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Ach ja, ärmlich sah es bei Weißes aus. Das sogenannte Wohnzimmer verriet deutlich, daß es das einzige war. Und es ließ Schlüsse auf die übrigen Räume und auf die Verhältnisse der Bewohner zu, die besagten, daß beide alles andere als glänzend waren.
Und doch sah man es der jungen Frau Weiße an, daß sie in anderer Sphäre groß geworden war. Und wenn wirklich Not in diesem Hause herrschte, so hatte die Sorge jedenfalls noch keine Furchen in dies feine Gesicht gegraben, aus dem neben einem festen Willen Selbstbewußtsein und Ruhe sprach. Da war vor allem der leichte, federnde Gang, den jede Frau verliert, wenn Not das Gemüt drückt. Da war die schmale, weiße Hand, die man sich wohl vorstellen konnte, wie sie sich an weiche Schweden schmiegte oder über den Saffianeinband kostbarer Bücher strich, der man es aber ansah, daß sie nie schwere Arbeit getan hatte.
Frau Suse hatte sich ihr Glück selbst gezimmert. Ein Glück, das die feine Familie als Glück nicht gelten ließ und anfangs, als sie es noch nicht für ernst nahm, geschmacklos schalt, später, als es sich beständig zeigte, auf Entartung zurückführte, um es schließlich, als es die Form der Ehe annahm, eine Katastrophe zu nennen.
Suse, die elternlos war und bei ihren feinen Verwandten aufwuchs, schlug alle Partien aus, die Onkel und Tanten mit Rücksicht auf ihre Vermögenslosigkeit in Vorschlag brachten, und deren Quintessenz ohne Rücksicht auf Sympathie immer nur die Versorgung war. »Den Luxus,« sagten sie, »die Frage von anderen als rein praktischen Gesichtspunkten aus zu betrachten, kannst du dir nicht gestatten.«
Suse war anderer Ansicht und schenkte ihre Hand einem armen Künstler, an den sie ihr Herz verloren hatte.
»Renn in dein Unglück,« hatte die Tante gesagt. »Aber laß dir gesagt sein, daß du von der Stunde an, wo du die Frau dieses Pianisten bist' – und sie zog das Wort »Pianisten« in die Breite, als wenn es etwas unendlich Verächtliches wäre – »für uns aufgehört hast, zu existieren.«
Und der reiche Onkel hatte sie über seine Brillengläser hinweg schief angesehen und hinzugefügt:
»Wir hatten dir eine Mitgift zugedacht. Aber wir denken nicht daran, sie diesem Hungerleider in den Rachen zu werfen, damit er sich satt ißt.«
Suse empfand alles das wohl als Kränkung, aber an ihren Entschlüssen vermochte es nichts zu ändern. Sie heiratete Artur und trennte sich von der Familie, an die sie sich auch nicht wandte, als ihr Mann ein paar Jahre später erkrankte und beide durch den Ausfall der Konzerte und des Unterrichts Not litten.
Freilich, wie schlecht es um Artur stand, wußte sie nicht. Der Arzt, der sie von klein an kannte und trotz dem Boykott der Familie zu ihr kam, verschwieg es ihr solange wie möglich. Als aber das Leben des Kranken seiner Kunst entrückt war und er sich sagte, daß es nun in Gottes Hand lag, ein Wunder zu tun, hielt er es für seine Pflicht, zu reden und zu handeln.
Er legte seinen Arm um Suse und führte sie aus dem Zimmer des Kranken. Dann setzten sich beide, er nahm ihre Hand und sagte:
»Sie sind eine tapfere Frau …«
Weiter kam er nicht. Sie sah ihn an und erriet seine Gedanken. Sie senkte den Kopf und sagte:
»Sie haben keine Hoffnung mehr.«
»Man muß bis zum letzten Augenblick Hoffnung haben. Nur soll das Schicksal einen vorbereitet finden.«
Suse wußte nun, woran sie war.
Und wenn der Arzt ihr jetzt zusprach und sie erinnerte, wie mutig sie seiner Zeit ihren Gewohnheiten entsagt, auf allen Luxus verzichtet und ihren Willen gegen den Widerspruch der Familie durchgesetzt hätte, daß sie auch dies nun, komme es, wie es wolle, ertragen müsse – da wußte sie, daß sie nichts mehr zu hoffen hatte.
Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und fragte:
»Wird er noch viel leiden müssen?«
Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte:
»Kaum.«
Da atmete sie auf und sagte:
»Gott sei Dank!«
»Aber Sie müssen jetzt an sich denken, Frau Suse!« Sie sah ihn verständnislos an.
»An mich?« fragte sie.
»Wie viel Nächte lang sind Sie jetzt nicht aus den Kleidern gekommen?«
»Ich habe sie nicht gezählt.«
»Sie haben doch da so eine Art Stütze oder was es ist. Lassen Sie die heute Nacht …«
Sie sah ihn so entgeistert an, daß er nicht zu Ende sprach.
»Von mir wollen wir nicht sprechen,« sagte sie. »Ich bin gesund – leider!«
Danken Sie Gott, daß Sie es sind! Aber ich habe Sorge, daß Sie es nicht mehr lange bleiben, wenn das so weiter geht. Sie richten sich zugrunde, ohne ihm zu helfen.«
»Für wen soll ich weiterleben, wenn ich ihn verliere?«
»So fühlt jeder, wenn ein geliebter Mensch ihm stirbt. Im ersten Schmerz glaubt jeder, er werde es nicht verwinden. Aber die Natur hat vorgesorgt. Die Zeit heilt jeden, auch den tiefsten Schmerz.«
Suse hörte kaum, was er sagte. Ihre Gedanken waren bei dem Kranken.
»Sie sind jung und haben Ihr Leben noch vor sich,« sagte der Arzt. »Ich habe es daher für meine Pflicht gehalten, auch das Schlimmste ins Auge zu fassen und dafür zu sorgen, daß Sie im Falle einer Katastrophe nicht allein dastehn. Ihre Familie, die stets nur Ihr Bestes wollte, wird sich Ihrer annehmen.«
»Was?« fuhr Suse empört auf, »es ist Ihnen doch nicht etwa eingefallen …?«
»Doch, Frau Suse! Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Ihre Familie darüber aufzuklären, wie die Dinge hier leider stehen.«
»Das hätten Sie bleiben lassen sollen.«
»Man ist durchaus geneigt, Ihnen zu helfen.«
Frau Suse richtete sich auf und sagte stolz:
»Ich verzichte! Man hat sich zu Lebzeiten meines Mannes nicht um mich gekümmert. Jetzt danke ich für ihre Unterstützung. Ich helfe mir selbst.«
»Was wollen Sie anfangen?«
Frau Suse sah ihn streng an:
»Ist es jetzt Zeit an mich zu denken?« fragte sie. »Ich denke, wir haben jetzt andere Pflichten.«
»Wir tun, was in unsern Kräften steht.«
»Es ist nicht mehr als unsere Pflicht. – Und ich bitte Sie nun in aller Form, Herr Doktor, diesen Schritt, den Sie nie ohne meine Zustimmung hätten tun dürfen, rückgängig zu machen und meiner Familie zu sagen, daß ich auf ihre Teilnahme verzichte.«
»Glauben Sie mir, Sie tun Ihrer Familie unrecht.«
»Sie erlauben mir, daß ich darüber meine eigenen Gedanken habe.«
»Ihre Familie meint es in ihrer Art gut mit Ihnen.«
»Es tut mir leid, daß ich für diese Art kein Verständnis habe.«
»Sie sollten versuchen …«
»Ich bitte Sie, Herr Doktor,« unterbrach ihn Suse, »sparen Sie die Mühe. Es geht mir gegen das Gefühl, in dieser Stunde über mich zu sprechen. Auch ist mein Standpunkt, zu dem ich mich schwer genug durchgerungen habe, unerschütterlich.«
»Verschließen Sie sich nicht durch Ihren Starrsinn für alle Zeiten die Möglichkeit einer Rückkehr. Sie werden mit der Zeit ruhiger werden und anders denken.«
»Gut, daß Sie mich an diese Möglichkeit mahnen! Ich müßte mich verachten, wenn ich je anders denken sollte. Und nur der Gefahr zu entgehen, verlange ich von Ihnen, daß Sie zu meiner Familie gehen und ihr sagen, daß ich, wenn es denn wirklich dazu kommen soll, allein zu bleiben wünsche.«
Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte:
»Wie kann man nur so trotzig sein.«
»Wenn Sie Gefühl für das hätten, was ich durchgemacht habe, würden Sie mich nicht trotzig nennen. Aber Sie leben in einer anderen Welt. Darum muß es Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage: ich will allein sein! Wenn meine Familie, solange mein Mann am Leben ist, den Weg zu mir nicht findet – nachher, da setz' ich sie vor die Tür!«
Suse zitterte am ganzen Körper.
»Es wäre ja möglich, daß sie vorher …«
»Da kennen Sie sie schlecht. – Im übrigen, es ist nun genug! Sie haben Ihre Kranken und ich den Meinen.«
Sie verbeugte sich kurz und verschwand durch die Tür, durch die sie vor wenigen Minuten mit ihm getreten war.
Der Arzt, der diese Art der Behandlung nicht gewöhnt war, stand erst eine Weile verdutzt und sah ihr nach, dann schüttelte er den Kopf und sagte vor sich hin:
»Unbegreiflich! Sie hatte doch eine gute Erziehung.« Und weiter dachte er, sprach es aber nicht aus: Freilich, in dem Milieu, da ist es kein Wunder.
Dann stäubte er mit den spitzen Fingern seinen Rock ab, nahm behutsam den Zylinder vom Riegel und gab sich Mühe, dabei nicht Weißes Hut, der schlicht und bescheiden daneben hing, zu berühren. Er warf schnell noch einen Blick zur Tür, da er durchaus nicht fassen konnte, daß Frau Suse ihn ohne ein Wort des Dankes gehen ließ, und verschwand dann ohne jeden weiteren Gedanken für den Kranken.
Amalie, die Stütze, die treue Seele, die für wenig Geld aber gute Behandlung bei Weißes diente, kam mit verweinten Augen schwer und breit aus Weißes Zimmer. Sie trocknete erst mit der blauen Schürze die Tränen, die ihr in den roten Augen standen, sah sich um, suchte den Arzt, schob sich zum Kleiderhaken, sah, daß der Zylinder fort war und stampfte in beschleunigtem Tempo aus dem Zimmer.
Sie ließ die Flurtür offen, beugte sich über das hohe Treppengeländer und rief alarmierend:
»Herr Doktor! Herr Doktor!«
»Was ist denn?« klang es unfreundlich aus der Tiefe.
»Herjott, nu is er schon unten,« sagte sie vor sich hin und rief dann wieder aus Leibeskräften: »Ich soll Ihnen ja in' Überzieher helfen.«
»Nicht mehr nötig!« klang es zurück.
»Wann kommen Sie denn wieder?«
»Um acht Uhr,« rief der Arzt, ohne stehen zu bleiben oder sich auch nur umzusehen.
Amalie schüttelte den Kopf und troddelte in die Wohnstube zurück:
»Wenn's dann man nich schon zu spät ist,« sagte sie halblaut, zog die Vorhänge vor die Fenster, zündete die Lampe an, öffnete behutsam die Tür zu Weißes Zimmer und verschwand.
Nach einer Weile drückte von außen jemand die Klinke der Flurtür herunter. Sacht glitt die Tür ins Zimmer, auf der Klinke lag die fein behandschuhte Hand eines Mannes. Ein Schatten fiel auf die hölzerne Diele, dann sah man einen Arm, dem ein Kopf folgte, der Kopf eines Mannes, der ernst, würdevoll, mit weißem Spitzbart, einen goldenen Kneifer auf der breiten Nase und einen fein gebügelten Zylinder auf dem Kopfe ins Zimmer sah. Er streckte den Hals wie ein Schwan nach vorn, ließ die Klinke los, trat einen Schritt ins Zimmer, blieb dann stehen, sah sich nach rechts, nach links um, drehte sich auf dem Absatz, gab zur Tür hin ein Zeichen, auf das hin zwei elegant gekleidete ältere Damen und ein Herr, der, wenn möglich, noch würdiger als der Erste war, ins Zimmer schwebten. Sie setzten die Füße kaum auf und blieben dann in gleicher Entfernung hintereinander wie festgewurzelt stehen.
Sie hielten ängstlich Abstand von jedem Stück Möbel, als scheuten sie die Berührung, und sahen mit spitzen Nasen zur Decke, zu den Wänden, zu den Schränken, Tischen und Stühlen.
Die erste Dame schnüffelte und sagte:
»Sonderbar riecht das bei solchen Leuten.« Dann hielt sie den Atem an.
Jetzt schnüffelten auch die Herren, und die andere Dame führte ihr Spitzentuch vor die Nase und sagte:
»Man lüftet nicht, wenn man an Heizung spart.«
»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte der Eine.
Sie schüttelten alle drei die Köpfe und sagten:
»Nein.«
Aber sie waren sich stillschweigend einig: etwas mußte geschehen.
Da senkte die Dame, die ihr Taschentuch schon in der Hand hatte, den Kopf, holte erst ein paar Male tief Atem und fing dann laut an, zu schluchzen.
Der Herr vor ihr drehte sich um und sagte:
»Ich bitt' dich, Ida, du hast den Mann ja gar nicht gekannt.«
Die erste Dame nickte und sagte:
»Und dann lebt er ja noch.«
Auch der andere Herr stimmte bei und meinte:
»Das hat man in diesem Falle wirklich nicht nötig,« worauf die erste Dame ergänzend sagte:
»Wenigstens nicht, solange wir unter uns sind.«
Aber die Dame war nun einmal im Schluchzen. Und da der Herr vorn sagte:
»Es schickt sich nicht einmal«, sie aber ihre Tränen nicht zum Stehen bringen konnte, so klagte sie laut:
»Das ist es ja garnicht!«
»Was denn?« fragten die Andern.
»Ich weine ja aus Schmerz, daß unsere Nichte Suse in einem solchen Milieu lebt.«
Da nickte der eine Herr mit dem Kopf und sagte:
»Wenn man bedenkt, wie sie es von uns her gewöhnt war!«
»Also, was soll geschehen?«
»Ich meine,« erwiderte Ida – »wir sollten versuchen, sie wieder zu uns emporzuziehen.«
Die andre stutzte und fragte:
»Aber doch erst nach Eintritt der Katastrophe.«
Worauf alle drei sie beruhigten und wie aus einem Munde sagten:
»Selbstverständlich.«
»Schließlich ist sie unseres Bruders Kind,« sagte der vordere Herr zu der hinteren Dame. Und die, grade im Begriff, ihrem Tränenstrom Einhalt zu gebieten, sah sich genötigt, von neuem einzusetzen:
»Wenn das unser Bruder Bernhard noch erlebt hätte!« rief sie schluchzend.
Der Herr erwiderte:
»Wie gut, daß es ihm erspart geblieben ist.«
Da seufzte auch die vordere Dame und sagte:
»Nun lastet alles auf uns.«
»Wir werden ihr, sobald hier alles vorbei ist, eine Gouvernante mieten und sie ein paar Monate lang auf Reisen schicken, damit sie sich erst mal wieder an unsere gesellschaftliche Atmosphäre gewöhnt.«
»Und den Armeleutegeruch los wird,« ergänzte Ida.
»So was geht schwer heraus,« meinte Emil, »wenn es erst einmal in einem drin sitzt.«
Bob nickte, schnüffelte im Zimmer umher und sagte:
»Und trotzdem wollen wir das Rettungswerk an seinem Kinde vollziehen.«
Sie setzten feierliche Mienen auf und gelobten es sich in die Hände.
Nach einer Weile sagte die Dame, die so viel geweint hatte:
»Ich glaube doch, ich werde mich setzen müssen.«
Die andern sahen zu den Sesseln, verzogen die Gesichter und erwiderten:
»Wenn du meinst.«
Die Herren zogen ein paar schmächtige Rohrstühle an den Tisch, die Damen fuhren mit ihren Spitzentüchern über Sitz und Lehne, obschon die peinlich sauber waren. Dann setzten sich alle gleichzeitig auf die äußersten Ränder der Stühle, so daß es den Eindruck machte, als wenn sie in der Luft schwebten und jeden Augenblick nach vorn überkippen würden.
»Hier kann doch niemand herein sehen?« fragte Ida und wies aus das Fenster, das gegenüber lag.
»Das ist kaum möglich,« sagte ihr Mann, stand auf, ging behutsam zum Fenster, schloß es und meinte: »Trotzdem, man kann in solchen Situationen garnicht vorsichtig genug sein.«
Plötzlich wandten sich alle Köpfe wie auf ein Zeichen zur Flurtür. Draußen knarrten die Stufen der Holztreppe laut unter schweren Tritten.
»Das fehlte uns,« sagte Emil.
»Was?« fragten die andern.
»Daß jemand uns hier sähe.«
Die Schritte wurden lauter, kamen näher.
»Es sind mehrere,« sagte Emil.
»Am Ende …« platzte der andere heraus, besann sich und brach ab.
»Was meinst du, Bob?« fragte seine Frau; das Gleiche fragten die Blicke der beiden andern.
»Den breiten, schweren Schritten nach,« begann Bob wieder – »aber das ist ja Unsinn: er lebt ja noch.«
»Ach so,« erwiderte Emil, »du meinst, daß man ihn holen kommt.«
Sie zogen die Tücher heraus und weinten.
»Unsinn!« schalt sie Bob. »Ihr wißt ja garnicht. So wartet doch ab.«
Die Tür ging auf, und wie Schatten huschten nach einander in ärmlicher Kleidung, scheu und abgerissen, ein paar Frauen und Männer in die Stube. Als sie Bob und Emil und deren Damen in reichen Pelzen, würdevoll um den Tisch herum sitzen sahen, prallten sie zurück und drückten sich an die gegenüberliegende Wand. Da ballten sie sich zu einem Knäuel zusammen, krochen förmlich ineinander hinein, tuschelten miteinander, wandten sich dann dem Tisch mit den feinen Leuten zu und verbeugten sich. Ja, einer von ihnen, den eine hagere, abgehärmte Frau fortgesetzt anstieß, trat sogar einen Schritt vor und stotterte:
»Entschuldigen Sie, wir sind nämlich seine Familie.«
»Anjenehm,« sagte Bob, und Emil flüsterte den Damen zu:
»Ich dacht' es mir.«
»Wie verhält man sich da?« fragte Bobs Frau, und ihre Schwägerin erwiderte:
»Garnicht! – Man ignoriert.«
Die ärmlichen Verwandten spürten den Abfall, krochen wieder in einander hinein und tuschelten. Auch die Feinen am Tisch rückten die Stühle näher aneinander, und Bob sagte:
»Sehr unangenehm.«
»Wenn man den Leuten anderswo wieder begegnet …« sagte Bobs Frau, und ihr Mann führte den Satz zu Ende und sagte:
»... kennt man sie nicht.« –
Die an der Wand machten besorgte Gesichter und sahen bekümmert zur Tür, hinter der Weiße litt.
»Am Ende bringt ihn der Arzt doch noch durch,« sagte eine alte Frau mit weißem Haar und drückte einem abgehärmten Greise, der neben ihr stand und ihr Mann zu sein schien, die Hand.
»Gott geb's!« sagte der und schüttelte den Kopf. »Die arme Suse! Was macht sie alles durch mit unserem Jungen.«
»War er nicht gut zu ihr?« erwiderte die Alte. »Tat er nicht, was er ihr an den Augen absehen konnte?«
Der Alte drückte sich eine Träne aus dem Auge, nickte mit dem Kopf und sagte:
»Wie die Turteltauben haben sie gelebt.«
»Und werden sie weiterleben,« ermutigte die Alte.
Aber die Verzweiflung in seinem Gesicht sagte, daß er nicht daran glaubte.
»Der arme Junge,« sagte die weiße Frau mehr vor sich hin, und der Alte kehrte ihr den Rücken, weil er weinte und sie es nicht sehen sollte.
Die Flurtür schob sich wieder ins Zimmer, und herein wippte ein junger Geck, groß, schlank, in Trauer, mit hohem Hut, schwarzen Handschuhen und einem großen Kranz über dem Arm.
Er ging auf die feine Gesellschaft links zu, beugte als Gruß den Kopf ein wenig nach vorn und sagte leise:
»Tag!«
Die vier Feinen schüttelten den Kopf und sagten nichts.
Der Geck fragte:
»Was is?«
»Voreilig wie immer,« sagte Ida.
Bob stand auf und trat vor den Geck, damit die drüben den Kranz nicht sehen sollten. Dann flüsterte er ihm zu:
»Er lebt ja noch.«
Der Geck veränderte keine Miene, schob vorsichtig den Kranz hinter die Lehne eines Sessels, so daß nur ein paar Blumen und das Ende der Schleife hervorsahen und sagte:
»Ja, zu was sind wir dann hier?«
Bob erwiderte:
»Wir erwarten es jeden Augenblick.«
Der Geck setzte sich und sagte befriedigt:
»Na also.«
»Immerhin,« meinte Bobs Frau, die seine Mutter war, »man hätte warten können.«
Der Geck schob den Kranz unter einen Stuhl, nestelte daran herum und dachte: Er hält sich.
»Zieh die schwarzen Handschuhe aus,« sagte Bob.
Der Geck besah seine Hände und zog bedächtig die schwarzen Glacés ab; dann hauchte er die Fingernägel an und rieb sie an die Handflächen.
»Laß das!« sagte seine Mutter.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, die in Weißes Krankenzimmer führte. Alle wandten die Köpfe und standen auf. Die beiden Damen zogen ihre Spitzentücher aus den goldenen Taschen. Emil trat einen Schritt vor.
Aber es kam nicht Suse, die sie erwartet hatten, sondern die Wärterin, Tränen in den Augen.
Emil trat wieder einen Schritt zurück.
»Es scheint aus zu sein,« flüsterte Bob.
Der Geck bückte sich und zog an dem Kranz.
Die einfachen Leute dachten jetzt nicht an die andern; sie bestürmten die Frau und fragten nach dem Kranken.
Die schluchzte laut auf und sagte:
»Es ist keine Hoffnung mehr.«
Die weiße Frau drückte den Alten an sich. Der starrte sie an, hob langsam den Arm und wies auf die Tür.
»Es darf niemand zu ihm,« sagte die Wärterin.
Mühsam beugte der Alte den Arm und wies auf sich: »Auch ich nicht?«
»Nein!« erwiderte sie.
Hand in Hand schlürften die beiden Alten zur Wand und setzten sich auf ein altes Sofa; Hand in Hand saßen sie da und sagten nichts.
Der Geck wandte den Kopf und sah sie an.
Bob zog die Stirn in Falten und sagte flüsternd zu seiner Familie:
»Wenn es so steht, könnte man mit Rücksicht auf Suse ein Übriges tun?«
»Was?« fragten die andern.
Bob wies auf die Leute an der Wand und sagte:
»Für ein paar Augenblicke eine Verbindung mit ihnen herstellen.«
Die Damen nickten.
Bob trat an die andern heran. Er bewegte den Kopf und sagte:
»Sie gestatten.«
Die wandten sich zu ihm um.
»Geheimrat v. Kolb,« sagte er leise.
Sie sahen ihn an. Er machte eine kurze Bewegung zu einer der Damen und sagte:
»Meine Frau.«
Dann sagte er weiter:
»Herr und Frau Geheimrat Stock, Herr v. Kolb, Regierungsreferendar, mein Sohn.«
Die an der Wand waren verblüfft. Sie sagten nichts, machten nur eine eckige Bewegung und sperrten die Münder auf. Nur ein blasser, junger Mann, der schon zuvor wiederholt verstohlen zu dem Geck hinübergeschielt und sich dann regelmäßig den viel zu engen und viel zu kurzen Rock zurechtgeschoben hatte, verbeugte sich förmlich und sagte: »Gehr, Franz Gehr, Kontorist.«
Bob, der noch einen Schritt näher an die Leute herangetreten war, sagte:
»Uns führt ja wohl die gleiche Ursache hier zusammen.«
Er sprach so laut, daß die beiden Alten ängstlich zur Tür sahen, hinter der ihr Sohn lag.
Die andern sahen ihn an und nickten, und Franz Gehr, der Kontorist, machte sogar den Mund auf und erwiderte:
»Ja!«
»Wir hatten zwar keine Gelegenheit,« fuhr Bob fort, »dem Kranken zu seinen Lebzeiten näher zu treten …«
Wieder nickten die andern. Und die Damen, Emil und der Geck traten näher an Bob heran. – »Aber wir bedauern aufrichtig … denn, wenn man sich auch nicht kannte, schließlich wußte man doch, wer man war.«
Seine Verwandten nickten zustimmend und fanden, daß seine Worte der Situation angemessen waren. Aber die andern verstanden nicht recht, was er eigentlich wollte.
Es entstand eine Pause, die peinlich war. Und die Situation wurde dadurch nicht besser, daß Emils Frau, nur um etwas zu sagen, erklärte:
»Es ist ja immer eine traurige Sache das Sterben – überhaupt, wenn es jemanden trifft, der einem nahe stand.«
Die Frau von Bob, die auch etwas sagen wollte, der aber nichts einfiel, führte ihr Spitzentuch vor die Augen und weinte.
Ihr Mann stieß sie an und flüsterte ihr zu:
»Laß das! – Uns stand er nicht nahe.« – Dann wandte er sich an die andern und sagte:
»Er war ja wohl nicht unbegabt und ganz tüchtig in seinem Fache.«
Da hob die weiße Frau, die noch immer Hand in Hand mit dem Alten auf dem Sofa saß, das vergrämte Gesicht, sah ihm fest in die Augen und sagte:
»Was wissen denn Sie, mein Herr, von meinem Sohne?«
Herr Emil schloß unwillkürlich die Augen und wich einen Schritt zurück. Aber jetzt sah auch der Alte auf und sagte:
»So ein Talent und so ein Fleiß und so eine Gesinnung, wie das mein Sohn hat, da können Sie lange suchen, bis daß Sie das wiederfinden.«
Und eine alte Frau, die neben dem Alten stand und schon während er das alles sagte, lebhaft mit dem Kopfe nickte, beteuerte:
»Überhaupt: Das ist ein Mann! Bei dem, da hat eine Frau den Himmel auf Erden!«
»Das hat sie,« bestätigte eine dritte.
Die geheimrätlichen Familien, die längst die Annäherung bereuten, taten überrascht und Emil sagte:
»Das wußten wir garnicht.«
»Davon hatten wir bis heute ja keine Ahnung,« bestätigte Bob, und seine Frau schüttelte den Kopf und meinte:
»Wie schade, daß man das erst heute erfährt.«
»Da hätte man ihn ja ruhig in die Familie aufnehmen können.«
»Aber wer konnte das wissen?«
»Wir würden uns ja gern ihm gegenüber berichtigen.«
»Jedenfalls werden wir an Suse alles gut machen.«
Da hob die weiße Frau noch einmal den Kopf, sah sie noch einmal aus ihren vergrämten Augen an und sagte:
» Dann wird es dazu wohl zu spät sein.«
In diesem Augenblick kam Suse aus dem Zimmer ihres Mannes. Beide Parteien standen jetzt beieinander.
»Ihr?« sagte sie erstaunt, und sah fragend zu ihren Verwandten auf.
Geheimrat Bob trat auf sie zu und reichte ihr die Hand.
»Liebe Suse,« sagte er feierlich. »Wir sind gekommen, um dir in deiner Lage eine Stütze zu sein. Du hast jetzt Menschen nötig, die dir zur Seite stehen. Wenn aber jemand mit dir fühlt, so ist es deine Familie.«
»Ihr?« fragte sie und fuhr sich, als wenn sie sich erst zurechtfinden müsse, mit der Hand über die Stirn.
»Ja wir,« bestätigte Emil. »Denn wir haben bis heute ja nicht gewußt, was für einen braven, guten und tüchtigen Mann du hast.«
Einen Augenblick lang schien es, als wenn Suse ihren Kummer vergäße; sie sah stolz zu ihrem Onkel auf und sagte:
»Ja! Das alles ist er!« – Aber gleich darauf ließ sie auch schon den Kopf sinken und sagte resigniert:
»Warum jetzt?«
»Wie meinst du das?« fragte Bob.
»Wo es doch zu spät ist,« erwiderte Suse.
»Ja, wie konnten wir wissen?« sagte die Tante, und Bob beteuerte:
»Nicht eine Ahnung hatten wir.«
»Ich habe euch geschrieben.«
Die feine Verwandtschaft war verlegen.
»Meine Briefe kamen uneröffnet zurück.«
»Gewiß! Wir hätten uns die Mühe geben sollen, zu prüfen,« sagte Bob, und seine Frau meinte:
»Es kam so viel zusammen damals.«
»Inzwischen aber habt ihr bewiesen,« sagte Ida und gab sich Mühe, feierlich zu scheinen – »daß Verlaß auf euch ist. Ihr habt euch bewährt, und wir müßten kein verwandtschaftliches Gefühl haben, wenn wir uns darüber nicht freuen sollten.«
Diese Worte machten auf alle einen guten Eindruck. Auch Suse taten sie wohl, obschon sie immer wieder dachte: es kommt zu spät.
»Und darum«, fuhr Emil fort und streckte Suse die Hand hin, »wollen wir von heute ab dich und deinen Mann als zu uns gehörig in unsere Familie aufnehmen und alles tun, um ihn und dich vergessen zu machen, daß wir uns Jahre hindurch fremd gegenüberstanden.«
Während er das sagte, drückte er ihr kräftig die Hand; und der Reihe nach taten es die beiden Damen, Bob und der junge Geck; und alle gaben sich Mühe, in ihren Gesichtsausdruck Teilnahme und Rührung zu legen.
In Suse aber, die zerschlagen und kaum fähig war, zu denken, rührte sich nichts. Sie erwiderte kaum den Druck der Hände; sie war mit ihren Gedanken bei ihrem Manne.
Die Tür ging auf. Der Arzt kam aus dem Krankenzimmer.
In höchster Spannung waren aller Blicke auf ihn gerichtet. Die Frage, die allen auf der Zunge lag, wagte keiner zu stellen.
Der Arzt tat einen Schritt auf Suse zu. Er sah sie fest an, nahm ihre Hand und sagte:
»Die Krise ist überwunden. Vier Wochen, und er ist wieder der Alte.«
Suse vergaß alles um sich herum und stürzte mit einem Freudenschrei aus dem Zimmer.
Der Alte warf sich der Frau mit dem weißen, gescheitelten Haar an den Hals und schluchzte laut:
»Unser Junge!«
Die einfachen Leute standen mit glänzenden Augen um die beiden herum, nickten ihnen zu und sagten:
»Das ist einmal ein Glück.«
»Da fängt man wieder an, zu glauben.«
»Nun wird alles gut.«
Sie drückten der Reihe nach den beiden Alten die Hände. Der Alte strahlte über das ganze Gesicht und sagte:
»Ja, ja, die Suse! Wenn jemand einen so lieb hat, da stirbt's sich nicht so leicht.«
Und das Aussehen dieser Leute hatte die Freude sichtlich verändert. Wenn sie bisher in der Not ihres Herzens klein und kümmerlich schienen und durch den Schmerz, der sie einte, einander ähnelten, daß man auf hundert Schritte erkannte, sie gehörten zusammen, so gewann nun jeder sein besonderes Aussehen wieder. Sie waren nun, da die große Angst von ihnen genommen, freier und bewußter, drückten sich nicht mehr an den Wänden, reckten sich, wuchsen empor und fühlten sich nicht mehr wie bisher Suses feinen Verwandten gegenüber beengt und bedrückt.
Aber auch bei den andern vollzog sich jetzt eine Wandlung. Sie rückten sich zurecht und wurden steif, als wenn man sie in einen Schraubstock spannte. Und auf aller Gesichter stand für jeden, der lesen konnte, geschrieben: ein netter Reinfall.
»Das hat man nun von seiner Güte,« ergänzte die Tante.
»Was tun wir jetzt?« fragte Bob.
Sie standen da mit verkniffenen Gesichtern und wußten sich keinen Rat.
»Schade um Suse,« dachte Bobs Frau, und ihre Schwägerin, die wieder Farbe bekam und deren Stirn sich wieder glättete, dachte:
»Ganz gut. Man hätte am Ende nur Scherereien gehabt.«
Der junge Geck schob die schwarzen Handschuhe tief in den Hosenboden und verdeckte den Kranz, der noch immer unter seinem Stuhl lag, mit dem herabhängenden Ende der Tischdecke.
Da wirbelte Suse mit vor Freude roten Wangen ins Zimmer, warf sich dem steifen Emil in die Arme und rief froh aus vollem Herzen:
»Onkel!«
Emil stand wie eine Fahnenstange, hob wohl die Arme, schloß sie aber nicht. Und da er fühlte, daß er etwas sagen mußte, so bewegte er den Kopf ein wenig und sagte:
»Gewiß!« – Und nach einer Weile, während der Suse noch immer an seinem Halse lag und vor Freude laut schluchzte, fuhr er fort: »Das kam ja wohl allen unerwartet.«
»Du hattest allein den Glauben!« sagte Suse zärtlich.
»Ich?« fragte Emil.
»Ja! Du sagtest ja, du wolltest ihn und mich von heute ab als zur Familie gehörig wieder bei euch aufnehmen.«
Emil erwiderte nichts.
»Ich habe es ihm erzählt!« fuhr Suse fort, die in ihrer Freude garnicht die veränderte Stimmung merkte. »Er wollte es erst garnicht glauben.« – Sie nahm ihn fast übermütig bei der Hand und sagte: »Nun aber komm und sage es ihm selbst.«
Onkel Emil stand wie eine Mauer. Zum Überfluß nahm ihn seine Frau noch bei der Hand und hielt ihn fest.
»Nun?« fragte Suse erstaunt und sah jetzt erst die kalten und verlegenen Gesichter.
»Das muß doch nicht gleich sein,« sagte Emil, und seine Frau meinte:
»So etwas überstürzt man doch nicht.«
»Das will doch überlegt sein,« sagte Bob.
»Ich meine auch,« trat seine Frau ihm bei, und Emil, dessen Hand Suse noch immer hielt, sagte:
»Nun, wo wir doch unseren guten Willen gezeigt haben.«
Da ließ Suse langsam Emils Hand los, sah ganz entsetzt erst ihn, dann der Reihe nach die andern an, sperrte Mund und Augen weit auf, wie ein Blitz kam ihr die Erleuchtung, und sie rief laut:
»Ach so!«
Die Herren senkten den Kopf ein wenig; die Damen schlossen die Augen. Und Suse fuhr mit lauter Stimme fort:
»Ich verstehe!«
Dann empfand sie einen üblen Geschmack auf der Zunge und ihr Gesicht bekam einen unendlich verächtlichen Ausdruck.
Emil machte eine halbe Wendung zur Tür. Die andern folgten dem Beispiel. Der Geck zog behutsam den Kranz unter dem Stuhl hervor. Und während sie sich unter Emils Führung langsam zur Tür schoben, ballte die alte Frau mit dem weißen Haar die Faust und sagte:
»Bande!«
Da stutzten sie, blieben stehen, sahen die Alte von der Seite an, zogen die Schultern hoch, sagten verächtlich: »Pe!« – und setzten sich wieder in Bewegung.
Der Alte aber trat dicht an Suse heran. Er nahm ihre Hand, wies zur Tür und fragte gütig:
»Kränkt's dich?«
» Die mich?« erwiderte Suse und schüttelte den Kopf.
Da öffnete sich die gegenüberliegende Tür. Der Geck ging eben, den Kranz im Arm, als Letzter zur Tür hinaus. Ein Teil des Kranzes war noch im Zimmer.
Über die Schwelle trat der Kranke. Bleich und schwach; aber mit dem Glanz des Genesenden im Auge.
Suse wandte sich um. Ihr Gesicht verklärte sich. Der Kranke breitete die Arme nach ihr aus. Sie warf sich ihm an den Hals und rief: