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Samo Lustigs Kindheit war nicht reich an Sonne. Sein Vater hatte ein Viktualiengeschäft am Markt und kümmerte sich nicht viel um die Kinder. Es waren deren aber auch zu viele. Und jedes Jahr, so um Ostern herum, kam ein neues.
Samo war das sechste. Genau so häßlich wie die fünf andern. Und bei keinem wußte man recht, ob es dem Vater ähnlicher sah oder der Mutter. Jedes hatte die schmale Stirn und die roten Augen des Vaters. Aber auch die aufgeworfenen Lippen, der gelbe Teint und der schwere schleppende Gang der Mutter blieb keinem erspart.
Samo war der typischste. Bei ihm waren die Merkmale der Eltern stärker ausgeprägt als bei allen andern. Aber erst als er eingeschult wurde, bekam er das so recht zu fühlen. Die Mitschüler verhöhnten ihn und schlossen ihn von den gemeinsamen Spielen aus. Und die kleinen Mädchen nebenan, die nur eine mannshohe Mauer von der Schule der Knaben trennte, stießen sich an, lachten und tuschelten miteinander, wenn sie ihn sahen.
Samo empfand das alles und litt darunter. Er wurde verbittert und schloß sich ab und erschien so noch unfreundlicher als er an sich schon war. Die Folge war, daß die Stimmung gegen ihn jetzt gradezu etwas Feindliches bekam.
Im Religionsunterricht, an dem Samo nicht teilnahm, lehrte man die Kinder die Nottaufe. Danach war die Vornahme des Taufakts ein Privileg der Geistlichkeit, und nur, wenn jemand in Not war, durfte ein Laie die Taufe vollziehen.
Samos Kameraden zogen die Nutzanwendung. Sie suchten, wie so oft, Streit mit Samo und schleppten ihn, als er sich wehrte, die Treppe hinunter, über den Schulhof zum Brunnen. Während vier Kameraden ihn hielten, pumpten zwei andere aus Leibeskräften und ließen das kalte Wasser in dicken Strahlen über den wehrlosen Samo fluten.
Samo schrie und schlug um sich. Aber die Übermacht war zu groß. Er gab den Widerstand auf, schloß die Augen, stellte sich ohnmächtig und gab keinen Laut mehr von sich.
» Bist du in Not?« fragte Dietrich v. Trolz, der größte und stärkste von den Kameraden.
Samo schwieg und rührte sich nicht.
»Ob du in Not bist?« wiederholte Dietrich. »Sonst nehmen wir den Schlauch zu Hilfe.«
Samo wußte, was das hieß. Seine Augen standen jetzt schlitzweit offen, und er sah, wie ein paar Kameraden sich mühten, den schweren Gummischlauch, mit dem der Pedell den Hof, die Mauer und die Bäume sprengte, heranzuschaffen.
»Ich bin in Not!« jammerte Samo. »In höchster Not.«
»Dann ist alles in Ordnung,« erwiderte Dietrich. Auf sein Zeichen hin verlangsamten die Knaben am Brunnen das Tempo und das Wasser lief nur noch in dünnen Strähnen über den aufgeweichten Samo. Dann richteten sie ihn auf, Dietrich trat an ihn heran und vollzog an ihm die Taufe. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.
Der kleine Samo riß seine letzten Kräfte zusammen und schlug wie rasend um sich.
»Haltet ihn fest!« kommandierte Dietrich.
Die Faust eines Knaben traf Samo mitten ins Gesicht. Ein Zahn flog ihm heraus.
»Er ist in Not,« schrien alle, und der Akt, dessen Berechtigung und Gültigkeit keinem zweifelhaft war, nahm seinen Fortgang.
Samo schlich heulend und patschnaß durch die Straßen nach Haus.
»Allmächtiger!« rief die Mutter, die vor der Haustür stand, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Samochen, mein Samochen, was haben sie mit dir gemacht.«
Der alte Lustig trat aus seinem Laden. Auch er warf die Arme hoch und rief:
»Schlingel!«
Samo log erst und behauptete, er sei ins Wasser gefallen. Aber da es von der Schule bis zum Markt gar kein Wasser gab, in das Samochen hätte hineinfallen können, so drohte der alte Lustig mit Prügeln, falls er nicht auf der Stelle die Wahrheit sagte und gestand.
Und Samo gestand, daß Dietrich v. Trolz ihn unter Assistenz seiner Kameraden gewaltsam getauft habe.
Samos Eltern trauten anfangs ihren Ohren nicht.
»Wir wollen den Jungen erst trocken legen,« riet die Mutter. »Er phantasiert, scheint's.«
Aber auch als Samo warmgerieben und trocken war, eine Tasse heiße Milch im Magen hatte und in trockenen Kleidern steckte, blieb er immer noch heulend dabei, daß man die Taufe an ihm vollzogen habe.
Samos Eltern tobten. Sie nahmen ihn unter den Arm, ließen die Ladentür offen stehn und liefen mit ihm zum Direktor.
Der alte Lustig wütete gegen die Täufer, die sein Kind geschändet hätten. Aber Samos Mutter, obschon auch sie eine gute Jüdin war, wies mit ihren roten Händen immer wieder auf die Lücke vorn in Samos Zahnen und rief:
»Mein schönes Kind! Sie haben dich entstellt für dein ganzes Leben.«
Das Lehrerkollegium trat zusammen. Die Taufe wurde für nichtig erklärt, der Makel des Proselyten von Samo genommen. Dietrich v. Trotz erhielt das consilium abeundi, das später durch die Vermittlung einflußreicher Verwandter in zwei Stunden Karzer umgewandelt wurde. Außerdem überbrachte der Pedell Dietrichs Eltern einen Brief des Kollegiums. Darin war zum Ausdruck gebracht, daß die Zahlung eines Schmerzensgelds an Samos Eltern am Platze sei.
Von dem Schmerzensgeld kauften sich Lustigs ein blitzblankes Mahagonischlafzimmer, das seit drei Monaten beim Möbelhändler Marcus im Fenster stand und seitdem die stille Sehnsucht der Frau Lustig war. Auf die Weise hatte nun jedes der Kinder sein eignes Bett.
»Siehst du, Samochen,« sagte Frau Lustig zu ihrem Sohne und zeigte ihm die neuen Möbel – »das haben wir dir zu danken.«
Und der Viktualienhändler kniff die Augen zusammen und meinte:
»Ich sag' dir, Rosa, an dem Jungen werden wir noch mal unsere Freude haben.« –
Ein paar Tage später hielt vor dem Viktualienladen ein blaulackierter Wagen mit zwei dunkelbraunen Pferden. Ein vornehmer Herr stieg aus, trat in den Laden und stellte sich vor:
»v. Trolz. Ich komme, um mir Ihren Sohn zu holen. Ich will ihm den Zahn ersetzen lassen. Und damit Sie wissen, wie ich darüber denke: den Zahn zahlt mein Sohn Dietrich von seinem ersparten Taschengeld.«
Lustigs verbeugten sich erst ein paar Male vor Herrn v. Trolz, dann riefen sie stolz und strahlend:
»Samochen, der Herr v. Trolz ist da! Du sollst einen neuen Zahn bekommen.«
Und Samo paddelte mit seinen krummen Beinen nach vorn und ließ sich beglückt in den schönen Wagen heben. Lustigs traten vor die Tür und sahen ihm nach.
»Ich sag' dir,« wiederholte der Alte stolz – »aus dem Jungen wird etwas.« –
Samo saß neben Herrn v. Trolz in dem eleganten Wagen mit den dunkelbraunen Pferden. Ihm war zumute wie dem Königssohne, der unerkannt bei fremden Leuten aufwuchs; bis man ihn eines Tages fand und in goldenem Wagen auf das Schloß seiner Väter führte.
Samo hatte Phantasie und stieß sich nicht daran, daß der Wagen, in dem er saß, nicht von Gold war. Auch daß es sich nicht um eine Krone, sondern nur um einen neuen Zahn handelte, vermochte sein Glücksgefühl nicht herabzustimmen. Er sah nicht ohne Verachtung auf die Leute, die zu Fuß auf der Straße gingen, und war selig, wenn sie an einer Kreuzung stehen bleiben und den Wagen vorüberlassen mußten. Er grüßte wohl auch, wenn Herr v. Trolz nicht hinsah, indem er die Hand an den Rand der Mütze legte, so wie er es auf Bildern, die den Kaiser auf seinen Spazierfahrten zeigten, gesehen hatte.
Stundenlang härte Samo so fahren mögen. Aber schon nach wenigen Minuten hielt der Wagen, und Herr v. Trolz, der ihn bisher keines Wortes oder Blickes gewürdigt haue, sagte:
Sie stiegen aus. Herr v. Trolz wies auf eine Tür, an der ein großes Messingschild mit der Aufschrift Frank Davis, American Dentist, angebracht war, und sagte:
»Da sind wir.«
Dann läutete er, und ein Diener in schwarzem Frack öffnete die Tür. Herr v. Trolz gab ihm seine Karte. Der Diener verschwand damit in einem der hinteren Zimmer. Es erschien ein Herr in weißem Kittel, der Herrn v. Trolz die Hand reichte.
Sie sprachen halblaut miteinander. Samo verstand nur die Worte: Lümmel – Zahn – Karzer – Sachbeschädigung. Dann zeigte Herr v. Trolz mit dem Finger auf Samo und sagte zu dem Herrn in weißem Kittel, dessen Sauberkeit Samo in Staunen setzte:
»Da steht die Sachbeschädigung.«
Der Herr wandte sich zu Samo, verzog erst das Gesicht, schüttelte dann den Kopf, lachte und sagte zu Herrn v. Trolz:
»Wird repariert.«
Herr v. Trolz verabschiedete sich, und der Herr sagte zu Samo:
»Komm!«
Sie gingen einen Korridor entlang in ein geräumiges, helles Zimmer. An den Wänden standen Riesenschränke aus Glas. Darin glänzten und glitzerten Werkzeuge aller Art. Samo stand geblendet und staunte all die Herrlichkeiten an.
»Fräulein,« sagte der Herr zu einer jungen Dame, seiner Assistentin – »der Jüngling soll sich den Mund ausspülen. Aber gehörig!«
Die Dame lachte und winkte Samo herbei.
»Hab' keine Furcht,« sagte sie. – »Es tut nicht weh.«
Samo hatte an Furcht nicht gedacht. Ihn erfüllte nur ein Wunsch: all diese Apparate in Tätigkeit zu sehen, möglichst im Zusammenhang mit sich. Er nahm das Glas mit roter Flüssigkeit, das ihm das Fräulein reichte, lächelte und trank es in einem Zuge aus.
»Um Himmels willen!« rief die entsetzt.
»Es brennt,« sagte Samo mit Tränen in den Augen. »Aber das macht nix.«
Man goß ihm ein Glas heiße Milch in den Rachen; dann wiederholte man nach vorheriger Belehrung erfolgreich die Prozedur. Als er etwa ein dutzendmal gespült und gegurgelt hatte, durfte er sich in einen Lehnstuhl setzen, in dem er sich so wohl fühlte, daß er nur einen Wunsch hatte, sobald nicht wieder aufstehen zu brauchen.
Und dieser Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Der Herr im weißen Kittel trat dicht an ihn heran, sagte:
»Mach den Mund auf!« spiegelte Samos Oberkiefer ab, schüttelte den Kopf und sagte zu dem Fräulein:
»Da wächst kein Zahn nach.«
Dann setzte er die Bohrmaschine in Bewegung und ließ sie in Samos Munde spielen. Dem lief erst das Wasser im Munde zusammen, dann sagte er »au weh!« und schließlich verlor er die Besinnung.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem vornehmen Zimmer in Decken gehüllt auf der Chaiselongue. Neben ihm saß das Fräulein und hielt ihm die Hand. Er schlug die Augen halb auf und sagte leise:
»Prinzessin, der Feind!«
»I Gott bewahre!« beruhigte ihn die. »Du hast alles überstanden. Lieg nur noch ein paar Minuten still, dann kommt der Herr Doktor und setzt dir einen schönen, neuen Zahn ein.«
Samo strahlte:
»Von wem?« fragte er.
Sie verstand ihn nicht.
»Einen schönen, neuen Zahn bekomme ich?« fragte er.
Das Fräulein nickte.
»Wem hat der vor mir gehört?« fragte er.
Sie mußte lachen. Und, um ihm eine Freude zu machen, sagte sie:
»Einer Prinzessin.«
Samo lächelte und hauchte nur:
»Ich wußte es.«
Und er konnte es garnicht erwarten, bis der Diener kam und dem Fräulein ein Zeichen gab, daß der Herr Doktor bereit sei.
»Fühlst du dich auch kräftig genug?« fragte das Fräulein.
Samo nahm alle Kraft zusammen, richtete sich auf und sagte:
»Ja.«
Sie führte ihn in das Arbeitszimmer des Arztes zurück. Samos Augen jagten durch den Raum. Aber er sah den Zahn nicht. Er durfte sich wieder auf den Sessel setzen, der Arzt nahm aus einem kleinen Futteral einen blendend weißen Zahn und sagte:
»Du mußt, wenn du deine Zähne nicht sämtlich verlieren willst, deinen Mund sauberer halten. Hast du eine Mutter?«
Samo sagte:
»Ja.«
»Dann bestell' ihr das!« – Er hielt ihm den Zahn hin und fuhr fort: »Und nun gib acht! Diesen Zahn, den ich dir jetzt einsetze, schraubst du die ersten paar Monate alle acht Tage heraus und desinfizierst das Zahnfleisch an der Stelle, wo der Zahn sitzt, fünfzehn Minuten lang mit essigsaurer Tonerde – verstanden? Dann schraubst du ihn vorsichtig wieder ein.«
Samo verstand von alledem nur, daß er einen Zahn zum Ein- und Ausschrauben bekam. Und das beglückte ihn. Alles andre verstand er nicht, und es schien ihm neben dieser Tatsache auch belanglos. Er gab im Spiegel, den das Fräulein hielt, genau acht, wie der Arzt den Zahn befestigte. Als der Zahn festsaß, strahlte Samo über das ganze Gesicht.
»So,« sagte der Arzt, »nun kannst du gehen.«
Aber Samo stand zwar mit einem glückstrahlenden Gesicht auf, er ging auch ein paar Schritte zur Tür zu. Aber mitten im Zimmer blieb er stehen und rührte sich nicht vom Fleck.
»Was ist?« fragte der Arzt.
Samo trat dicht an ihn heran, hob sich auf den Fußspitzen in die Höh und fragte neugierig und ängstlich:
»Hat Dietrich v. Trolz auch so einen Zahn zum Schrauben?«
»Wie kommst du darauf? Nein!« erwiderte der Arzt.
Samo lächelte beglückt und verließ das Zimmer. Nie zuvor hatte er sich so stolz gefühlt. Schon auf der Treppe blieb er stehen und begann behutsam an dem Zahn zu schrauben. Sein Herz schlug laut, als der Zahn sich langsam hin und her bewegte, immer lockerer wurde und schließlich frei in seiner Hand lag. Liebevoll betrachtete er das Kunstwerk. Elfenfarbenweiß paßte er so gar nicht zu seinen gelben, ungepflegten Zähnen, denen er noch nie im Leben irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Er schraubte, als er Schritte auf der Treppe hörte, den Zahn wieder ein und lachte, um den Zahn zu zeigen, jeden an, dem er auf der Straße begegnete.
Frau Lustig teilte das Glück ihres Sohnes. Und bei sich dachte sie: wenn dieser Dietrich von Trolz meinem Samochen doch gleich ein Dutzend seiner Zähne ausgeschlagen hätte.
Aber der Alte war ein Pessimist und meinte:
»Reiß von nun ab deinen Mund nicht mehr so weit auf, denn der neue Zahn kompromittiert alle anderen.«
Indes tat diese tiefsinnige Betrachtung Samos Glück keinen Abbruch. Während er sonst mit Grauen jedem Schultag entgegensah, konnte er nun die Zeit bis zum nächsten Morgen kaum erwarten. Als Erster saß er auf seinem Platze, kniff fest die Lippen zusammen und war durch nichts zum Sprechen zu bringen. Auch als Dietrich v. Trolz ihm auf Befehl seines Vaters ein freundliches »Guten Morgen, Samo!« zurief, erwiderte er nur mit einem leisen Nicken des Kopfes.
Erst als alle Schüler beisammen waren, stand Samo auf, trat mit feierlicher Geste auf das Katheder, stellte sich da breitbeinig auf, wartete ein paar Augenblicke, bis tiefes Schweigen herrschte, riß dann plötzlich den Mund weit auf, wies mit dem roten Zeigefinger der rechten Hand auf die Stelle, an der der neue Zahn saß, und griente seine Mitschüler an.
Die sahen und wunderten sich. Als aber Samo dann mit überlegenem Lächeln zwei seiner roten Finger in dem Gehege seiner Zähne verschwinden ließ und anfing, den Zahn abzuschrauben, da standen sie auf, drängten sich um das Katheder, sperrten die Münder auf und staunten ihn an.
Triumphierend hielt ihnen Samo den Zahn hin.
»Nu?« fragte er. »Was sagt ihr dazu?« – Sie sahen bewundernd zu ihm auf. – »Wer von euch hat so was?«
Sie faßten sich unwillkürlich an die Zähne. Die saßen fest. Hier und da wackelte wohl einer. Aber so einen blendend weißen Zahn, den man nach Belieben ein- und ausschrauben konnte, besaß keiner.
Neid und Bewunderung hielten sich die Wage.
Samo kostete seinen Triumph aus. Er hielt den Zahn in die Sonne, legte ihn auf das Katheder, steckte ihn in die Westentasche, zeigte die Lücke, holte den Zahn wieder hervor, griente, schraubte ihn wieder ein und trat unter dem Beifallsgetrampel seiner Kameraden ab.
Und Samo, den sie bis zu dieser Stunde verhöhnt und verachtet hatten, stand plötzlich im Mittelpunkte des Interesses. In der nächsten Stunde dachte jeder, ohne auf den Lehrer zu achten, nur darüber nach, wie sich zu Samo eine Brücke schlagen ließ. Und der eine und andere überlegte bereits, was er wohl Samo bieten könne, damit der sich bereit fände, den Zahn einzutauschen.
Samo, der, um den Zahn zu zeigen, während des Unterrichts unaufhörlich lachte, erhielt einen Tadel wegen kindischen Benehmens. Es traf ihn nicht; er war überzeugt, daß ihn der Lehrer, dessen Gebiß eine einzige, selten von einem Zahn unterbrochene Lücke war, nur aus Neid bestrafte.
Als die Stunde vorüber war, bestürmten ihn alle. Sie ließen sich noch einmal das Kunstwerk zeigen. Und wer zwölf Murmeln, ein Feuerwerkszeug, eine Tafel Schokolade oder ein Dutzend Stahlfedern zahlte, durfte ihm den Zahn einmal aus- und wieder einschrauben.
Dietrich v. Trolz bot für den Zahn eine von seinem Vater abgelegte Brieftasche, in der seltene Briefmarken, Heftpflaster und ein Notizkalender vom vorigen Jahre lagen. Samo prüfte Tasche und Inhalt genau, und ihn reizte vor allem die fünfzackige Krone, die breit und tief in den Deckel gepreßt war. Ein anderer bot seine Krawattennadel, derenwegen er in der ganzen Klasse berühmt war. Sie täuschte, schlecht genug, eine Perle vor, die vorn ein Loch hatte. Aus diesem Loch spritzte, wenn man auf einen unter der Weste befestigten Gummiball drückte, eine Flüssigkeit hervor, die oft einen guten, meist aber einen üblen Geruch verbreitete. Grade Samo hatte das oft am eigenen Leibe gespürt. Die Aussicht, die Nadel zu besitzen und ihre Künste gegen ihren ehemaligen Besitzer spielen zu lassen, war für ihn besonders verlockend! Ein dritter bot gleich zwei Dutzend blutrünstiger Indianergeschichten, die dadurch, daß sie zerfetzt und zerlesen waren, an Reiz nichts eingebüßt hatten. Denn grade Samo hatte man die Bücher, die den Gesprächsstoff in den Pausen bildeten, vorenthalten.
Samo sah sich vor eine schwere Entscheidung gestellt. Aber noch war die Wirkung des Zahns zu stark. Wenn man ihm die Tasche, die Nadel und die Bücher zugleich geboten hätte – vielleicht, daß er dann den Zahn geopfert hätte. So aber lehnte er alle Gebote ab. Auch Dietrich v. Trolz' Versprechen, sein Freund zu werden und ihn gegen jeden zu verteidigen, vermochte nichts an seinem Entschluß zu ändern.
Es kam die große Pause. Die Knaben stürmten auf den Hof. Sobald der Lehrer den Rücken kehrte, kletterten sie katzenartig die Mauer hinauf, die ihren Hof von dem der Mädchen trennte. Aber keiner erfreute sich lange des Platzes an der Sonne. Kaum hatte er auf der Mauer Fuß gefaßt und den Mädchen ein paar Kußhände zugeworfen, dann zerrten die neidvollen Kameraden ihn auch schon wieder herunter. Samo hatte nach einigen mißlungenen Versuchen, die ihm regelmäßig eine blutige Nase und einen zerrissenen Rock eintrugen, längst Verzicht geleistet. Ein einziges Mal war es ihm bisher geglückt, unbeobachtet auf die Mauer zu klettern. Hohngelächter der weiblichen Jugend hatte ihn empfangen. Dann waren ein paar beherzte Mädchen hinzugesprungen und hatten ihn auf ihren Hof hinuntergezerrt. Nicht mühelos. Denn von der anderen Seite zogen die Knaben. Und eine Zeitlang schwebte Samo in Ungewißheit und zu gleichen Teilen über dem Reich der Knaben und dem der Mädchen, zwischen denen herzlose Menschen diesen steinernen Wall errichtet hatten – bis er schließlich auf her Seite landete, auf die er weder nach Geburt noch Schulreglement gehörte. Die Mädchen schleppten ihn im Triumph zu ihrem Schulvorsteher. Der trat mit dem Direktor Samos in Auslieferungsverhandlungen, die schnell zu einem positiven Resultate, zu Karzer und einer Tracht Prügel führten. Kein Wunder, daß sich Samo seitdem während der Pausen in respektvoller Entfernung von der Mauer hielt.
Heute aber boten sich Dietrich v. Trolz und andere Kameraden an, ihm auf die Mauer hinaufzuhelfen. Er schwebte förmlich auf ihren Schultern empor, saß, ohne sich anzustrengen, plötzlich oben und sah in den Hof hinab, von dem ihm übermütiges Mädchenlachen entgegenschallte.
»Samo!« riefen Dutzende von hellen Stimmen, aber ehe noch ein höhnisches Wort fiel, rief er:
»Seht, was ich habe!« Sie stellten sich im Halbkreis vor die Mauer und sahen zu ihm auf. Er fletschte die Zähne und wies mit dem Finger auf die Stelle, an der sich hell der falsche Zahn von allen anderen Zähnen abhob. Da brachen die Mädchen in helles Lachen aus.
Als er dann aber anfing, an dem Zahn zu drehen, als er ihn immer loser schraubte, ihn schließlich aus dem Munde zog und ihnen triumphierend hinhielt, da sperrten sie die kleinen Münder weit auf und riefen:
»Ah!«
Er zeigte ihn von allen Seiten, erklärte den Mechanismus, schraubte ihn wieder ein, zog eine Walnuß aus der Tasche, zerbiß sie auf dem Zahn, warf den Kern den Mädchen, die Schale den Knaben zu und erntete tosenden Beifall. Noch einmal schraubte er den Zahn aus und ein und ließ sich, während die Mädchen »Bravo!« riefen und laut in die Hände klatschten, auf den bereitwillig dargebotenen Schultern seiner Kameraden in den Hof hinab. Von drüben aber schallten bald von neuem und immer lauter die Rufe nach Samo. Noch einmal wurde er emporgehoben, noch einmal saß er auf der Mauer und wiederholte vor den begeisterten Blicken der jungen Mädchen das seltsame Schauspiel.
Am nächsten Morgen kamen die Kameraden mit schweren Paketen beladen in die Schule. Ganze Kästen voll Zinnsoldaten, elektrische Eisenbahnen, Aquarien, Markenalben, Riesendrachen, Hängematten, Festungen und Burgen bauten sie vor Samo auf. Er, der von Haus so gar nicht Verwöhnte, sah staunend all die schönen, ihm bisher unerreichbaren Dinge, Sie überboten sich wild durcheinander, und jeder war bereit, sich von seinem liebsten Spielzeug für immer zu trennen, wenn er dadurch in den Besitz des Zahnes kam.
Aber Samo, dessen Blicke und Gedanken an der Mauer hingen und dem, was sich hinter ihr verbarg, schlug alles aus.
Tagelang wiederholte sich dasselbe Spiel, immer mit dem gleichen negativen Erfolge. Um Samo günstig zu stimmen, überließ ihm dieser und jener sein Spielzeug ohne eine Gegenleistung. Und jeden Mittag brachte Samo von der Schule irgendein Geschenk mit nach Hause. Seine Mutter strahlte und sagte zu ihrem Manne:
»Daran kannst du sehen, wie beliebt unser Samo ist.«
Und der Alte erwiderte schmunzelnd:
»Ich hab' dir ja gesagt, der Junge wird seinen Weg machen.« –
Eine Woche war vergangen, da erhielt die v. Trolzsche Familie Logierbesuch. Der Bruder der Frau v. Trolz, Edler Graf Seyn zu Stein-Felsegg kehrte auf der Reise nach Österreich bei ihnen ein. Jedem seiner Neffen und Nichten brachte er etwas mit. Die siebenjährige Auguste Amalie Victoria v. Trolz erhielt eine Puppe, die nicht etwa hohl, sondern von den Füßen bis zum Kopf hinauf mit den feinsten Pralinés angefüllt war.
Auguste Amalie Victoria v. Trolz besaß, obschon sie erst sieben Jahr alt war, Menschenkenntnis. Zwar wußte sie, daß ihr Bruder Dietrich für ihre Puppen im allgemeinen nur ein Gefühl, und zwar das der Verachtung, hatte. Aber das brauchte ihn nicht zu hindern, daß er sich mit dieser neuen Puppe eingehender beschäftigte, als ihr lieb und dem inneren Gehalt der Puppe zuträglich war.
»Sieh her!« sagte sie, stellte die Puppe auf den Kopf und schüttelte den ganzen Inhalt aus. Dann nahm sie nacheinander jedes Praliné in den Mund, schleckte es ab, und zwar gründlich, und steckte es, noch ehe es recht trocken war, wieder in den Leib der Puppe.
»Was soll das?« fragte Dietrich.
»Damit dir der Geschmack vergeht und du nicht naschst,« erläuterte Auguste Amalie Victoria.
Dietrich selbst erhielt von seinem Onkel eine Ritterrüstung, bestehend aus einem Helm, Maske, Brustpanzer, Arm- und Beinscharnieren.
Am Sonntag nachmittag machten sie eine Spazierfahrt. Dietrich saß trotz glühender Hitze in seiner Ritterrüstung neben dem Kutscher. So fuhren sie die Anlagen herunter.
Samo mit dem seit über einer Woche freundlichen Lächeln machte zur gleichen Zeit mit seinen Brüdern einen Spaziergang.
»Da! Sieh da!« riefen plötzlich alle und wiesen auf den Wagen, auf Dietrich, auf die Rüstung.
Samo stutzte, blieb stehen und staunte das Wunder an. Aber Dietrich fuhr, ohne ihn eines Blicks zu würdigen, stolz an ihm vorüber.
Die Wirkung der Rüstung auf Samo war ungeheuer. Er war den ganzen Abend über nachdenklich, lag des Nachts wach und stand am nächsten Morgen schon eine halbe Stunde vor Schulbeginn vor der Klassentür.
Als Dietrich v. Trolz endlich kam, nahm er ihn beiseite und fragte:
»Was war das gestern für eine Rüstung, mit der du durch die Anlagen gefahren bist.«
»Ein Geschenk meines Onkels.«
»Was hat so 'ne Rüstung für 'n Wert?«
Dietrich zog die Schultern in die Höhe und erwiderte: »Ich weiß nicht. Aber billig ist die nicht.«
»Hm,« meinte Samo und spielte mit seinem Zahn. »Mag sein. Aber schließlich, wann kann man so 'ne Rüstung schon tragen.«
»Wieso?« fragte Dietrich.
»Nu, ich mein' nur. Auf die Mauer kann man damit zum Beispiel nicht klettern.«
»Das stimmt.«
»Jedenfalls ist so 'n Zahn, den man immer bei sich tragen kann, ausgiebiger.«
Dietrich nickte.
»Wenn die Rüstung mir passen würde,« fuhr Samo zögernd und mit möglichst gleichgültiger Miene fort – »und du mir garantierst, daß es kein Tinneff ist …«
»Tauschst du sie mir dann gegen den Zahn?« fragte Dietrich erregt.
Samo kniff die Augen zusammen. Diese Bereitwilligkeit hatte er nicht erwartet. Er schüttelte den Kopf und sagte:
»Ne! wenn du mir nicht die Brieftasche dazu gibst, denke ich nicht daran.«
Dietrich v. Trolz erbat sich Bedenkzeit.
Schon faul, dachte Samo und sagte:
»Bedaure! Dann tausch' ich den Zahn gegen die Ulmer Dogge des Studenten, der in unserem Hause wohnt.«
»Wa ..?« rief Dietrich ganz benommen. »Der Student will dir seine Ulmer Dogge …?«
Samo hatte ihm den Rücken gekehrt und war in der Schulstube verschwunden.
Dietrich v. Trotz konnte es trotz aller Hochachtung, die er gegenüber dem ein- und ausschraubbaren Zahne empfand, garnicht fassen, daß der Student bereit war, seine berühmte Dogge einzutauschen. Ihr dankte der Student, daß er nächst dem Oberleutnant Bob v. Kessig die stadtbekannteste Persönlichkeit im ganzen Orte war. Und der Wert des Zahnes stieg bei dieser Vorstellung ins märchenhafte.
Er stürzte ins Schulzimmer, lief auf Samo zu, streckte ihm die Hand hin und rief:
»Abgemacht! Ich tausche!«
»Rüstung und Brieftasche!« wiederholte Samo.
Dietrich sagte »ja« und Samo schlug ein.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die ganze Klasse. Und obschon keiner die Rüstung kannte, begriffen sie Samo nicht, der sich doch sagen mußte, daß er nach Verlust des Zahnes wieder in seine frühere Bedeutungslosigkeit zurücksank.
Samo und Dietrich v. Trotz verhandelten über die Form der Übergabe.
Dietrich verlangte, daß Samo sofort den Zahn herausschraube.
»Mein Wort muß dir genügen,« sagte er.
Aber Samo schüttelte den Kopf.
»Aug um Aug, Zahn um Rüstung,« erwiderte er.
Dietrich war gekränkt. Aber die Ulmer Dogge stand wieder vor seinem geistigen Auge, und er war bereit, jede Form zu billigen, die Samo vorschlug.
Als die Schule aus war, gingen sie im Eilschritt durch die Stadt am Markt vorüber.
»Ich hab' ein Geschäft,« rief Samo seiner Mutter zu, die vor dem Laden stand. »Heb' mir das Essen auf.«
»Gut, Samochen,« rief die Alte zurück und war stolz, als sie ihren Sohn in Begleitung des jungen v. Trolz sah.
Als sie nach einem Marsch von zwanzig Minuten an der Besitzung des Herrn v. Trolz anlangten, war der kleine Samo, dessen Beine halb so lang und fest wie die seines Begleiters waren, erschöpft und wie aus dem Wasser gezogen.
Ein Riesenpark lag um das schloßartige Haus herum, das die Familie derer v. Trolz seit über zweihundert Jahren bewohnte.
Samo blieb vor dem Parktor stehen und sagte:
»So! nun hol' die Rüstung und die Tasche heraus!«
»Warum willst du nicht mit hineinkommen?« fragte Dietrich.
»Das ist mir zu unsicher.«
»Was soll das heißen?«
»Weil ich den Zahn mit hineinnehmen muß und mir lieber ist, wir erledigen das Geschäft auf neutralem Boden.«
»Ich bin kein Schwindler!« rief Dietrich entrüstet.
»Mag sein. Aber die Chancen müssen für beide die gleichen sein.«
Dietrich wollte davon nichts wissen, bis Samo einen Ausweg fand.
»Gut,« sagte er – »ich komme mit hinein. Aber ich schraub' mir den Zahn hier draußen ab und deponier' ihn.«
»Wo denn? Hier ist doch kein Mensch.«
»Um so besser! So kann er nicht damit davonlaufen. Wir graben ihn irgendwo in die Erde ein. Und sobald ich die Rüstung und Tasche habe – du rennst ja schneller als ich – läufst du zurück und holst ihn dir.«
»Meinetwegen,« erwiderte Dietrich.
Sie gingen ins Gebüsch.
»Paß auf, damit du siehst, daß ich keinen anderen Zahn unterschiebe,« sagte Samo und lenkte Dietrichs Aufmerksamkeit auf sich. »So« – und er begann, was ihm längst keinerlei Anstrengung mehr verursachte, den Zahn abzuschrauben. Dabei achtete er genau auf den Weg, zählte jeden Schritt, merkte sich jeden Baum und Strauch, blieb, nachdem er mehrmals die Kreuz und Quer gegangen war, endlich in einem Gestrüpp, das genau wie tausend andere war, stehen und sagte zu Dietrich, der, statt auf den Weg zu achten, immer nur auf Samos Zahn sah:
»So! das hier wär' zum Beispiel so ein Plätzchen.«
Jetzt erst nahm er den Zahn, an dem er unaufhörlich gedreht hatte, aus dem Mund, wickelte ihn in ein Stück Papier, reichte ihn Dietrich und sagte:
»So, nun buddle ihn dir ein!«
Dietrich grub ein kleines Loch, legte den Zahn hinein und schüttete dann wieder Erde darauf. Und ehe er noch daran dachte, sich Ort und Stelle ins Gedächtnis zu prägen, nahm ihn Samo schon am Arm und sagte:
»Nun komm aber!«
Als sie durch den Park gingen, fiel Dietrich ein, daß er die Tasche eigentlich gar nicht verschenken durfte. Sie war zwar abgetragen, und die Krone darauf war lädiert. Aber sie war ein Familienstück, und der Vater hatte, als er sie ihm eines Tages auf sein Bitten hin gab, gesagt: »Die stammt vom Großvater. Also halt sie in Ehren und laß sie nicht in fremde Hände kommen.«
Um so bereitwilliger kramte er die Rüstung hervor und suchte Samo nachgiebig zu stimmen, indem er die Puppe seiner Schwester holte, sie öffnete, leerte und sämtliche Pralinés vor Samo auf dem Tische ausbreitete.
»Bedien' dich!« sagte er, und Samo, der noch kein Mittagessen im Magen halte, und zudem nicht wußte, in welche intime Beziehung zu Dietrichs Schwester jedes dieser Pralinés bereits getreten war, stopfte, während er die Rüstung anlegte, arglos ein Stück nach dem andern in sich hinein.
»Du siehst wie ein echter Ritter aus!« rief Dietrich und führte Samo vor den Spiegel.
Die Rüstung war zwar mehr als reichlich; die Scharniere schlotterten an Armen und Beinen und in dem Brustpanzer ließ sich zur Not noch Samos volle Schulmappe unterbringen. Samos praktischer Sinn fand sich damit ab. Zwar als Dietrich ihm einzureden suchte:
»Wie nach Maß! Sie sitzt wie auf den Leib gegossen,« wehrte er ab und sagte:
»Schmus! – Aber ich werde hineinwachsen. Von Jahr zu Jahr wird sie mir besser stehen.«
»Das will ich meinen,« erwiderte Dietrich. »Einen feinen Tausch machst du.«
Samo sah ihn von der Seite an und fragte:
»Wo ist die Tasche?«
»Meinst du nicht, daß du dich auch ohne die Tasche zufrieden geben könntest?«
»Wenn ich blöd wär', schon,« erwiderte Samo.
»Es ist ein Familienstück.«
»Das hättst du dir vorher sagen sollen.«
»Schließlich hast du doch auch die ganzen Pralinés …« Samo stieß auf. Er fühlte sich unter der Last der Rüstung und dem Druck der Süßigkeiten schwach und übel.
»Die Tasche!« rief er mit letzter Kraft und übergab sich in weitem Bogen ins Zimmer.
Auf den Lärm hin erschien Herr v. Trolz, der selten lachte. Angesichts Samos, des brechenden Ritters, verlor er die Haltung.
»Potzblitz!« rief er und hielt sich den Bauch. »Wer ist denn der Held?«
»Samo mit dem Zahn,« erwiderte Dietrich.
Der alte Herr v. Trolz trat näher heran.
»Wahrhaftig, Samo!« sagte er; dann wandte er sich an seinen Sohn und fragte: »Was sucht er hier?«
Dietrich v. Trolz erzählte. Alles, der Reihe nach. Wahrheitsgemäß. Und alle paar Augenblicke krächzte Samo, der Ritter, mit heiserer Stimme dazwischen:
»Die Tasche! Er will mir die Tasche nicht geben.«
Herr v. Trolz hörte alles mit an. Er lachte längst nicht mehr. Er rief den Diener und ließ Samo ins Freie führen. Seinen Sohn nahm er beim Arm.
»Schäm' dich,« sagte er. »Wie kannst du derart schmutzige Geschäfte machen?«
Dietrich wollte widersprechen. Ein Blick des Vaters genügte – Dietrich schwieg.
»Du wirst dein Wort halten,« fuhr Herr v. Trolz fort – »ihm die Rüstung lassen und ihm die Tasche geben.«
»Aber …«
»Schweig!«
»Und laß dir ja nicht etwa einfallen, mir den Zahn ins Haus zu bringen.«
»Vater!« rief Dietrich laut.
Herr v. Trolz schüttelte sich, machte kehrt, ging zur Tür und verschwand.
Im Park stand Samo. An einen Baum gelehnt. Er hatte sich erholt. Dietrich trat auf ihn zu und gab ihm die Tasche.
»Endlich!« sagte Samo.
Dann gingen sie, ohne miteinander zu reden, durch den Park. Samo hatte die Rüstung ausgezogen und schleppte sie auf den Armen mit sich fort. Alle paar Augenblicke verlor er ein Stück. Bückte er sich, um es aufzuheben, fiel ein andres zur Erde. So war ihm Dietrich bald voraus. Und als er endlich am Tor des Parkes anlangte, hatte Dietrich auf der Jagd nach dem Jahn schon ein großes Stück Erdreich aufgebuddelt.
Samo, der schon von weitem sah, daß Dietrich an ganz verkehrter Stelle suchte, trat hinter einen Baum, wartete, bis Dietrich ihm den Rücken kehrte, und schlüpfte dann eilig an ihm vorbei.
Als Samo mit Rüstung und Tasche müde und matt nach Hause kam, wußte er es einzurichten, daß Vater und Mutter die Lücke in seinem Mund nicht sahen. Und da ihm die Pralinés schwer im Magen lagen, so brachte er kein Opfer, indem er auf das Mittagessen und die beiden Stullen am Abend verzichtete.
Als es dunkel war, schlich er aus dem Haus, ging den Weg, den er am Mittag mit Dietrich gegangen war, verschwand in der Nähe des Parktors im Gebüsch, zählte die Bäume, suchte und fand mühelos den Strauch, bückte sich, nahm ein paar Hände Erde auf und hielt das Papier mit dem Zahn in der Hand. Dann ging er nach Haus.
Am nächsten Morgen bestürmten alle Dietrich, der schweigsam und verstimmt auf seinem Platze saß:
»Wo hast du den Zahn.«
Dietrich log und sagte:
»Zu Haus.«
Samo hatte die Tasche mit der Krone bei sich. Er breitete sie protzig, die Krone nach oben, vor sich aus und erzählte Wunderdinge von seiner Rüstung.
An einem der nächsten Tage sagte er:
»Morgen fehl' ich.«
»Warum?« fragten sie ihn.
»Mein Vater läßt mir einen neuen Zahn machen,« log er.
»Zum Schrauben?« fragten alle.
»Ja! genau wie der, den ich Dietrich von Trolz gegen die Rüstung und Tasche eingehandelt habe,« gab er zur Antwort. –
Und während der Pause des übernächsten Tages saß Samo wieder auf der Mauer und entzückte die kleinen Mädchen, indem er den Zahn, der kaum gelitten hatte, vor ihren Augen ein- und ausschraubte. Erst nach Ablauf eines Monats stellte Dietrich seine Nachforschungen ein. Das Erdreich aber um den Park am Gartentor sah schon nach ein paar Wochen aus, als wenn ganze Maulwurfhorden es durchwühlt hätten.
Als der alte Lustig seinen Sohn fragte:
»Wie kommt denn dieser Dietrich v. Trolz dazu, dir seine Rüstung und seine Tasche zu schenken?« da erwiderte Samo erst:
»Das hängt mit dem Zahn zusammen.«
Und als ihn der Vater nicht verstand, da erzählte er ihm die ganze Geschichte.
Der Alte lachte laut auf, nickte seiner Frau zu und sagte:
»Ich sag' dir, Rosa, der Junge macht seinen Weg.« –
*
Und er behielt recht.
Vierzig Jahre später war Samo Lustig Direktor einer großen Bank, hatte Titel und Orden und auf einer kostbaren Truhe neben wertvollen Altertümern lag, die Krone nach oben, die Familientasche derer v. Trolz. Alle Tage ruhte Samos Blick liebevoll auf ihr. Eines Tages, wer konnte es wissen, da war auch diese Krone vielleicht kein Phantasiestück mehr.
Jedenfalls: was ihm vor über dreißig Jahren der Zahn gegolten hatte, galt ihm heute die Krone.
Ob in dieser Wandlung eine geistige Entwicklung liegt, entscheide der geneigte Leser.