr empört entgegen.

»Ja, ich,« kam es hastig zurück. »Wo wäre der Mann, der sich noch in meine Jahre verlieben könnte? Früher, ja, da aber war ich nicht vollreif im Blut, und jetzt, wo ich es bin, wo ich weiß, was es überhaupt ist und bedeutet, herrische Mannesliebe zu kosten, bin ich zur alten Jungfer geworden.«

»Dann frage, bitte, deinen Spiegel, und er wird dir sagen, wer du eigentlich bist.«

»Es ist zu spät, Marie, und es ist schon besser, ich bleibe, was ich bin: die Einsame, Weltfremde, Insichgekehrte; gut, und wenn du willst, die steinerne Madonna von der Soester Börde.«

Damit hatte sie ihr Evangelium abermals niedergelegt und folgte ihm bis kurz vor Beginn dieser Geschichte. Da eines Tages kam sie von Sönnern zurück, wo sie bei Meister Stedink einen neumodischen Schwingpflug in Bestellung und Arbeit gegeben hatte. Ein wohliges Kraftgefühl durchströmte sie. Ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit spielte eine schöne, selige Scheu in ihren Augen, die stündlich an Innigkeit zunahm. Irgend etwas mußte ihr begegnet sein, was diese Wandlung bewerkstelligt hatte. Knechte und Mägde atmeten auf. Wie Sonnenschein lief es über die Diele. Helles Licht schien in die Kammern des Hauses zu dringen und alles zu vergolden. In Scheunen und Ställen wurde lauter gesungen. Früher wagte sich kaum eine fröhliche Stimme nach draußen. Nur Karl Mersmann ging verstörter und versonnener als an sonstigen Tagen herum. Er redete viel mit sich und knöchelte den Stier zwischen die Hörner, daß er aufbrüllte. Er war auch in Sönnern gewesen. Keiner achtete auf ihn, auch die Brinkschulte nicht. Man ließ ihn gewähren. Bei ihrer Heimkehr mußte sie unwillkürlich an ihre Freundin Marie Berlage in Dortmund denken. Die weitzurückliegende Aussprache mit dieser trat ihr wieder lebhaft vor die Sinne. Sie erinnerte sich jedes einzelnen Wortes. Keine Wendung entging ihr. Immer und immer wieder erneuerte sie das damals Durchlebte. Wie Sonntagsfreude ging es über sie fort. Gegen Abend kam die Post. Ein Brief aus Dortmund befand sich unter dem Eingang. Ihn erbrach sie zuerst und las mit fliegendem Atem: »Ich bin in Gedanken bei dir, liebe Josepha. Wir sahen uns lange nicht. Seit unserm letzten Begegnen sind Jahre vergangen, stille, verborgene, lange drei Jahre. Immer wieder drängt es mich zu dir, vornehmlich jetzt, wo das Korn so herrlich in Blüte steht und die köstlichste Zeit seines jungen Lebens durchkostet. Was ihm recht ist, sollte auch dem Menschen billig sein. Ich nehme es für meine Person in Anspruch. Ein Raunen und Flüstern ist bei mir. Ich höre es deutlich. Ein leises und wunderbares Schwingen berührt mich. Ich habe es schon früher erfahren. Jetzt regt es sich wieder. Eine geheimnisvolle Offenbarung ist in mir. Die Bestimmung des Weibes fordert ihr Recht, und ich bin glücklich darüber. Ach, könntest auch du dieses Glückes teilhaftig werden! Du kannst es, das weiß ich. Öffne nur das Tor deiner Seele, und du wirst wie ein blühendes Weizenfeld sein. Du brauchst nur zu wollen. Der Herr wird schon kommen, der dieses Weizenfeld segnet. Ich weiß, meine Schreibweise hat den Erdenstaub von sich getan. Sie mag dir seltsam erscheinen. Aber über so etwas zu sprechen, gibt Flügel. Sind Spuren hinter dir, die dir unangenehm sind, so verwische sie; lasse nur deine jetzigen Spuren offen und voller Seligkeit sein. Was früher geschehn ist, darüber bist du keinem Rechenschaft schuldig. Jeder kann über sich selber verfügen bis zu einer gewissen Stunde. Aber was soll das? Du bist ja immer voller Reinheit gewesen, und glücklich der Mann, dem du diese Reinheit ans Herz legst. Und wenn da Zweifel sind . . . Hast du meinen früheren Rat befolgt und beim Spiegel angefragt? Wenn nicht, hole das Versäumte nach, du wirst keine Enttäuschung erleben. Dein häßliches Wort von der ›alten Jungfer‹ wird in nichts zerfließen. Der Spiegel spricht eine lautere Wahrheit. Er lügt nicht. Die Zeit ist für dich gekommen. Nütze sie aus, wenn dein heißes Blut nicht langsam einfrieren soll. Denke daran: öffne die Arme, und du wirst wie ein blühendes Weizenfeld sein. Der Herr wird schon kommen. Und dann: im Laufe des nächsten Monats führen mich Familienangelegenheiten nach Lippstadt. Möglich, daß ich dich, die große Einsame, bei meiner Heimreise überfalle. Ich freue mich schon auf die Stunde, dich in meine Arme zu schließen. Ich küsse dich – und du: halte lieb deine treue Marie.«

Langsam ließ sie die Arme herunter. Ein Flackerfeuer stieg in ihr auf, daß sie hätte aufschreien mögen. Allein sie preßte den Schrei mit allen Kräften zurück, trat ans Fenster und sah in den Abend hinaus. Und ihre Seele wurde still und sinnig wie das eingedunkelte Land, das keine Grenzen hatte und unendlich erschien. Das Alleinsein in der Ruhe war bei ihr.

Eine Stunde nachher ließ sie den großen Stehspiegel, das Prunkstück der Guten Stube, in ihr Schlafzimmer bringen und gebot, neue Kerzen auf die Leuchter zu schieben.

Bald darauf machten alle Lichter im Brinkschultenhof die Augen zu; die im Schlafzimmer der Herrin jedoch hellten auf und weckten das Spiegelglas mit ihrem sanften Leuchten.

Draußen aber senkte sich eine stille Nacht über die Soester Börde, eine große, feierliche, sternklare Nacht, so ruhig und friedlich wie das Herz abgeklärter Menschen, die keine Wünsche mehr haben.

 


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