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Drei Stunden später öffnete Mia nach einem erfrischenden Schlafe die Augen und setzte sich aufrecht. Sie befand sich in ihrem weißen kleinen Himmelbette im Predigerhause. – Karl stand neben ihr, ohne Jacke und einen Arm in einer schwarzseidenen Binde.
»O Karl,« rief Mia, ihre Augen reibend, »ich habe so sonderbare Träume gehabt. Aber wie siehst Du aus? So bleich und doch so glücklich!« –
»Erinnere Dich nur,« – fing Karl an, aber bei dem ersten Worte kam Mia's volles Bewußtsein wieder, und sie bedeckte ihre Augen und sagte:
»Wie habe ich nur so ruhig schlafen können nach diesen merkwürdigen Begebenheiten! – Wie können wir jemals dankbar genug sein! – Aber bist Du verwundet?« –
»Ein paar Brandblasen,« – antwortete Karl, »nur damit sie uns zeigen, daß es sich wirklich zugetragen hat und nicht ein Traum ist!« –
»Ist Louis sehr verbrannt?« –
»Mehr als ich. – Doctor King war hier, um seine und Jaisingh's Brandwunden zu verbinden. Jaisingh liegt in Georg's Bett, aber Louis scheint sich gar Nichts aus seinen Wunden zu machen. – Er ist unten in der Bibliothek, liest in einem dicken Buche und ist viel besser gelaunt, als er es sonst an einem kalten Tage zu sein pflegt.« –
»Erzähle mir, wie Alles zugegangen ist. – Wie kam es, daß Jaisingh vergessen wurde oder daß er sich nicht selbst rettete?« –
»Ich denke, der Rauch hat ihn betäubt. – Louis tadelt sich, daß er nicht gleich zu ihm gegangen ist, aber das wäre nicht leicht gewesen; ich weiß es am besten, wie mühsam es war, auf dem schmalen Rande vorwärts zu gehen und ich begreife gar nicht, wie Louis es möglich gemacht hat und noch dazu so nahe den Flammen. – Als er Jaisingh aus seinem Bette gezogen hatte, wußte er nicht, was er weiter thun sollte, denn Louis kannte die alte Steintreppe nicht und es war unmöglich, Jaisingh zu einem Versuche, aus dem Fenster zu springen, zu bewegen. Er stand schreiend und betend da, während die Flammen immer näher und näher kamen.« –
»Was thatest Du, nachdem Du mich verließest?« –
»Ich lief die Steintreppe hinauf und öffnete die Thüre, aber während einer Sekunde sah ich Nichts, denn der Rauch machte mich blind. – Die Luft war zum Ersticken und unter meinen Füßen hoben und senkten sich die heißen Dielen. Ich konnte nicht genau meinen Weg sehen, aber ich rief laut und bald kamen mir Louis und Jaisingh entgegen. – Aber zwischen ihnen und mir waren Flammen, und ich weiß nicht, wie sie durchgekommen sind, sie mußten von einem Stück Diele auf ein andres springen, ich streckte meine Arme aus, um sie zu mir zu ziehen und dabei verbrannte ich mich. – Ihre Kleider brannten auch, aber es gelang den Männern, die uns unten empfingen, die Flammen zu ersticken. – Du lagst während dessen in Ohnmacht. – Wie sonderbar, Mia, daß Du ohnmächtig wurdest!« –
»Ja, es war ein sehr sonderbares Gefühl, und als ich meine Augen öffnete, war ich so erstaunt, Kitty und Georg zu sehen.« –
»Georg sagt, wenn nur ein einziger vernünftiger Mann da gewesen wäre, hätten wir Kinder Nichts zu thun gehabt. – Er ärgert sich sehr, daß er gestern Abend nach Hovingham gegangen ist, wenn er hier gewesen wäre, sagt er, so hätte er uns gelehrt, in unterirdische Gänge kriechen und uns in andrer Leute Geschäfte mischen! Er kam erst heute Morgen nach Hause, nachdem das Feuer aus war. – Er hat tüchtig gearbeitet, eben nur ein Bischen Ordnung gemacht, sagt er. – Die Spritzen aus M. kamen, als wir fort waren. – Der linke Flügel ist ganz niedergebrannt, aber sonst ist nicht viel Schaden geschehen und, Dank sei Louis, nichts sehr Werthvolles verbrannt.« –
»Karl, ich muß immer daran denken, was Herr Harley fühlen wird, wenn er erfährt, wie nahe er daran war, sein Allerwerthsvollstes zu verlieren.« –
»Er ist schon angekommen und, Mia, wenn Du den Blick gesehen hättest, als man ihm von Louis erzählte! – Du hast recht, wie können wir jemals dankbar genug sein! – Wir haben einem Menschen das Leben gerettet! – So etwas Nettes haben wir uns in unsern besten Träumen nicht vorgestellt!« –
»Ich nenne es nicht gerade etwas Nettes,« – sagte Mia. – »Das ist nicht das rechte Wort. – Aber Karl, bist Du auch ganz sicher, daß Alle gerettet sind und daß wir uns unsrem Glücke überlassen können?« –
»Ja, – nur etwas sehr Ernstes bleibt noch zu überlegen übrig und ich kam her, um mit Dir darüber zu sprechen.« –
»Es ist wegen des heutigen Mittags. – Du weißt wohl schon, daß Frau Dalton und Alle aus dem Herrenhause hier sind, und ich fürchte, nicht Einer von ihnen wird Etwas zu essen bekommen. – Kitty hat der Frau Dalton Etwas übel genommen und erklärt, sie werde sich durch Besuche oder Feuer nicht aus ihrer Ordnung bringen lassen. Deshalb streicht sie die Stufen der Hausthüre wie an jedem andern Sonnabende weiß an und wird gewiß nichts Anders machen, als gewöhnlich.« –
»Aber wir haben ja alle Tage ein Mittagessen,« – erwiderte Mia. –
»Ja, genug für uns Beide und heute sollen wir nur Suppe und Pudding haben,« – sagt Kitty. – »Du wirst sehen, sie giebt Nichts mehr, denn sie ist in der allerschlimmsten Laune.« –
»Eins habe ich mir fest vorgenommen,« – sagte Mia, »ich werde Frau Dalton nie zu verstehen geben, daß sie sich Freiheiten herausnimmt. – Sie soll sehen, daß man sich bei uns Freiheiten herausnehmen kann, wenn man sich nur glücklich und heimisch bei uns fühlt. Das Gute haben wir bei unserem Besuche gelernt: wir wissen, was es heißt, sich fremd und unbehaglich zu fühlen und werden es nun besser verstehen, unsre Gäste froh und heiter zu machen.« –
»Das erinnert mich an Horaz und Richard, ich muß sehen, was sie machen. – Sie sind heute ganz anders, wie sonst. – So erschreckt und betrübt hat sie das Vorgefallene. – Sie würden mir noch viel mehr leid thun, wenn sie nicht wieder so viel Unwahrheiten zu Herrn Harley gesagt hätten. – Er befragte sie und sie widersprachen Einer dem Andern und leugneten, was sie gestern in ihrer Angst eingestanden hatten. – O, wie Herr Harley sie ansah! – Er gebot ihnen Schweigen und sagte, er glaube ihnen kein Wort mehr. – Wenn man das so zu mir gesagt hätte und wenn ich mir bewußt gewesen wäre, es zu verdienen, – ich denke, ich hätte es nicht ertragen können!« –
»Wie glücklich bin ich, daß Du Nichts mit ihrem Anschlage zu thun hattest! – Aber heute ist ja Weihnachtsabend! – Der Weihnachtsbaumabend! – Ich hoffe, Herr Harley wird ihnen vor Abend verzeihen, es wäre zu traurig, wenn Jemand heute unglücklich wäre! Wir wollen alles Mögliche thun, damit Herr Harley ihnen vergebe. – Und denkst Du, wir werden Zeit genug haben, die Bescheerung vorzubereiten? – Wir müssen noch viele Geschenke besorgen! – Ob Kitty uns nur Lichter geben wird? Ich muß schnell aufstehen und Alles besorgen und versuchen, ob ich ihr die Suppe und den Pudding ausreden kann. – – Gehe Du zu Georg und bitte ihn so lange, bis er ein Bäumchen ausgräbt. – Bald komme ich nach unten.« –
Die Sonne schien hell auf den bereiften Laurestinus am Fenster, als Mia nach unten kam. – Frau Dalton und Mademoiselle und Luise frühstückten und die Uhr in der Küche schlug gerade Zwölf. – Es war ein sonderbarer Tagesanfang, sonst hatten Mia und Karl um diese Zeit schon ihre Lernstunden beendigt. Mia war zu geschäftig, um essen zu können. Der Gedanke, daß Frau Dalton, Herr Harley, Mademoiselle und die Vernons Nichts als zwei Tassen Fleischbrühe und einen Reispudding zum Mittagsessen bekommen sollten, war doch zu unangenehm! – Sie fing an, zu überlegen, ob sie nicht selbst Etwas kochen könne. –
In der Küche war keine Kitty zu sehen. Alles sah so verzweifelt still und ordentlich aus. – Mia langte sich eine glänzende Kasserole herunter und guckte in Kitty's Speiseschrank, hoffend, sie würde da Etwas finden, was sich gut in der Kasserole kochen ließe, aber in demselben Augenblicke kam Kitty hinter einer Thüre hervor, in einer Hand ein großes Tuch, in der andern eine Tasse mit heißem Sennesblätterthee haltend. –
Sie schalt Mia dafür, daß sie ohne Erlaubniß aufgestanden sei, und sagte, daß sie tödtlich erkältet sei und daß auch Karl ernstlich krank werden würde, und daß sie dann Beide erfahren würden, wer ihre wirklichen Freunde seien. – Sie war sehr roth und ihre Stimme zitterte, und als Mia den heißen Thee trank, schlug sie ihre beiden Arme um sie und küßte sie wenigstens zwanzig Male. –
Mia war in ihrem Leben noch niemals so überrascht gewesen, Karl mußte sich durchaus in Bezug auf Kitty's Laune getäuscht haben. Mia wollte recht dankbar sein, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte. – Kitty saß während einer Viertelstunde auf dem Küchentische, sie hatte ihr Gesicht mit der Schürze bedeckt und weinte und sprach gerade so, als ob sie dächte, Frau Dalton habe das Feuer mit Fleiß angelegt, in der alleinigen Absicht, Karl's Arm zu verbrennen und Mia tödtlich zu erkälten.
Es war umsonst, ihr zu erklären, daß Frau Dalton mit dem Feuer Nichts zu thun gehabt habe, oder es immer wieder und wieder zu versichern, daß sie nicht tödtlich erkältet sei: Kitty blieb bei ihrer Ansicht und Mia nahm sich vor, den Mittag geduldig abzuwarten und dann gelegentlich wieder mit ihr zu sprechen. – Was übrigens den Mittag betraf, so beruhigte es Mia sehr, zu bemerken, daß Kitty's Gesicht und Schürze mit Mehl bepudert waren und daß hinter der Thüre zwei oder drei Gerichte auf einem Tische bereit standen. – Als Kitty genug geweint hatte, wickelte sie Mia in das große Tuch und schickte sie nach oben mit dem strengen Befehle, sich still und nicht zu nahe und auch nicht zu fern dem Feuer hinzusetzen, und um keinen Preis im Hause umherzugehen. –
Der Vormittag verging so seltsam, als er angefangen hatte. – Niemand vermochte ruhig zu sitzen oder Etwas vorzunehmen, die Hälfte der Dorfeinwohner kam und verlangte Karl und Mia zu sehen und Kitty blieb in einem immerwährenden Laufen nach der Hausthüre, um sie fortzuschicken. Frau Dalton versicherte alle Augenblicke, es rieche nach Feuer und Mia mußte mehrere Male mit ihr von der Bodenkammer bis zur Küche gehen, um das Feuer aufzufinden. –
Trotz all' dieser Unterbrechungen fand Mia Zeit, ihre Schätze zu inspiciren und aus ihnen Geschenke für alle Gäste herauszusuchen; Karl stahl sich auch fort, um die letzte Hand an seine Elektrisirmaschine zu legen. Es ist wahr, sie elektrisirte nicht, als sie fertig war, – aber das schadete gar nicht, – denn Louis sagte, er könne sie schon in Ordnung bringen, wenn er sie auseinandernehme und ganz anders zusammensetze; Karl fand demnach, daß die Maschine ein sehr nützliches Geschenk sei. –
Beim Mittagsmahle, das Mia's glänzendste Hoffnungen übertraf, ließ Herr Harley Mia am obersten und Karl am untersten Ende des Tisches sitzen, wo in England die Plätze des Wirthes und der Wirthin sind. – Mia machte es sich zur Aufgabe, Frau Dalton zu jeder Schüssel zu nöthigen, aber sie bemerkte bald an dem Gesichte der Dame, daß sie, Mia, sich wieder eine Freiheit herausnahm. –
Nach Tische fuhr Herr Harley nach der Eisenbahn, Herrn und Frau Merton entgegen. Alle standen am Fenster, als der Wagen zurückerwartet wurde, aber Mia entdeckte die Wagenlaterne zuerst bei der Biegung der Landstraße. –
Herr Harley mußte den Eltern wohl die Geschichte vom Feuer erzählt haben, denn Mama's Augen waren so roth, als sie in's Zimmer trat, daß Mia fürchtete, sie habe den ganzen Weg über geweint. – Es schien, als würde Mama nie mit Küssen aufhören. – Alle weinten, selbst Frau Dalton, aber Alle sahen froh aus. – Endlich beruhigte man sich und fing gemüthlich an zu plaudern, da sagte Herr Harley etwas über Karl, was Mama's Augen von Neuem mit Thränen füllte und Karl durch eine Seitenthüre entschlüpfen machte. – Wenig Minuten darauf steckte er aber den Kopf wieder hinein und winkte zuerst Mia, und dann Louis und dann den Vernons aus dem Zimmer: Georg hatte den Christbaum gebracht und es war die höchste Zeit, die Lichter und Geschenke anzuhängen! –
Bei so vieler Hülfe war das bald vollbracht, hätte das Anzünden der Lichter sich nur nicht als etwas sehr Schwieriges herausgestellt! – Aber so bald eines angesteckt war, stürzte entweder Kitty aus der Küche, oder Frau Dalton aus dem Wohnzimmer und blies es aus. – Frau Dalton versicherte, daß sie nicht im Hause bleiben könne, wenn es den Kindern erlaubt sei, mit Feuer zu spielen, und Kitty sagte, man sollte meinen, sie hätten schon genug Erfindungen gemacht und könnten sich mit der Feuersbrunst einer Nacht begnügen. – Zuletzt kam Herr Harley und übernahm das Anzünden und darauf gelang es schnell. –
Ehe noch die Geschenke vom Baum genommen wurden, flüsterten Mia und Karl dem Herrn Harley eine Bitte in's Ohr. – Sie bestand darin, daß er Richard und Horaz verzeihen und sie nicht gleich nach dem Weihnachtsfeiertage zur Schule zurückschicken möchte, wie er gedroht hattet – Louis bat auch und Herr Harley gab nach. –
»Wisset,« – sagte er zu Mia und Karl, »daß ich es nur als eine Belohnung für Euch Beide thue, nicht allein für den Muth, den Ihr in dieser Nacht gezeigt, sondern auch für Eure gute Aufführung während der zweiten Ferienwoche.« –
Karl lief, den Knaben, die, sobald der Onkel eintrat, aus dem Zimmer geschlichen waren, die gute Botschaft zu bringen und Mia begann das wichtige Geschäft der Bescheerung. –
Horaz und Richard waren sehr überrascht, als sie auch Geschenke bekamen und Horaz murmelte Etwas zu Karl über einen gewissen Jemand, der einen andern Jemand: Dummkopf genannt habe und es jetzt bedaure. –
Louis bekam Mia's: Onkel Philipp's Gespräche über Insekten und Herr Harley die Elektrisirmaschine, über die er sich außerordentlich freute. Mia wußte zuerst nicht, ob Frau Dalton sich über ihr kleines Nadelkissen freute oder nicht. Sie sah sehr ernst aus, aber eine Minute darauf wandte sie sich gegen Frau Merton und sprach zu ihr, und Mia glaubte, an ihrem Gesichte zu sehen, daß sie Nichts über Freiheiten sagte. –
Bald waren alle Geschenke vertheilt, die Lichter aus und die Freuden des Abends zu Ende; aber als Karl und Mia in ihren Betten lagen und über den Tag und die Begebenheiten der letzten Woche nachdachten, fühlten sie, daß in ihnen Etwas zurückblieb, was mit keiner Feiertagslust und Aufregung schwinden konnte. Etwas, was ihnen bis an's Ende ihres Lebens blieb.
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