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III. Von der Erlangung des Tao

Laotse ist weit davon entfernt, eine bloße Theorie des Weltverständnisses zu geben, sondern er will den Weg zeigen, der hinausführt aus den Wirren der Welt der Erscheinungen, hinein ins Ewige. Diesen Weg finden und ihn gehen heißt den Sinn erlangen. Zur Erlangung des Sinns führt ein doppelter Weg: über das Sein und über das Nichtsein. Wenn man darauf gerichtet ist, im Sein den Sinn zu finden, so wird man die Erscheinungen so betrachten, daß man nicht darin verwickelt wird. Das sind die äußeren Formen des Tao; alles, was erscheint, ist irgendwie eine Auswirkung des Tao: Hohes und Niedriges, Schönes und Häßliches, Gutes und Böses. Nichts gibt es, das nicht sein Dasein hätte durch das Tao, auch dem geringsten Staub versagt es sich nicht. Aber man wird das Tao in der Wirklichkeit der Erscheinung vergebens suchen, wenn man Zwecke und Absichten hat. Je mehr man die Welt durchforscht aus Zwecken und bestimmten Absichten, je mehr man das Begehren pflegt und etwas will und etwas macht, desto mehr wird man verstrickt in die Vereinzelung. Dadurch kommt man aber zum Widersinn, und der ist bald am Ende. Dabei macht es keinen Unterschied, nach welcher Seite man strebt. Ob man Genuß sucht, Farben, Töne, Leckerbissen, aufregende Spiele, seltene Güter: alles bewirkt nur, daß man tiefer in den Wahn verstrickt wird. Ebenso ist es Wahn, wenn man bezweckt, Heiligkeit und Weisheit, Liebe und Pflicht, Kunst und Gewinn, Gelehrsamkeit und Wissen zu pflegen. Denn auch damit ist die Überbetonung des einen Pols gegeben, die mit Notwendigkeit das Hervortreten des andern bewirkt. Wenn alle Menschen das Schöne als schön erkennen und erstreben, so ist damit schon das Häßliche gesetzt. Das Tao ist wie ein Bogenspanner. Es ergänzt jede Einseitigkeit durch ihr Gegenteil. Das Hohe wird nieder gedrückt, das Niedrige hoch gemacht. Des Himmels Sinn ist es, die Fülle zu verringern, den Mangel zu ergänzen.

Der Weg durch das Sein zum Sinn führt deshalb durch die Anerkennung der Gegensätze in der Welt der Erscheinung hindurch. Je freier man vom Wahn des Begehrens ist, desto freier wird man vom eigenen Ich. Dann schaut man die Welt nicht mehr gepeitscht von Furcht und Hoffnung, sondern rein als Objekt. Man sieht zu, wie alle Dinge sich erheben und groß werden und wie sie immer wieder zurückkehren zu ihrer Wurzel. Man sieht ungeheure Kräfte sich austoben wie Wolkenbrüche und Wirbelstürme; aber ein Wirbelsturm dauert keinen Morgen lang, dann ist er vorüber. Man erkennt, wie die Waffen stark sind und sieglos bleiben, wie der Baum stark ist und gefällt wird. Das Leid ist es, von dem das Glück abhängt. Das Glück ist es, worauf das Leiden lauert. Durch diese Erkenntnisse gelangt man dazu, das Ich auszuschalten; denn dieses kleine Ich, das die Spanne zwischen Geburt und Tod für sein Leben hält, ist der wahre Grund des ganzen Wahns. Indem es für diese Spanne Zeit etwas begehrt und das Begehrte durch die Magie des Namens – durch die erst die Kenntnis des Begehrten kommt und gleichzeitig das Streben danach verursacht wird – verwirklicht, kommen alle die Verwicklungen, die dem Bewußtsein das Tao verdecken. So ist selbst Gnade etwas Beunruhigendes und die Ehre ein großes Leiden: beides nur durch die Persönlichkeit, die alles auf sich bezieht. Dieses Persönlichkeits-Ich muß in ständiger Unruhe sein – einerlei ob ihm Gnade widerfährt oder ob es sie verliert, und ebenso geht es mit der Ehre. Wenn man die Persönlichkeit ausschaltet, dann gibt es kein Übel irgendwelcher Art mehr. Denn das Tao wirkt sich mit souveräner Sicherheit aus, auch wenn das Ich durch seine Begierden verfinstert ist: ja diese Begierden selbst sind eine Auswirkung des Tao nach festen Gesetzen. Es kann alles gar nicht anders sein, als es ist. Es handelt sich nur darum, daß man sich den Weg nicht verbaut. So wird die Vorstellung der Welt frei vom Wahn und rein, und man schaut mit innerer Ruhe dem Spiel des Lebens zu. Man weiß ja, daß Leben und Sterben nur Ausgehen und Eingehen ist. Wenn man dem ewigen Gesetz folgt und nirgends haften bleibt, nirgends sich verhärtet und erstarrt, so bleibt man im Flusse des Tao drin, und die Todesmächte, die immer erst dann einsetzen können, wenn sich im Individuellen etwas verfestigt hat, haben keine Gewalt mehr über einen. So ist dieser Weg über das Äußere, das Sein, ein Weg zum Tao, das ja im Sein ausgebreitet ist, wenn man frei ist vom Wahn und im reinen Schauen dem Meisterstück der ewigen Mutter zusieht, die ihre Fäden spinnt und quellen läßt wie die Strahlen eines Wasserfalls, unaufhörlich, wie zusammenhängend. Aber man weiß es, der Schleier ist lebendig, er ist im ständigen Wallen, er kennt kein Verweilen, kein Begehren, kein Ich, keine Dauer. Alles fließt.

Allein diese reine Schau, die im Vergänglichen den ewigen Sinn an der Arbeit erblickt, ist nur der eine Weg. Der andere Weg führt durch das Nichtsein. Durch ihn gelangt man zum Schauen der geheimen Kräfte, zur Vereinigung mit der Mutter. Was vorher nur Schauspiel war, wird jetzt Erlebnis. Man kommt zum zweitlosen Einen, zu dem dunklen Tor, aus dem Himmel und Erde, alle Wesen und alle Kräfte hervorquellen. Dieser Weg ist der Weg der Einsamkeit und des Schweigens. Hier flammen Erkenntnisse auf, über die man nicht mit anderen reden kann, die man schweigend verehren muß. Dieser Weg des Schweigens führt hinweg von allem Persönlichen. Denn das Persönliche ist ja doch nur die sterbliche Hülle, die man regt, wenn man durchs Leben wandert. Er führt in die Stille, dahin, wo alles Sichtbare sich auflöst in wesenlosen Schein. Er führt aus der Vielheit zurück zur Einheit. Für diesen Weg ist aber eine innere Vorbereitung nötig. Man muß seine Seele so bearbeiten, daß sie das Eine festhalten kann, ohne sich zu zersplittern; denn das ist das Kriterium: wenn ein Weiser höchster Art vom Sinne hört, so hängt er ihm an; wenn ein Weiser niederer Art vom Sinne hört, so schwankt er; bald hat er ihn, bald verliert er ihn wieder. Aber über dieses Schwanken muß man hinauskommen, wenn man den Eintritt erlangen will ins innerste Heiligtum. Die vollkommene Einheit ist das erste. Dann kommt die Geschmeidigmachung der Seelenkräfte. Keine Erstarrung darf bleiben, wie sie bei erzwungenen Einheitszuständen herrscht; denn das Erlebnis muß ganz einfach und leicht kommen. Die inneren Kräfte müssen in Fluß geraten, müssen die Hemmungen überwinden. Man muß werden wie ein Kindlein, das alle Anstrengungen ohne Ermüdung über sich ergehen lassen kann, weil es weich, beweglich, nicht starr ist. Diese Verflüssigung des Innern ist aber keine Zerstreuung, sondern es ist die Stufe, die die Fortdauer der Sammlung zur Voraussetzung hat. Es ist die Entspannung, die nicht mehr fehl gehen kann, weil sie sicher geworden ist. Erst dann ist die Tiefenschau des Wesens möglich; denn nun ist der Spiegel der Seele rein, ohne Flecken und zart, so daß er keinen Eindruck festhalten will, sondern willenlos den Anregungen folgt, die aus den Tiefen auftauchen. Nun erlebt er es, wie des Himmels Tore sich öffnen und schließen. Er schaut das Unsichtbare, er hört das Unhörbare, er fühlt das Ungreifbare. – Er ist jenseits des Seins, tief drunten bei den Müttern. Er wird Zeuge der geheimnisvollen Lebensvorgänge und verhält sich still und duldsam wie ein Vogelweibchen, das über dem Geheimnis des werdenden Lebens im Ei brütet. Und das Ei öffnet sich. Die Vereinigung mit dem letzten Sinn findet statt. Der Sohn hat die Mutter gefunden...

Nun kommt die große Klarheit, die alles durchdringt, das große, rettende Erkennen des zweitlosen Einen.

Aber durch diese Erkenntnis entsteht die Möglichkeit, daß man die Gegensätze in der Erscheinung nicht mehr verfestigt und trennen will, sondern man erkennt sie an und vereinigt sie in höherer Synthese. Man erkennt sein Männlich-Schöpferisches und hält doch fest das Weiblich-Empfangende, man erkennt seine Ehre und weilt doch willig in Schande. Darum bleibt man frei von allen Nöten der Person und kehrt zurück zur ursprünglichen Einfalt. Wer so seine Kindschaft erkennt und seine Mutter (die große Mutter der Welt, das Tao) wahrt, der kommt sein Leben lang nicht in Gefahr. Wer seinen Mund zuhält und seine Pforten schließt, der hat sein Leben lang nicht Mühsal. Er schaut das Kleine, er wahrt die Nachgiebigkeit, darum bleibt seine Person frei von jedem Leid. Wer auf diese Weise gut sein Leben zu wahren versteht, der scheut auch Tiger und Nashorn nicht und vermag selbst ohne Panzer und Waffen durch ein Heer zu schreiten. Denn er hat keine sterbliche Stelle, die verletzt werden könnte, da nichts an ihm zum Widerstand reizt.

Von dieser Erkenntnis aus wird er auch sein Handeln einrichten. Er wird immer auf das wirken, was noch nicht da ist, und das in Ordnung bringen, was noch nicht in Verwirrung ist. Denn eben dann sind ja die Keime schon im Unsichtbaren da, von denen das Buch der Wandlungen redet. Auf diese Keime gilt es zu wirken, dann wird sich das, was so in den Keim hineingelegt wurde, zugleich mit dem Wachstum des Keims ganz von selbst mitentfalten, ohne daß man selber irgend etwas macht oder nach außen hin etwas tut. Diese organische Beeinflussung der Keime ist die entscheidende Art der Wirksamkeit dessen, der das Tao erlangt hat. Was so gepflanzt wird, wird nicht ausgerissen. Guter Wanderer läßt keine Spur zurück. Guter Schließer schließt nicht mit Schloß und Riegel. Ja, wer auf die Keime zu wirken versteht, zeigt seine geheime Macht auch darin, daß er die entgegenstehenden Kräfte sich ruhig erst auswirken läßt. Was man zusammendrücken will, muß man erst richtig sich ausdehnen lassen. Erst dadurch, daß die eine Kraft durch Auswirkung ihrer Erschöpfung sich nähert, gibt sie die Möglichkeit, daß sie mit Leichtigkeit überwunden wird.

Solche Geheimgesetze enthalten freilich Formeln, die zu schwarzer Magie führen können, wie sie denn vom Zaubertaoismus späterer Zeit ebenso ausgenützt wurden, wie von der japanischen Jujitsumethode, oder von dem Staatstaoismus eines Hanfetse. Allein bei Laotse liegt die Sache doch anders. Er sieht wohl den Mechanismus des magischen Wirkens vor sich, aber ihm liegt nichts daran, von diesen Erkenntnissen einseitigen magischen Gebrauch zu machen. Denn das ist seine Größe, daß er in die letzte Einheit des Weltzusammenhangs eindringt, in dessen schweigender Stille keine Gegensätze mehr vorhanden sind, die auszunutzen wären.

Darin zeigt sich eben der Unterschied seines Weges von dem Weg des Wissens. Das Wissen geht immer weiter hinaus in die Welt, sucht und forscht und häuft immer mehr Tatsachen an. Aber um das Tao zu erlangen, muß man tiefer hinein in die Innerlichkeit, bis man den Einheitspunkt erlangt hat, wo die einzelne Persönlichkeit die Berührung hat mit der kosmischen Gesamtheit. Von diesem Einheitspunkt aus ermöglicht sich dann die große Wesensschau. Ohne aus der Tür zu gehen, kann man die Welt erkennen. Ohne aus dem Fenster zu blicken, kann man des Himmels Sinn erschauen. Wer diesen Standpunkt hat, der wandert nicht und kommt doch ans Ziel, er schaut nach nichts und ist doch über alles klar, er handelt nicht und bringt doch zur Vollendung.

So wird er sein Leben führen als Persönlichkeit, aber das Persönliche, die Maske des Ich, wird ihn nicht mehr betrügen. Er wird seine Rolle spielen wie die andern, aber er hält sich abseits vom Getriebe der andern. Denn er ist frei geworden vom Wahn und schätzt es allein von der Mutter sich zu nähren.

 


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