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Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.
Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist hier ganz ähnlich wie in Genesis 3 als Anfang des Übels bezeichnet, bei Laotse noch mit der Verallgemeinerung, daß innerhalb der Welt der Erscheinung, da alle Gegensätze sich gegenseitig bedingen, mit der Setzung des Einen sein kontradiktorisches Gegenteil notwendig mit gesetzt ist. Das »Jenseits von Gut und Böse«, das Laotse fordert, ist also von dem Nietzsches sehr wesentlich verschieden.
Interessant ist die Bemerkung des Komm. II, nach der das »Gute« der »Gipfel des Schönen« ist, nichts qualitativ davon Verschiedenes. Es entspricht das durchaus der Terminologie des ganzen Werkes. »Gut« kann meist mit »tüchtig« übersetzt werden. Es ist nichts anderes als das auf das Handeln übertragene Ideal der Wahrheit und Schönheit. Darin berührt sich der alte chinesische Denker mit modernsten Dispositionen der höchsten Ideen.
Mit dem stereotypen Satz »Also auch der Berufene« pflegt meist die praktische Anwendung einer theoretischen Ausführung gegeben zu werden. Der »Berufene« ist der Mensch in Übereinstimmung mit dem Sinn, der »Heilige«, der »Prophet«, der als solcher zugleich zur Herrschaft der Welt berufen ist. Nach chinesischen Quellen würde es sich jedesmal, wo diese Formel vorkommt, um ein Zitat aus einem verlorenen Werk »Fen Diën« handeln.
Die Lehre des »Wirkens ohne Handeln«, die das ganze Buch durchzieht, ist hier zum erstenmal ausgesprochen. Der Gedanke ist dem Tolstoischen »Nichtstun« durchaus analog. Es ist das Wirkenlassen der schöpferischen Kräfte im und durch das eigne Ich, ohne selbst etwas von außen her dazu tun zu wollen. Dieser Zug ist zwar im Chinesentum als Ideal mit enthalten; auch Kung erwähnt ihn als das höchste, vgl. Gespräche, Buch XV, 4. Dennoch ist er in dieser konsequenten Durchführung nur bei den »Mystikern« zu finden. In diesem Sinne aber geht er durch alle Zeiten. Vgl. die Stellung Goethes und Spinozas in dieser Hinsicht (Ch. Schrempf, Goethes Lebensanschauung I, pag. 179 ff.). Zeile 5-10, die sich im Urtext reimen, sind vermutlich Zitat aus einer Spruchsammlung älterer Zeit.