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IV. Die Lebensweisheit

Es wäre hier die Stelle, von der Ethik des Laotse zu reden. Allein von einer Ethik im Sinne einer vernunftgemäßen Gesetzgebung für das rechte Handeln kann man bei ihm nichts finden. Im Gegenteil, er wendet sich gegen die Moral und die von ihr gepredigten Tugenden ebenso, wie er sich gegen die Kultur und die von ihr gepflegten Güter wendet. Moral und Kultur sind für ihn verwandte Gebiete. Jede Kultur hat eine Moral, die ihr zugrunde liegt. Wie die Kultur, so weicht auch schon die Moral vom Mutterboden des Natürlichen ab und wird darum von ihm verurteilt. Diese Verurteilung ist, ähnlich wie die Angriffe Nietzsches, aphoristisch, oft durch paradoxe Sätze, so daß es nicht ganz leicht fällt, den durchgehenden Faden von Laotses Stellungnahme zu verfolgen; denn er ist ein Proteus, der sich durch dauernde Wandlungen dem plumpen Zufassen entzieht. Wenig Worte hat er, die wörtlich genommen und als seine runde und klare Überzeugung festgenagelt werden dürfen. Für Philister hat Laotse nicht geschrieben, und er scheint sogar eine geheime Freude daran gehabt zu haben, wenn Philister recht kräftig über ihn lachten.

Indem wir den Gründen nachgehen, die ihn zur Verurteilung dessen geführt haben, was zu seiner Zeit als Moral die Handlungen der Menschen zu bestimmen trachtete, sehen wir zugleich die Wege sich eröffnen, die Laotse dem richtigen Handeln der Menschen zeigt. Er führt die Ethik von der Pflicht zur Natur, vom Menschen zum Tao, vom Künstlichen zum Selbstverständlichen und Einfachen zurück.

Warum Laotse die Moral verurteilt, das ist zunächst ihr formales Prinzip. Die Moral befiehlt. Sie kennt ein Sollen. Sie will Gesetze und Maßstäbe. Aber durch Gesetze und Maßstäbe wird gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man will. Je mehr die Gesetze prangen, je lästiger das Sollen sich breit macht, desto mehr gibt es Diebe und Räuber; denn es ist ein Gesetz der Menschennatur, jedem Zwang zu widerstreben. Und der moralische Zwang ist der schlimmste. Darum ist die Moral das Dürftigste und Äußerlichste von allem, was den Menschen als Motiv vorgehalten wird. Sie kämpft mit stumpfem Schwert und bewirkt das Gegenteil von dem, was sie will. Da hilft es dann nichts, daß man mit den Armen fuchtelt und die Menschen herbeizerren will. Es fehlt ihr die Grazie der Selbstverständlichkeit.

So sieht man denn auch, daß die Moral besonders in Zeiten des Niedergangs blüht. Wenn die natürliche und gütige Haltung der Menschen untereinander aufgehört hat, etwas Selbstverständliches zu sein, dann blüht der Weizen der Moral. Wenn die Blutsverwandten uneins werden, dann gibt es Kindespflicht und Liebe; wenn die Staaten in Verwirrung und Unordnung kommen, dann gibt es treue Diener: denn dann erst sind diese Dinge etwas Sonderliches, vorher bemerkt man sie gar nicht. So bedarf das Moralische immer der Folie seines Gegenteils, um zu strahlen. Nur als Ausnahme zeigt es seinen wahren Glanz. Aber eben damit verurteilt es auch sich selbst.

Allein nicht nur das formale Prinzip des Sollens, des Gesetzes ist es, gegen das sich Laotse wendet. Ebenso geht er dem inhaltlichen Prinzip, dem Ideal des Guten und der Tugenden zu Leibe. Das Gute ist ja nichts Absolutes, es ist ja immer nur ein Glied eines paarweise sich ergänzenden Gegensatzes. Wie es kein Licht gibt ohne Schatten, so kein Gutes ohne Böses. Wenn alle Menschen das Gute als gut bejahen, so ist damit schon das Böse gesetzt. Zwischen Gut und Böse ist darum kein wesentlicherer Gegensatz als zwischen der freudigen Bejahung »Gewiß« und der zögernden Bejahung »Wohl«. Laotse steht ganz entschieden auf dem Standpunkt jenseits von Gut und Böse. Das Absolute liegt jenseits dieser innerweltlichen Gegensätze, da, wo sie in die höhere Einheit münden.

Doch auch darüber, was Gut und Böse ist, herrscht keine Übereinstimmung. Es ist verschieden nach Zeit und Ort. Es darf hier zur Ergänzung erinnert werden an die Berichte über die Unterhaltungen des Laotse mit Konfuzius, da die dem Laotse dabei zugeschriebenen Äußerungen durchaus in der Linie der im Taoteking enthaltenen Ausführungen liegen. Dort redet er davon, daß Moral und Sitten immer nur die Reste vergangener Zeiten seien, daß der Geist der Zeiten etwas fortwährend sich Wandelndes, Einmaliges sei, das unwiederbringlich verschwinde, wenn erst die Herrscher, die jene Sitten geschaffen haben, tot und verwest seien. Die Sitten und Gesetze der Herrscher des Altertums waren nicht dadurch groß, daß sie übereinstimmten, sondern dadurch, daß sie Ordnung zuwege brachten, wie verschiedene Früchte ganz verschieden schmecken und doch wohlschmeckend sein können. So müssen sich die Sitten und Gesetze den Zeiten anpassen und sich ändern. Es gibt nichts, das zu allen Zeiten und an allen Orten gut wäre. Darum ist die Moral etwas Bedingtes und nichts Absolutes.

Aber der größte Fehler der Moral ist es, daß sie den Menschen zu bewußt und zweckhaft macht. Sie ist darum etwas, das ihm die Harmlosigkeit der Einfalt nimmt. Laotse nimmt eine ganze Skala der Verschlimmerungen an. Wer das Leben hochhält, handelt nicht und hat keine Zwecke. Wer die Liebe hochhält, handelt zwar, aber hat keine Zwecke. Wer Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Zwecke dabei. Wer die Moral hochhält, der handelt, und wenn man ihm nicht erwidert – so fuchtelt er mit den Armen und zerrt einen herbei. Darum ist die Moral Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Beginn, und Vorbedacht ist des Sinnes falscher Schein und der Torheit Anfang. Darum ist die Moral – und ebenso die Kultur – eine Verfallserscheinung, eine Abweichung von dem echten, selbstverständlichen Leben der Natur.

Sie macht den Menschen auch unnatürlich und gekünstelt. Er muß sich allerlei Zwang antun und kann sich nicht ausleben. Er ist gespreizt und steht dauernd auf den Zehen. Auf diese Weise kommt man nicht voran. Je größer das Selbstbewußtsein eines solchen Menschen wird, desto widerlicher wird er durch seine Heuchelei. Er ist für den Sinn wie Küchenabfall und Eiterbeule, und die Geschöpfe alle hassen ihn.

Die Moral ist endlich für die meisten Menschen nur ein Mittel, um im Hochgefühl ihres eigenen Glanzes zu strahlen. Was alle verehren, was die Menge für gut hält, das darf man nicht ungestraft beiseite lassen. Die Menschen der Menge fühlen sich alle so klug und weise und sind so hochgemut im dürftigen Mantel ihrer Moral, daß sie für Außenseiter nur Verachtung und Verurteilung übrig haben.

Bei Laotse haben wir einen Wendepunkt der Geschichte des chinesischen Denkens. Das Gesetz wurde durch ihn aufgelöst und damit die Ethik auf eine ganz neue Basis gestellt. Konfuzius hat den prinzipiellen Standpunkt des Laotse durchaus übernommen. Das Nichthandeln, das Nichtwirken durch Gesetze und Gebote ist auch sein Ideal. Auch ihm ist das Natürliche, das Instinktive das Höchste. Nur hat er eine andere Methode. Die verschiedenen Begriffe haben in seinem System eine ganz andere Stelle. Die Sitte, die für Laotse als äußere Schale verächtlich ist, ist für Konfuzius das Mittel, durch die sanfte Gewalt des Herkommens, der öffentlichen Meinung, der Mode den Einzelnen zum Guten zu leiten und ihm seine sinngemäße Stellung im Zusammenhang des menschlichen Organismus anzuweisen. So schätzt auch Konfuzius das Natürliche hoch, aber das Natürliche ist bei ihm nicht der Gegensatz, sondern die harmonische Ergänzung des Menschlichen. Er vereint Natur und Kultur. Laotse trennt sie. Fragen wir nun, wie der Mensch die Stellung findet, die ihm im großen Zusammenhang der Natur zukommt, so kommen wir bei Laotse auf einen Begriff, der zu den grundlegenden Begriffen des Taoteking gehört, wenn er auch lange nicht die Bedeutung des Begriffes Tao hat. Es ist der Begriff Te. Mit diesem Begriff beginnt in Kapitel 38 der zweite Teil des Werkes von Laotse, weshalb es den Namen Tao-Te-King bekommen hat. Das Wort Te hat bei Laotse auch eine ganz andere Bedeutung als sonst in der chinesischen Sprache. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem Begriffsbild »gerade« und »Herz« und bedeutet ursprünglich das, was gerade aus dem Herzen hervorkommt, die ursprüngliche Kraft des Lebens. Es wird in chinesischen Kommentaren definiert als »das, was die Wesen erhalten, um zu leben«. Es ist daher bei Laotse das Leben in seiner ursprünglichen, aus dem Tao stammenden Kraft. Allerdings dem Tao als universalem Prinzip gegenüber bedeutet es eine Einschränkung. Es ist der Anteil, den der Einzelne am Tao hat. Man könnte dieses Verhältnis vergleichen mit gewissen indischen Spekulationen über Brahman als Weltgrund und Atman als Grund des mit dem Weltgrund identischen Einzelwesens. Während dieses Wort also bei Laotse eine durchaus spontane Bedeutung von etwas Ursprünglichem hat, wird es in der späteren chinesischen Sprache – überhaupt im nicht taoistischen Sprachgebrauch – viel mehr abstrakt gebraucht. Es bedeutet die Qualität von etwas, die gut oder böse sein kann, dann den Charakter, der durch Pflege zu entwickeln ist, dann schließlich den guten Charakter, den tugendhaften Wandel, die Tugend. Tao und Te werden später als »Weg und Tugend« mit den Begriffen des Konfuzianismus »Liebe und Gerechtigkeit« (Jen und I) häufig zusammen gebraucht. Es bedarf keines ausdrücklichen Hinweises darauf, daß die allmähliche Verflachung des Wortes, die beinahe ebenso weit geht, wie die des deutschen Wortes »Tugend«, bei Laotse noch vollständig ferne liegt. Wir übersetzen das Wort deshalb mit »Leben«.

Das Leben ist in seiner höchsten Erscheinung zwar persönlich erscheinend, aber die Persönlichkeit ist gleichsam nur das Gefäß, dessen Inhalt das Tao ist. Es will nichts von sich selbst, ja kennt sich selbst gar nicht: Es handelt nicht, hat keine Zwecke und Absichten, und eben deshalb lebt es. Wo dieses Unbewußte getrübt ist, da geht es stufenweise abwärts zur Menschenliebe, die zwar auch keine Zwecke hat, nichts »will«, aber die doch handelt und wirkt, dann zur Gerechtigkeit, die nach dem Grundsatz »Ich gebe dir, damit du mir gebest« handelt und Zwecke dabei hat, bis hinab zur Sitte, die handelt, und wenn man ihr nicht erwidert, mit den Armen fuchtelt und einen heranholt. So ist es auch mit den Menschen, die diesen Stufen entsprechen. Von den Höchsten wissen die Unteren kaum, daß sie da sind, die nächsten werden geliebt, die nächsten gefürchtet, die nächsten verachtet.

Das Leben braucht gar nicht nach Anerkennung zu trachten. Es wird ganz von selber anerkannt, denn es zeugt, nährt, mehrt, pflegt, vollendet, hält und deckt alle Wesen. Es erzeugt ohne zu besitzen, es wirkt ohne festzuhalten, es fordert ohne zu beherrschen; darin besteht das Geheimnis des Lebens.

Dieses Leben ist jenseits der Gegensätze innerhalb der Erscheinungswelt und vereinigt sie. Wohl ist es stark und herrlich in sich selbst, aber es weilt ganz ruhig in Schwachheit und Schande, ohne den Versuch zu machen, sich herauszuarbeiten. Gerade in diesem Gegensatz des Schatzes zum geringen Gewand dessen, der ihn trägt, beruht die ungehemmte Wirkung. Denn durch diese Stellung behält es die gesammelte Kraft, die sonst durch das Streben nach einer Seite verbraucht wird. Diese Kraft erneuert sich immer, und während sie keinen Widerstand weckt, ist sie doch immer imstande, das zu tun, was der Augenblick an Tätigkeit erfordert. Wer so das Leben in der Hand hat, der ist wie ein Kind, das auch den größten Gefahren arglos und sicher begegnet und das ohne Ermüdung die größten Anstrengungen übersteht.

Darum hat, wer dieses Leben besitzt, keinen Egoismus, nichts, das er für sich begehrte. Er hat kein Herz für sich selbst, sondern macht das Herz der Leute zu seinem Herzen, d. h. er tut den Leuten nicht nur, was er wünscht, daß ihm die Leute tun, sondern was die Leute wünschen, daß er ihnen tue. Sein Leben ist so mächtig, daß vor ihm alle irdischen Gegensätze verschwinden. Zu den Guten ist er gut, zu den Nichtguten ist er auch gut; denn das Leben ist die Güte. Für ihn gibt es keine verlorenen Menschen. Die Guten sind ihm wichtig als Lehrer, die Bösen als zu Belehrende, so daß er mit beiden etwas anfangen kann und mit jedem auf seinem Boden verkehrt. Das Leben ist zwar individuell erscheinend, aber nicht individuell beschränkt. Was in mir lebt, lebt auch in anderen. So kann ich von meiner Person, Familie, Gegend, Land und Reich aus auch die der anderen schauen und verstehen. Diese Anschauung, die von sich auf andere schließt, findet sich auch im Konfuzianismus als wichtige Grundanschauung. Aber Laotse geht darin noch weiter. Während Konfuzius der Meinung ist, daß man Leben mit Leben und Groll mit Korrektheit zu beantworten habe, spricht Laotse es aus: »Vergilt Groll mit Leben.« Er führt auch die Gründe aus: Wenn ein großer Groll auch ausgeglichen wird, so bleibt doch ein Überschuß an Groll über. Die Last der Schuld wird sozusagen in dem Moment von den Schultern des Beleidigers auf die Schultern des Beleidigten abgeschoben, da dieser seine Rache hat. Darum wird der Berufene, der das Leben kennt, die ganze Verpflichtung auf sich nehmen, ohne den anderen zu belasten. Dazu gehört natürlich Kraft: nur wer in Verbindung mit dem Leben ist, hat die tragenden Schultern, daß er die ganze Verpflichtung auf sich nimmt und vom anderen nichts verlangt. Wer das Leben nicht hat, der besteht auf seinem Schein und schiebt in jedem Fall die Verantwortung anderen zu.

Durch dieses Nichtstreiten gewinnt das Leben immer neue Kraft, weil es keine Kraft durch den Kampf mit fremden, störenden Dingen verbraucht.

Zum Nichtstreiten gehört das Nichthandeln. Das Leben wächst, aber es macht nichts. Durch Machen, bewußtes Beeinflussen, Anstrengung des Willens und wie immer die Strebungen lauten, die aus der Welt des Scheins, aus der Oberflächenwelt des Bewußtseins genommen sind, werden nur kurze Spannungszustände zur Entladung gebracht. Wer täglich zehn Zwecke hat und zehn Zwecke erreicht, der erschöpft sich im Kleinbetrieb des Alltags und hat keine Tiefe. Die kosmischen Kräfte, die jedem Menschen zur Verfügung stehen, zehren sich auf in den unwichtigen Bewegungen der endlichen Gegensätze, und man wird hineingerissen in den Kreislauf des Geschehens, das von der Geburt zum Erstarken führt und von da zum Erstarren und Tod. »Zappeln, starren, kleben in flacher Unbedeutendheit« – das ist das Schicksal der »Machenden«. Aber das Leben tut nichts, und nichts bleibt ungetan. Denn indem es sich entspannt und das Tao in sich einströmen und durch sich hindurchströmen läßt, entwickelt es sich ohne Grenzen und reicht hinein in kosmische, geheimnisvolle Tiefen.

Nach außen hin gibt das eine ganz bestimmte Stellungnahme zu Dingen und Ereignissen. Man hält sich zurück, bleibt unten, läßt sich genügen, ist demütig, einfach und bescheiden. Diese Schwäche und Weichheit ist die wahre Stärke, denn sie ist die Eigenschaft allen Lebens. Das Harte, Starre ist dem Tod geweiht, das Weiche und Schwache gehört dem Leben.

Darum spricht Laotse von seinen drei Schätzen: »Der eine heißt Gütigkeit, der zweite heißt Genügsamkeit, der dritte heißt: Nicht wagen vornean zu stehen in der Welt; denn durch Gütigkeit kann man tapfer sein, durch Genügsamkeit weitherzig und dadurch, daß man nicht wagt in der Welt vornean zu stehen, kann man der Führer der Fertigen und Fachmenschen sein.«

Diese Zurückhaltung und Genügsamkeit gibt in dem ganzen äußeren Auftreten die Beschränkung, die Zeit und Kraft spart. Wer Beschränkung übt, der braucht sich nicht unnötig zu verausgaben an Zeit und Kraft. Darum hat er immer Zeit und Kraft zur Verfügung, rechtzeitig sich an die Erledigung der Angelegenheiten zu machen, solange die Keime der Ereignisse noch nicht in die Erscheinung getreten sind. Er plant das Schwere in dem Zustand, da es noch leicht ist; er wirkt auf das, was noch nicht in die Erscheinung getreten ist. Dieses rechtzeitige Wirken, das übrigens ebenfalls wieder gemeinsames Eigentum von Konfuzius und Laotse ist, ist das Geheimnis des Erfolgs. Die Menschen gehen an die Sachen in der Regel heran, wenn sie fast fertig sind, und so verderben sie alles. Wer aber Kraft und Zeit spart, der häuft auf doppelte Weise das Leben an, und darum gibt es nichts, dem er nicht gewachsen wäre, und die Menschen kennen nicht seine Grenzen. Aber eben dadurch kann er auf die Menschen wirken und besitzt die ernährenden und fördernden Kräfte, die sie brauchen.

Der Mann, der so durchströmt wird von den Kräften des geheimen Lebens, ist der Berufene. Der Berufene (Schong Jen) ist ein Begriff, den Laotse und Konfuzius teilen. Es ist der Mensch, dessen Sinn aufgetan ist für das kosmische Geschehen und seine Gesetze. Was er in den geheimnisvollen Gründen seines überbewußten Lebens erfährt, davon ist sein Tun erfüllt. Solches Erleben verleiht die Magie des Worts, ja des Gedankens. Der Berufene hat eben dadurch, daß er mit dem Sinn der Welt in Beziehung steht, die Macht, die Welt zu gestalten. Aber gerade deshalb hält er sich nach außen zurück. Denn das Geheimnis ist es und die Verborgenheit, woraus die übernatürlichen Wesenskräfte strömen.

Von hier aus wird uns auch das persönliche Leben des Laotse klar. Auf der einen Seite ist er Mystiker, der sein Selbst zum Selbst der Welt erweitert, der die große Einheitsschau erlebt hat. Aus diesem Schauen heraus werden jene Wolkengebilde seiner Worte geboren, die ständig im Flusse sind, wie der Wolkenring, der Faust über die Abgründe trug, sich bald in Helena, bald in Gretchens Idealgestalt verwandelt. Aber Laotse ist auch Magier. So tief wie wenige hat er hineingeschaut in das Weben der Weltallskräfte und hat die Regeln gezeigt, nach denen man diese Kräfte zur Verfügung bekommt – wenn man gelernt hat auf das Ich zu verzichten, das durch diese Kräfte, wenn sie entfesselt würden, in die schrecklichsten Gefahren käme.

Der Vergleich mit Faust, der sich aufdrängt, ist durchaus fruchtbar. Auch bei Faust, nach anfänglich falschem Weg des direkten Ergreifenwollens des Unerreichbaren, »Unzulänglichen«, und daraus folgender Katastrophe, sehen wir den doppelten Weg nach oben: durch die reine Schau der Sichtbarkeit in ihrer Schönheit – die Richtung aufs Diesseits, und durch die Tat, die aus inneren Erlebnissen quillt und schließlich zwar zerbricht, aber in der Blindheit des äußeren Auges die Schau des Ewig-Weiblichen eröffnet – die Richtung aufs Jenseits. Aber die weltliche Tat Fausts, die die satanischen Kräfte unterjocht und nützt, ist die Tat des Titanen des Westens. Die übersinnliche Tat des Laotse, der die Natur in ihrem Wirken belauscht und ohne Werkzeuge zu schaffen weiß, ist die Tat des Magiers des Ostens.

 


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