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Die alte Frau Bethge kam jeden Abend zu ihrer Tochter, wenn sie wußte, daß die allein war. Sie half das Kind ins Bett bringen und verbarg, so gut es ging, ihren Kummer. Denn sie litt darunter, daß Dr. Hans Krämer, der Vater des Kindes, trotz seinem guten Einkommen noch immer nicht daran dachte, sein Wort einzulösen und ihre Tochter zu heiraten.
Frau Bethge war kaum die Treppe herunter, Herta hatte sich eben mit ihrem Nähzeug hingesetzt und mit der Arbeit begonnen, da ging die Flurtür.
Herta sprang auf. Im selben Augenblick trat Erich Friedheim ins Zimmer. Erfreut streckte sie ihm die Hand entgegen:
»Was ich doch immer für Ahnungen habe! Grad eben dacht' ich, jetzt müßt ihr kommen, und schon seid ihr da,« dabei sah sie noch immer zur Tür, die offenstand. »Ja, aber wo ist denn der Hans?« Fast ängstlich sagte sie das; rief aber gleich darauf belustigt: »Aha, ich weiß schon,« dabei ging sie zur Tür, sah hinaus und rief lachend: »Na, komm' nur herein, ich hab' dich schon gehört.«
»Ne, ne, Frau Herta, 'ne Viertelstunde müssen Sie sich schon noch gedulden.«
Aber Herta erwiderte: »Ihr macht mir nichts weis, wollt bloß wieder hören, wie ich schimpfe, is aber nichts zu machen.« Und wieder rief sie laut zur Tür hinaus: »Hörst du, Hans, ich bin heute bei sehr guter Laune.«
»Wann sind Sie das nicht?« er sah sie an und schüttelte den Kopf.
Herta glaubte noch immer, Hans sei draußen; »Du, Hans, ich habe Besuch gehabt, rat' mal, wer da war! Na, is es wohl zu glauben, so ein Kindskopf!« Sie ging auf den Flur, suchte ihn, fand ihn aber nicht und kam dann mit verstimmtem Gesicht wieder ins Zimmer: »Er ist wirklich nicht da,« sagte sie; und Gesicht und Stimme waren gleich traurig.
»Und darum gleich so 'ne Leichenbittermiene? Aber ich dacht's mir schon. Ich hätte ja schließlich unten auf ihn warten können, 's wär' vielleicht richtiger gewesen. Es war mir aber zu kalt, und dann, Sie kennen mich ja, ich bin nu mal nich für Komödie.«
»Ich kann mich ärgern, daß Hans nich nach Hause findet, früher kam's nicht vor, daß Sie vor ihm hier waren.«
»Möglich, daß er mehr die große Gesellschaft schätzen gelernt hat und ich mehr die Ihre,« erwiderte Erich, setzte sich neben sie und zündete sich eine Zigarette an. »Ne, so ein Stumpfsinn, so 'ne Abendgesellschaften! Ich habe mich mal wieder nach Noten gemopst.«
»Und das sagen Sie, wo Sie von Ihren Eltern kommen?«
»Sie haben recht, ich sollte das nicht. Geben Sie mir einen Whisky-Soda, Frau Herta, bitte,« und während sie ihm einschenkte, fuhr er fort: »Es war die große Heerschau, wie immer, der neue Jahrgang meiner Vettern und Kusinen debütierte. Einige unter ihnen recht vielversprechend. Walzertakt durch die erhöhten Herzschläge allerdings durchweg noch galoppartig – aber« – und man merkte, daß er sich quälte und etwas ganz anderes sagen wollte. Herta fühlte das auch gleich und sagte es ihm auf den Kopf zu. Er leugnete keinen Augenblick.
»Sie haben recht, Frau Herta, wenn wir beide nicht ehrlich miteinander sein wollen, wer soll es dann wohl sein. – Wollen Sie mir mal eine Frage beantworten? Was würden Sie z. B. sagen, wenn Hans eines Tages sein Junggesellenleben – – na Junggesellenleben, was ich so unterm Junggesellen verstehe, wissen Sie, ich verbinde damit so 'n gewissen Begriff von persönlicher Unabhängigkeit, also was das betrifft, Junggeselle war Hans ja eigentlich nie, denn 'ne spießbürgerlichere Ehe, als Sie se hier miteinander führen, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«
Herta suchte zu widersprechen, aber Erich fiel ihr ins Wort:
»Widersprechen Se nicht, was wissen Sie denn vom Leben, Sie haben ja noch kurze Röckchen und 'nen Zopf getragen, als Hans Sie in seine Fittiche bekam. Es ist schon so, wie ich sage. Also nehmen Sie mal an, Hans trüge sich mit dem Gedanken, demnächst in den geheiligten Stand der Ehe zu treten, mir schwant im stillen nämlich schon lange so was, was würden Sie 'n dazu sagen?«
»Ich dräng' ihn nicht,« erwiderte Herta.
»Das kann ich mir lebhaft denken, denn wenn's wirklich mal soweit käme, 'ne gewisse Veränderung müßte hier dann wohl schon eintreten.«
Herta lachte laut auf: »Ach so! Jetzt verstehe ich erst, Sie meinen, daß Hans nicht mich, sondern 'ne andre heiratet,« sie schüttelte sich vor Lachen. »Sie sind wirklich gut, vielleicht gar die kleine Geheimratstochter, Ihre Schwester?«
»Eben die mein' ich,« sagte Erich ernst und bestimmt. Aber Herta war so belustigt, daß sie das gar nicht bemerkte.
»Ich habe natürlich gedacht. Sie meinen mich,« dabei goß sie sein Glas wieder voll. »Trinken Sie, lieber Erich, und heben Sie sich das für 'n andermal auf, Sie sind heut abend nicht auf der Höhe.«
Draußen ging die Tür; sofort stand Herta auf und stürzte hinaus.
»Da ist er!« rief sie. »Na, Erich, nun seh'n Sie 'n sich mal an, ob so ein Heiratskandidat aussieht.«
Hans, der in diesem Augenblick ins Zimmer trat, erschrak heftig:
»Was sagst du da?« – – fragte er sie. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Hier ist übrigens eine furchtbare Schwüle.«
Herta sah nach dem Thermometer: »Es sind auf den Strich vierzehn Grad, genau wie du's gern hast,« sagte sie.
»Ich glaube schon, daß dir schwül ist,« erklärte Erich, stand auf und ging nahe an Hans heran. »Sei kein Feigling, Hans,« sagte er leise, so daß sie es nicht hören konnte, »es ist ein Verbrechen, wenn du ihr nicht die volle Wahrheit sagst.« Dann wünschte er beiden gute Nacht und ging hinaus.
Herta hatte zwar nicht verstanden, was Erich ihm zugeflüstert hatte, aber sie fühlte doch und sah es ihm an, daß es irgend etwas von Bedeutung war, gewiß nichts Angenehmes, denn er war betroffen und schien, ganz gegen seine Gewohnheit, verstimmt. Sie legte besorgt ihren Arm um seinen Hals und fragte zärtlich: »Was meint er nur, Hans, was will er von dir? Bist du krank?«
»Laß nur, er mag schon recht haben,« wehrte er nicht eben freundlich ab. Dann ging er ans Fenster und öffnete es: »Ich ertrage die Schwüle nicht.«
»Herr des Himmels, so echauffiert und dann des Nachts im Frack am offenen Fenster …« rief Herta und zog ihn wieder ins Zimmer. »Das heißt, irgend etwas ist bei dir mal wieder nicht in Ordnung. Verstell' dich nicht, Hans, wenn du's mir heut nicht sagen magst, ich quäl' dich nicht, aber eins bitt' ich mir aus, mach' hier kein Theater, wenn du Wut in dir hast, so tob' dich aus,« dabei horchte sie wieder zur Stube hinüber, in der ihr Junge schlief, »aber 'n bißchen mit Maß, damit uns der Junge nicht wieder wie neulich aus dem Schlafe wacht.«
Hans quälte sich, etwas zu sagen:
»Weißt du, Herta …«
»Ja? … Du wolltest doch eben was sagen?«
»Laß nur,« wehrte er ab und kehrte ihr den Rücken.
»'s war von dem Jungen! Er gefällt dir nicht, hab' ich recht?«
»Ja, das wollt' ich sagen,« heuchelte Hans, dessen Gedanken ganz wo anders waren, der nun aber froh war, daß sie ihm ein Thema nannte, über das man sprechen konnte.
»Er … ist immer so blaß … gar nicht so wie andere Kinder in seinem Alter, er tollt nicht, macht sich aus keinem Spielzeug was, er träumt nur immer so mit offenen Augen in den Tag hinein. Ich hab' ihn noch nicht ein einziges Mal lachen oder weinen sehen.«
»Er war heute sehr munter,« beruhigte ihn Herta, »wirklich, Hans, er war fast ausgelassen, er hat gesungen und mit Halles Kindern gespielt; freilich, schwach ist er ja noch, aber ich denke, wenn wir im nächsten Winter vielleicht doch einmal auf ein paar Wochen mit ihm in …«
»So … hm … ja, ja …« murmelte Hans, »hast du mir nicht mal erzählt, daß dein verstorbener Bruder grad wie unser Junge aussah und die Sonne nicht mochte, und daß er des Tags über immer traurig war und erst am Abend, wenn ihr die Fenster schloßt, anfing, vergnügt zu werden?«
»Freilich,« antwortete Herta mit weinerlicher Stimme, »das habe ich wohl erzählt.«
»Und daß er erst in seinem zehnten Jahre zum ersten Male bitterlich zu weinen anfing und dann noch an demselben Tage wie im Traum mit offenen Augen den Hügel neben eurem Hause hinab in den Fluß gelaufen und ertrunken ist?«
Herta weinte jetzt laut:
»Laß doch die traurigen Erinnerungen, Hans, du regst mich nur unnütz damit auf. Wozu ich dir die dumme Geschichte auch bloß erzählt habe. Überhaupt hat mir das nur die Mutter gesagt, und wer weiß, ob das in Wirklichkeit so war. Du weißt doch, wie sie ist, sie denkt sich oft alles Mögliche aus, nur damit wir »zur Besinnung kommen«, wie sie es nennt. Die Hauptsache bleibt doch, daß unserem Jungen nichts passiert, und dafür laß nur mich sorgen, ich paß schon auf.«
»Eben, du paßt schon auf, du wirst schon sorgen,« erwiderte Hans, aber seine Gedanken waren schon wieder ganz wo anders.
»Ich sehe es dir nämlich schon seit Tagen an,« sagte Herta, »daß dich was drückt. Du weißt gar nicht, wie du gleich ein ganz anderer bist, wenn du Kummer hast.«
»Ja? Merkt man mir das so an?« erwiderte er gleichgültig.
»Aber sofort; wenn du was verbergen willst, merkt man's grad doppelt. Übrigens, da wir grade mal davon sprechen, Hans, ich weiß ein Mittel, das für den Jungen besser ist als gute Luft und alle Medizin.«
»So? Was ist das? Warum sprichst du nicht mit dem Arzt darüber?« Ihn störte und quälte jedes Wort, das sie sagte.
»Du hast ja so wenig Zeit am Tage, kaum, daß du dir Ruhe zum Essen gönnst – – na, und des Abends – – schließlich mußt du dich doch auch zerstreuen und kannst nicht immer zu Hause sitzen.«
»Was hat denn das Mittel mit mir zu schaffen? Was ist 'n das überhaupt für'n Mittel?« fragte Hans.
»Du bist es!« platzte Herta heraus, und Hans erwiderte erstaunt:
»Ich?«
»Ja, du! Der Junge jammert den ganzen Tag, wenn du fort bist, alle Viertelstunde fragt er nach dir, es ist geradezu, als ob er in ewiger Angst um dich lebte. Einmal mußt du es ja doch erfahren, Hans, er ißt kaum einen Bissen, wenn du nicht da bist, und Sonntags, na, du siehst es ja selbst, mit welcher Freude er da beim Esten ist. Ich habe soviel Liebe bei einem Kinde noch nicht gesehen. Oft hab' ich das Gefühl, als ob ich gar nicht für ihn existiere, als ob außer dir überhaupt kein Mensch für ihn auf der Welt wäre.«
Nichts konnte für Hans unwillkommener sein als diese Eröffnung.
»Das wußte ich allerdings nicht,« sagte er entsetzt. »Ich kann mir das auch gar nicht erklären. Du bist den ganzen Tag um ihn, schaffst, sorgst, ja, ich möchte sagen, lebst für ihn, und ich, alle Morgen die Viertelstunde. Gewiß erzählst du ihm zu viel von mir und immer bloß Gutes.«
»Das ist eben sehr unrecht, man soll Kindern selbst von den eigenen Eltern keine gottähnliche Vorstellung machen. Einmal sind blinder Glaube und blinde Liebe nichts wert und dann, wenn so'n Kind nachher in die Jahre kommt, um sich eine eigene Meinung zu bilden, so wird es natürlich irre, wenn es genau wie bei allen anderen Menschen auch an den Eltern Widersprüche und menschliche Schwächen entdeckt,« dozierte Hans ganz gegen seine Gewohnheit.
»Weißt du, so schlimm mach' ich's ja nun auch nicht gleich,« beruhigte sie ihn.
Aber Hans erwiderte:
»Ich fürchte doch, – – und dann: kränkt es dich denn nicht, daß er für mich so viel mehr Liebe hat als für dich?«
»Aber ich bitt' dich, wie kann mich das denn kränken? Du und der Junge, ihr seid für mich unzertrennlich, ich kann mir den einen nicht ohne den andern denken, ich glaub', wenn ich dich … nein, ich sprech's lieber nicht aus.«
»Sag' bitte, was du meinst,« forderte Hans ungeduldig und nervös.
Herta wehrte ab:
»Nein, laß nur, es war ein schlechter Gedanke, die Mutter hat mir heut wieder so viel zugesetzt, und da dacht' ich … aber nur einen Augenblick, wirklich, Gott, man denkt ja so manches …«
»Möchtest du nun endlich sagen, was du gedacht hast?« fiel er ihr ins Wort.
»Nun denn, wenn ich dich verlieren würde,« begann Herta bedeutungsvoll und mit feierlicher Stimme; brach aber gleich wieder ab und sagte: »Aber wozu, Hans, uns quälen, das ist ja doch völlig ausgeschlossen, du wirft ja länger leben als ich, du bist ja gesund und kräftig, ich meine nur, gesetzt der Fall …«
»So sprich endlich aus, was du meinst,« sagte Hans mit großer Bestimmtheit, daß Herta vor ihn hintrat und mit fester Stimme erklärte:
»Nun denn: ich glaube, ich würde den Jungen umbringen.«
Hans glaubte, ihn rühre der Schlag.
»Herta!« schrie er entsetzt, »komm' zu dir, du bist nicht bei Sinnen.«
Aber Herta fuhr fort; wenn möglich fester noch und bestimmter:
»Ich könnt's vor Gott verantworten, Hans! – – Und vor den Menschen? Nun, da wäre mir nicht bange, die mögen's beurteilen, wie sie wollen.«
Hans war ganz außer sich:
»Das ist ja ein furchtbarer Gedanke!« rief er.
Und Herta, die seine Erregung sah, besann sich; sie nahm alle Kraft zusammen, um ruhig zu erscheinen, obschon auch sie in großer Bewegung war.
»Siehst du, ich wußte es ja, ich hätte nicht anfangen sollen. Aber sag' selbst, der Junge würd' mir ja langsam dahinsterben vor Kummer und Sehnsucht, und das könnte ich bei Gott nicht mit ansehen, wenn er leidet.«
»Herta!« erklärte jetzt Hans fast feierlich, »diesen Gedanken mußt du aufgeben, und zwar augenblicklich, ganz und gar mußt du den in dir zerstören, ein für allemal. Versprich mir das bei deiner Liebe.«
Und Herta, die sich schon völlig wieder in Gewalt hatte, lachte auf und suchte ihn zu beruhigen. »Ach, red' doch nicht so'n Unsinn, das ist ja alles nur Rederei – – wozu ich auch bloß mit solchem Unsinn anfangen mußte, schließlich wird noch Ernst daraus.«
»Eben, eben,« erwiderte Hans, »das fürchte ich ja – – denk' nur, ich hakte ja keine ruhige Minute mehr. Also, Herta, gib mir dein Wort.«
»Bist du noch immer bei der dummen Geschichte? – – Daß ich auch allemal mit meinen Gedanken durchgehen muß, wo du heut so schon in schlechter Stimmung bist, – – aber nun ist's tatsächlich genug, reden wir von was anderem.«
Doch Hans blieb fest.
»Denk' dir den Fall, ich fiele hier um und stände nicht mehr auf.«
»Hans!« schrie Herta entsetzt auf, und er antwortete ruhig:
»Nun ja, so unmöglich wär's doch wohl nicht. Es passiert ja alle Tage. Kleiner Herzschlag oder so was Ähnliches.«
Herta hielt sich die Ohren zu.
»Um alles in der Welt, Hans, quäl' mich nicht so, ich halt's nicht aus. Du bist ja gesund, wirst ja leben. Für den Jungen mußt du schon leben bleiben, so grausam ist Gott nicht.«
»Was würdest du mit dem Kinde da drin tun?« drang Hans in sie und forderte eine Antwort.
»Laß mich in Frieden, Hans,« rief Herta und rang verzweifelt die Hände, »ich werde verrückt, du lebst ja, schaffst ja, bist ja kerngesund.«
»Was würdest du mit dem Kinde da tun?« wiederholte er und stand jetzt dicht vor ihr. »Antworte mir!«
Und mit gewaltiger Stimme, die zitterte und bebte, brach sie hervor:
»Umbringen würd' ich's! Umbringen! Und verflucht meine Feigheit, wenn ich's nicht fertig brächte.« Sie holte tief Atem und wurde ruhiger: »Das wär' ich dem armen Wurm da schuldig, da ich's ja mal in die Welt gesetzt hab'. Ja, leben lassen und verkommen sehn vor Schmerz, das wär' schon einfacher, ich glaub's. Aber denk' nur, wenn's denn so käm', daß du jetzt umfällst und wärst tot, und wir beide noch nicht Mann und Frau, Hans, 's war doch wohl nicht recht, was wir getan haben; der Junge hätte ja keinen Vater vor den Menschen, der würd' ja gebrandmarkt durchs ganze Leben gehn, durch meine Schuld! Das könnt' ich nicht mit ansehen, daß sie unseren armen Jungen verspotten, einen nach dem andern würd' ich umbringen, einen nach dem andern.«
Hans stand da, betäubt und verblüfft.
»Das ist ja furchtbar,« rief er, »was ist denn in dich gefahren? Das ist ja grad', als wärst du seit gestern ein anderer Mensch geworden.«
Eine Zeitlang schwiegen beide. Dann sagte Herta ruhig:
»Du hast recht, Hans, ich weiß auch selbst nicht, wie das alles auf einmal so über mich kommt. Es war grad', als läg's so in der Luft. Es ist ja Unsinn! – – Ich seh's ja auch ein; denn später, nicht wahr, Hans, wenn wir erst geheiratet haben, dann kann ja kein Mensch mehr unserem Jungen was nachsagen, dann kommt er wie alle andern aufs Gymnasium und überall hin, ist's nicht so?«
»Eilt's dir denn gar so sehr mit der Heirat?« fragte er sie.
»Mir? Ach du lieber Gott! Als ob wir uns dadurch mehr sein könnten, – – wenn der Junge nicht wär', ich weiß noch nicht mal, ob ich's mir wünschen würde. – –
Freilich, der Mutter würd' ich's ja gönnen, daß sie's noch erlebt. Weißt du, so alte Leute sind oft einfältiger als die Kinder. Mit was für Gedanken die sich so quält. Was die so fragt: ob du noch ebenso zu mir bist wie früher, ob du mich auch nicht sitzen lasten wirst, na, sag' selbst, das sind doch alles ganz einfältige Fragen.«
»Allerdings, sie weiß doch, daß du mein Ehrenwort hast?«
»Was für 'n Ehrenwort, Hans?« fragte Herta erstaunt.
»Na, 's wär' ja eigentlich überflüssig gewesen, als ob das für 'n anständigen Menschen unter diesen Verhältnissen nicht selbstverständlich wäre!«
Aber Herta verstand ihn noch immer nicht.
Und Hans erklärte:
»Weißt du denn nicht mehr, daß ich dir zu des Jungen erstem Geburtstag mein Ehrenwort gegeben habe, dich und das Kind, solange ich lebe, nicht im Stiche zu lassen? Das könntest du der alten Frau ja mal bei Gelegenheit sagen.«
»Was hast du mir gegeben?« fragte sie in gereiztem Tone: »Dein Ehrenwort? Pah, da pfeif' ich darauf, das kannst du jede Stunde zurückhaben, wenn du willst. Wenn's erst mal das ist, was dich hält, nachher magst du von mir aus lieber ganz fortbleiben.«
Hans sah, daß er nicht weiterkam.
»Ich glaub', es ist nun Zeit, daß wir endlich mit dem Unsinn aufhören und wie zwei verständige Menschen miteinander sprechen.«
»Ja, was hast du denn heute bloß immer für ernste Sachen? Was gibt's denn noch zu besprechen?« fragte sie ihn.
Er trat nahe an sie heran, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und fragte feierlich:
»Was, Herta, du hast mich lieb?«
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und antwortete zärtlich:
»Weißt du das nicht, Hans, fühlst du das nicht alle Tage?«
»Gewiß! Und du weißt auch, daß ich bei allem, was ich tu, an dich und den Jungen denke?«
»Ja, Hans, das weiß ich!«
»Und nicht an mich?«
»Du, das beschwör' ich mal nicht,« sagte sie erheitert und lachte, »denn daß du ein großer Egoist bist, das weißt du doch selbst am allerbesten.«
Die Antwort verstimmte ihn.
»Also nicht für fünf vernünftige Worte bist du zu haben! Ist denn das wirklich so dumm, wenn ich dich frage, ob du unter jeder Bedingung bei mir bleiben würdest, wie's auch mit mir käme, und überall mit mir gingst, wenn's auch vielleicht weit weg wäre.«
»Du fragst mich, ob das dumm ist? Nun, Hans, ich will dir mal was sagen: über die Jahre sind wir hinaus, das triviale Zeug war vor acht Jahren vielleicht am Platze, wo du noch als Student wie besessen hinter jeder Schürze her warst. Ich meine, dazu sind wir heute zu verständig, um unsere Liebe nach Kilometern zu messen. Bis Amerika reicht's, wenn's aber nach Australien gebt, pack' ich den Jungen in den Rucksack und geh' ins Varieté.«
»Mir scheint, wir verstehen uns nicht,« sagte Hans und trat ans Fenster. Er war ganz verzweifelt und wußte gar nicht mehr, wie er's beginnen sollte.
»Sehr richtig, das scheint mir auch,« erwiderte Herta, »und darum wirst du eben gefälligst deutlicher sprechen müssen und grad' heraus wie 'n anständiger Mensch sagen, was du eigentlich willst.«
»Es ist keine Feigheit von mir, wenn ich nicht alles, wie du, so frei weg sage. Herrgott, die Menschen sind eben verschieden, ich fürchte immer, ich könnt' dir weh tun durch ein ungeschicktes Wort. Es kommt eben immer darauf an, wie man's herausbringt. – – Aber schließlich bist du ja verständig genug. – Also sieh mal, – so wie wir jetzt leben, mit den sechshundert Mark monatlich, ist doch bei dem, was ich notwendig für mich gebrauche, recht miserabel.«
»Entbehrst du wirklich so viel? Ich wünscht' es mir nie besser; aber gewiß, bei dir mag das anders sein.«
»Entbehren tu ich auch nichts – gewiß nicht. Obschon manches anders sein könnte. – Aber denk' mal, wenn ich nun plötzlich aus irgendeinem Grunde – – wir brauchen ja nicht gleich an den Tod zu denken – – nimm mal an durch Krankheit oder etwas Ähnliches, meine Stelle verliere und nichts mehr schaffen kann, was würde nachher aus dir und dem Jungen werden?«
»Schwer würde's werden, ich müßte dann tüchtig schaffen, aber so wie jetzt ging's dann freilich nicht mehr.«
»Und wer sorgt für den Jungen? Die Kosten alle Jahre für Reise und Arzt, wie steht's damit?«
»Aber das wird doch auch mal aufhören, der Junge wird sich mit den Jahren ja herauswachsen.«
»Hoffentlich! Ich glaub's nicht! Jedenfalls muß man doch damit rechnen, daß er so bleibt, na, und wenn's dann nachher nicht mal für den Jungen mehr herreicht?«
»Da gibt's doch tausend mildtätige Leute, die ein Einsehen hätten und helfen würden.«
»Die liegen nicht auf der Straße! Und wenn sie sich fänden, möchtest du wirklich das Geld für die Pflege von fremden Leuten nehmen?«
»Nein, Hans, das war schlecht von mir, so zu denken, das war unüberlegt, das darfst du nicht glauben, das würd' ich ja nie und nimmer übers Herz bekommen.«
»Das mein' ich auch, du siehst also, wir müssen praktisch denken.«
»Ja, das seh' ich jetzt ein,« sagte sie traurig, »das wär' freilich furchtbar, – – daran hab' ich noch nie gedacht, und wenn du, –« sie sah ihn groß an – »ja, du bist so sonderbar! … Hans, ich errat's!« schrie sie plötzlich.
»Was ist denn?«
»Du hast deinen Posten verloren, ja, so sag' doch!«
Hans erwiderte ruhig:
»So weit ist's freilich noch nicht, wenn wir das abwarten wollen, wird's zu spät sein.«
Und in großer Erregung fragte sie weiter:
»Aber du wirst ihn verlieren! Wie? Sie haben's dir schon angedeutet.«
»Ja,« antwortete er in vollkommener Ruhe.
»O, du mein Gott!« schrie sie laut.
»Man hat es mir bis jetzt freilich nur so unter der Blume zu verstehen gegeben, aber immerhin doch deutlich genug. Geheimrat Friedheim hat mich selbst in sein Kontor gerufen, mir allerhand Liebenswürdigkeiten über meine Brauchbarkeit gesagt, und wie ungern er mich verlieren würde, aber … und … dann kam wieder sein Alter, und daß er eine junge Kraft brauche, in der Familie sollten die Werke aber bleiben, na, kurzum … wenn wir praktisch denken und uns entschließen könnten, unser Glück dem Jungen zu opfern …«
»Ich versteh' dich zwar nicht, Hans, aber ich meine, das müßten wir.«
»Wirst du es können?«
»Ja, wie meinst du das?« fragte sie ängstlich, »wenn du es kannst?«
Und plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie entsetzte:
»Ja, wir sollen uns doch nicht etwa trennen? Das könnte ja nie zum Glück für unser Kind sein.«
»Davon kann keine Rede sein,« beruhigte er sie, »Sei doch nur nicht gleich so furchtbar erregt und laß uns in Ruhe über die Sache sprechen, – – ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst, ich hab' dir schon verschiedene Male angedeutet – – na, du weißt ja doch, was ich meine,« – aber sie verstand ihn auch jetzt nicht – »na, du weißt doch, wozu soll ich das noch alles einmal brühwarm auskramen – – na, oder nicht?« – sie nickte nur traurig mit dem Kopf, zum Zeichen, daß sie noch immer nicht wußte, was er meinte, – »na, also, Entlassung oder seine Tochter heiraten und Astocié werden, was drittes gibt's nicht.«
Herta war wie betäubt.
»Ja, Hans, ich beginne zu begreifen, –« zitterte sie, »hab' nur einen Augenblick Nachsicht mit mir – ganz wenig nur – ich muß mich in all das erst hineinfinden, – –« ihre Stimme war weich und verschwommen, als träumte sie mit offenen Augen, so stand sie da, – »ja, ich verstehe wohl, es war schon mehrmals davon die Rede, mehrmals schon. – – Wir lachten immer, wenn du davon erzähltest, wir nahmen's nicht ernst, weil wir eben nur an uns und nicht an den Jungen dachten.«
»Ich weiß wohl, Herta,« er sah deutlich, wie sie litt.
»An den Jungen, ja, für den mag's freilich schon besser sein – – gut wird er's da haben, die Pflege, die er da hätte, die würden wir ihm ja hier niemals geben können, und viel bei dir wäre er dann auch, –« sie fühlte einen stechenden Schmerz, – »das hat er ja so nötig, – – da wird er mich bald nicht mehr vermissen, er ist ja noch jung, – – und für dich, Hans, ja, da wäre es am Ende gar nicht ein so großes Opfer, das du dem Jungen brächtest. An mich aber darf ich dabei gar nicht denken, –« sie brachte kaum noch ein Wort heraus, so schwer war ihr, – »obschon ich es nicht glauben kann, ohne dich, ohne das Kind! Du hast ja dann den Jungen, wenn du mich auch verlierst. – – Aber ich!« Sie hielt sich nicht mehr aufrecht, setzte sich auf den nächsten Stuhl, stützte die Arme auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen, weil sie nicht wollte, daß er sah, wie sie litt. – »Ach, wie schwach, wie elend schwach ist man, wenn man sein Glück, sein ganzes Glück so jung schon opfern soll.«
Hans war an sie herangetreten, hatte seine Arme um sie gelegt und sie aufgerichtet.
»Du mußt erst ruhiger werden, komm her zu mir, du sagst da so viel, was gar nicht möglich ist.«
Aber sie schüttelte nur den Kopf.
»Doch, Hans, doch, ich seh's schon ein, gut wird er's gewiß dann haben, und all die Sorgen, die wir im Anfang durchzumachen hatten, du weißt ja, ich ertrug sie gern und habe nie geklagt – –, aber es ist doch sicher besser, wenn er das alles nicht erst kennen lernt.«
Er drückte zärtlich ihre Hand.
»Wie gut du bist, Herta,« sagte er und war ergriffen.
»Ob ich's ertragen werde, das weiß ich freilich nicht, – – das darf ja aber nicht den Ausschlag geben.«
Hans kämpfte schwer; war's nicht genug für heute? Nein! entschied er, ich muß ihr alles sagen!
»Eins mußt du mir noch sagen, Hans,« sagte sie jetzt mit weicher Stimme, »wenn du nicht auf den Vorschlag eingehst, den Mut hättest du wohl nicht, es wo anders von neuem zu versuchen, vielleicht in einer anderen Stadt?«
»Wenn ich allein stände, vielleicht, obgleich – – was ähnliches Gutes würd' ich wohl nirgends finden, und selbst wenn, so würd's ein paar Monate dauern, und was geschähe in der Zwischenzeit?«
»Nein, nein, das geht nicht, es war ja auch bloß ein Gedanke von mir – natürlich, ich seh's schon, das geht nicht! – Wenn ich doch nur die Kraft hätte. Und glaubst du gar nicht, daß du dich nach mir bangen wirst, Hans? Du mußt immer daran denken, daß ich dir das Kind geschenkt habe. – Ach Gott, es ist doch so traurig auf der Welt, wenn man kein Geld hat; ich hab's immer verachtet und war zufrieden, wenn wir nur leben konnten, und nun des Geldes wegen! Findst du es nicht auch zu traurig, daß es darum so zwischen uns enden soll?«
»Wer spricht denn vom Ende?« suchte er sie zu beruhigen. »Du hörst mich ja gar nicht an, daran denk' ich ja gar nicht.«
»Wie lange wird's denn schon noch dauern, und dann immer in dem furchtbaren Gedanken leben: wieder ein Tag weniger. Sag', Hans, –« man sah, sie quälte sich jetzt furchtbar, – »mir bleibt das Wort in der Kehle stecken, wenn ich davon sprechen will.«
»Was willst du wissen?«
»Habt ihr schon miteinander gesprochen?«
»Ja,« sagte er kleinlaut, denn er sah, wie sie litt.
»Aber du hast ihr noch nicht gesagt, daß du sie heiraten willst?« fragte sie weiter.
»Doch – – heut' abend hab' ich es ihr gesagt.«
»Heut' abend, –« wiederholte sie monoton und fragte dann mit Tränen in der Stimme:
»Und sie hat ja gesagt?«
Hans nickte nur.
»Und ihr habt euch geküßt?«
»Wir wollen uns doch nicht so quälen,« sagte er.
Aber sie achtete nicht darauf und fuhr im gleichen Ton fort zu fragen:
»Und das Kind? Was hat sie dazu gesagt?«
Hans wehrte ab.
»Aber so hör' doch damit auf, es führt ja zu nichts.« Sie bettelte und ihre Stimme war so weich und lieb, daß es schien, als spräche ihr Herz:
»Ich bitt' dich, sag' mir, ob sie sehr traurig war darüber oder erfreut, – – ob sie gut sein wird zu ihm?«
Hans brachte es nicht heraus.
Und welcher und inniger bat sie:
»Bitte, das eine sag' mir, dann will ich auch wirklich nichts mehr reden.«
»Von dem Kinde haben wir nicht gesprochen,« flüsterte er mehr, als daß er es aussprach.
Da war sie bestürzt:
»Aber sie weiß doch, daß sie es auch liebhaben muß,« fragte sie laut. »So lieb, daß es mich nicht entbehrt, – und daß er kränklich ist und so viel Gemüt hat, so sehr viel Gemüt – das alles weiß sie doch, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht, daß sie das weiß,« erwiderte Hans.
Herta schien vom Schlage getroffen, alles in ihr erstarrte.
»Was? Das weiß sie nicht?« rief sie mit schneidender Stimme. »Hans, du hast ihr das alles verheimlicht?« – Sie war ganz außer sich. – »Hör' ich denn recht? Ja, ja, es muß wohl so sein, ich bin ja noch bei Verstände, Hans, hörst du, bei ganz klarem Verstände bin ich, du, du schämst dich deines Kindes?«
Hans blieb ganz ruhig. Ihm war leicht, denn nun wußte sie alles.
»Aber, liebes Kind, ich kann doch nicht einem jungen Mädchen, – – na, das kannst du natürlich nicht begreifen, das versteh' ich ja vollkommen,« dabei zog er sie auf seinen Stuhl, was sie willenlos geschehen ließ, »also paß einmal auf, ich will dir das erklären: ich heirate das Mädchen, um uns alle aus diesen engen Verhältnissen herauszubringen. Ich habe doch schließlich auch den Ehrgeiz, vorwärts zu kommen und es im Leben zu etwas zu bringen, das ist doch nur natürlich, nicht wahr?«
Herta nickte nur; der Ausdruck ihres Gesichtes blieb unverändert.
»Na, siehst du,« fuhr er fort, »und da wäre es doch eine Sünde gegen uns alle, wenn ich die Gelegenheit – – nicht wahr? Zumal ich doch das Mädchen nicht liebe, und sieh mal, darum eben, mein' ich, daß wir uns vielleicht gar nicht zu trennen brauchen, daß der Junge das – wenigstens fürs erste – – überhaupt nicht zu erfahren brauchte, nicht wahr? Ich könnte zu dir kommen, vielleicht nicht alle Tage – aber doch –«
Herta zitterte vor Erregung, die sie nur noch schwach verbergen konnte. »Fahr' fort!« sagte sie mit eisiger Stimme.
»Und am Ende wirst du auch begreifen, daß ich einem jungen Mädchen von achtzehn Jahren keinen achtjährigen Jungen mit in die Ehe bringen kann.«
»Ich begreife alles, fahr' nur fort!« rief sie.
»Also … selbstredend würde ich ganz anders für euch sorgen als bisher, ihr würdet eine große, helle Wohnung haben, für den Jungen einen kleinen Garten …« er war nahe an sie herangetreten; er wollte den Arm um ihre Schultern legen, aber sie wich ihm aus, sie war zu Ende mit ihrer Beherrschung. Mit einem lauten Schrei des Ekels stieß sie ihn zurück:
»Pfui! Du!« rief sie. »Behalte das für dich! Alles, alles! Ich will nichts! Endlich also zeigst du mir, was ich dir bin, endlich! So also sieht es in dir aus! Das sind wir uns! Und so war es die ganzen langen Jahre hindurch!« Sie war ganz außer sich. »Und ich hatte mich als dein Weib betrachtet und den Jungen da drinnen hielt ich für unser Kind. – Mein armer, armer Junge!« schluchzte sie, »was hab' ich dir getan! – Mutter, Mutter, wie recht hattest du,« rief sie mit Tränen in der Stimme; und mit der letzten Kraft richtete sie sich hoch auf und drohte: »Tiefer aber bringst du mich nicht, und wenn ich dich noch tausendmal mehr liebte, jetzt setz' ich mich zur Wehr, tiefer nicht.«
Dann wankte sie zur Tür; aber sie war mit ihrer Kraft zu Ende, ihre Füße versagten, und sie stand gegen die Wand gestützt hoch aufgerichtet da und starrte ihn an.
Das alles hörte nebenan Erich, warf den Schlafrock über und stürzte ins Zimmer. Er erkannte sofort die Situation.
»Herr des Himmels! – Frau Herta!« Und er ging auf sie zu und stützte sie. »So kommen Sie zu sich! Beruhigen Sie sich doch; Sie sind ja ganz außer sich.«
Aber im selben Augenblick polterte es im Zimmer, in dem der kleine Heinz schlief. Schon ging die Tür, und im langen Hemdchen, ohne Strümpfe an den Füßen, trat der kleine Heinz herein, sah mit großen traurigen Augen, die in alle Tiefen träumten, seine Mutter an und warf sich dann mit einer Stimme, die laut jammerte und schluchzte und »Vater, aber Vater!« schrie, in Hans' Arme.
Herta, die noch immer ohne sich zu rühren an Erichs Seite stand, starrte entsetzt zu ihm hinüber.
»Sieh' doch,« stammelte sie, »er weint – zum ersten Male!« – und wies auf den Kleinen. –
Der kleine Heinz war, als die Mutter ihn beruhigt und ins Bett zurückgebracht hatte, nicht etwa eingeschlafen. Aufrecht saß er in seinem Bettchen, riß die dunklen Augen weit auf und wandte den Kopf nicht von der Tür. Deutlich hörte er auch jetzt jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde; wie die Mutter den Vater schalt und weinte; um eine Frau drehte es sich; – und um ihn. »Wenn der Junge nicht wäre,« hörte er die Mutter sagen, »aber der Junge lebt doch nun einmal!« Also war er im Wege. War womöglich die Ursache, aus der sich Vater und Mutter jetzt so erbittert stritten. Die großen Augen füllten sich mit Tränen; sie liefen über das blasse, schmale Gesicht, über das er alle Augenblicke mit den zarten Händen fuhr, als wenn er es trocknen wollte.
Was hatte er denn getan? überlegte er. Womit konnte er die Mutter nur so erzürnt haben, daß sie ihn umbringen wollte? – Er zitterte und fror und weinte noch immer. Aber der gute Vater würde es nicht zulassen; das hörte er deutlich heraus, wenn er unter seinem Schluchzen auch längst nicht mehr jedes Wort verstand. So böse hatte er die Mutter noch nie gesehen! Was sie nur hatte?
Jetzt wollte sie gehen und ihn mitnehmen. Mitten in der Nacht. Gewiß, um ihn zu töten, weil er ihr im Wege war. Er faltete die kleinen Händchen und betete: »Lieber Gott, beschütze mich, ich habe solche Angst. Amen!« Und siehe da! Das Gebet half. Deutlich hörte er, wie Onkel Erich jetzt erklärte, man solle den kleinen Heinz in seinem Bettchen lassen, und die Mutter solle sich beruhigen und bleiben, und wenn einer ginge, dann – – ja, was war das? – – dann sollte der Hans fort … er hörte er deutlich: Hans. Das war ja der Vater! – – »Lieber Gott! Nicht doch! Nicht doch!« flehte er immer fort; aber diesmal half es nichts. Denn er hörte genau, wie der Vater Abschied nahm und ging; und jetzt nahm er den Stock, öffnete die Korridortür und ging die Treppe hinab.
Heinz stand auf; zitternd und in Schweiß gebracht. Vater durfte nicht fort; er mußte ihn zurückholen; auf jeden Fall. Wenn er ihn bat, würde er bleiben; ganz gewiß. Auf den Zehen schlich er in dem dunklen Zimmer zum Balkon, öffnete mühsam die Tür, kletterte erst auf einen Stuhl, dann auf das Geländer, ach, wie lange das dauerte, und wie schwer es war! Aber wenn er oben war, dann wollte er ganz laut »Papa!« rufen; der würde es gewiß noch hören; auch wenn er längst schon vorüber war. Jetzt war er oben – – eben wollte er schreien – – da fiel er nach vorn über – – ein dumpfer Schlag, und er lag mit zerschmetterten Gliedern auf der menschenleeren Straße. –
Längst hatte das kleine Herz aufgehört zu schlagen, als Erich und Herta sich die Hände reichten und gute Freunde wurden. Noch einmal, ehe sie gegen Morgen, um zu schlafen, auf ihre Zimmer gingen, legte Herta ihr Ohr an ihres Jungen Tür und horchte; zufrieden lächelte sie dem Freunde zu.
»Es ist mäuschenstill; mein Liebling schläft!«
»Gott schütze ihn,« flüsterte Erich und nickte ihr zu. Dann gingen sie auseinander.
Den Schlaf des kleinen Heinz aber störte nichts mehr. Er lag da in der kalten Nacht in seinem leichten Hemdchen, und ein feiner Wind fegte die Blüten der Kastanien, die auf der anderen Seite der Straße wie Riesen in die Nacht ragten, über den Damm und bedeckte den kleinen Körper, der zarter und reiner als alle Blüten war.
Epilog.
Vier Wochen später stand Herta Bethge vor den Geschworenen.
Einer der Hauptzeugen war Dr. Hans Krämer.
Mit mehr als sieben Stimmen sprachen sie die Angeklagte schuldig des Totschlags unter Verweigerung mildernder Umstände.
Und das Gericht erkannte auf die höchste zulässige Strafe. Es begründete die Schärfe des Urteils mit der Hartnäckigkeit, mit der die Angeklagte trotz des Zuspruchs des Verhandlungsleiters bis zuletzt, statt ein offenes Geständnis abzulegen, die Tat, der sie überführt sei, geleugnet habe.