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Als der Wagen vor dem Herrenhause in Silberthal anhielt, gingen Frau Dalton und Mademoiselle hinein und Louis, Mia und Luise nach dem See, der noch eine Meile entfernt vom Hause war. Sie hofften, die Knaben schon auf dem Eise zu finden, denn sie waren früher aufgebrochen und hatten einen kürzeren Weg durch das Feld eingeschlagen. Es war ein schöner, munterer Spaziergang, Louis' üble Laune und Schweigsamkeit schien der Wind wegzublasen, er war so gesprächig, wie Karl, wenn dieser in seiner rosigsten Laune war. – Er erzählte ihr, daß dies sein erster Winter in England sei, und bewunderte mit ihr den Schnee und den Reif auf dem Rasen und das helle, durchsichtige Eis des Sees, das in so vielen Farben erglänzte. – Mia entdeckte auch, daß er mit ihr derselben Ansicht in Bezug auf die Fichten war, die sie mit ihren vielen kleinen Eiszapfen an jeder Spitze an den Diamantenwald in einem ihrer Lieblingsmärchen erinnerten. – Louis hatte das Märchen mehrere Male gelesen und fand es gar nicht so dumm. – Das ermuthigte Mia zu einigen Fragen über Indien, sie sprachen über Johanniswürmchen und weiße Ameisen und Louis machte mehrere Bemerkungen, die Mia an ihr Buch: Onkel Philipps Gespräche über Insekten erinnerten, und noch andere, die ihr neu und interessant waren. Sie mußte ihn einige Male recht genau ansehen, um sich davon zu überzeugen, daß er wirklich ein Knabe, nicht viel größer als Karl sei, und nicht ein erwachsener Mann. Ihre angenehme Unterhaltung endete, als sie den niedern Theil des Sees erreichten, wo die Schlittschuhläufer versammelt waren. – Mia hatte jetzt vollauf zu thun, sie mußte Karl aus der Menge der Knaben und Männer herausfinden und Louis' Fragen beantworten, der sich von ihr die Leute nennen ließ. – Luise, welche die Unterhaltung über weiße Ameisen sehr langweilig gefunden hatte, entschädigte sich jetzt für ihr langes Stillschweigen und that auch neugierige Fragen. –
»Mia, Mia!« rief sie lebhaft, »bitte, sage mir geschwind, wer der drollige, kleine Mann mit dem weißen Hute und dem Kreppbande ist?«
»Ich glaube nicht, daß das ein Mann ist,« – sagte Mia. – »Nein! – Jetzt kann ich ihm in's Gesicht sehen: es ist Sir Henry Wentlock. – Es ist ein Knabe von Karl's Alter trotz seines langen Rockes und des Hutes. Seit seines Vaters Tode wird er »Sir« genannt.« –
»O, nun weiß ich Alles,« – rief Luise. »Ich habe schon von ihm gehört, er geht mit Horaz in dieselbe Schule und sie sind große Freunde. – Ich bin recht froh, daß wir hierher gekommen sind und ich ihn gesehen habe.« –
»Und ich bin nicht froh, daß er hier ist, denn Papa wünscht gar nicht diese Bekanntschaft für Karl. Ah, da ist er! – Sie kommen hierher, Karl spricht mit Sir Henry und schüttelt mit dem Kopfe. – Ich bin neugierig, ob Karl uns anreden wird?« –
»O gewiß nicht! – Richard und Horaz möchten um Alles in der Welt nicht mit mir sprechen, wenn Freunde von ihnen in der Nähe sind. – Aber ich möchte gern wissen, worüber sie sprechen, – sie streiten sich. – Komm hier aufs Eis, hier können wir sie hören.« –
»Nun, fort mit Euch!« Das waren die ersten Worte, die Mia's Ohr erreichten, als sie den Knaben nahe genug kamen, um deren Worte vernehmen zu können. – Es war Sir Henry Wentlock, welcher sprach. Horaz Vernon balancirte auf seinen Schlittschuhen, gerade als wenn er loslausen wollte und Karl zögerte unentschlossen hinter ihm. –
»Aber ich habe es schon gesagt, daß ich nach dorthin nicht laufen werde,« sagte Karl.
»Warum nicht. Du Schlafmütze?« schrie Horaz. »Du hast Dich den ganzen Morgen über gerühmt. Du könntest schneller Schlittschuh laufen, als ich, und nun ich Dir einen Wettlauf vorschlage, nun willst Du nicht laufen.«
»Ja, ich will, – aber nach einer andern Seite hin.« –
»Dummheit! – Du willst wohl den Wind gerade in's Gesicht haben! – Ich sage Dir, wir laufen dorthin oder gar nicht. – Du weißt, daß Du verlieren wirst und deshalb willst Du nicht wettlaufen.« –
»Das ist nicht wahr!« – schrie Karl.
»Dann fürchtest Du Dich, einzubrechen. – Das ist's, gestehe!« –
Karl schlug die Augen nieder und schwieg. Mia zitterte, so gespannt war sie auf seine Antwort. Endlich sagte er, indem er seine offnen, blauen Augen fest auf Horaz' spöttisches Gesicht richtete:
»Gut, ich will es sagen, weßhalb ich nicht den See weiter hinauf laufen will. Ich habe mein Versprechen gegeben, nie bis dahin, wo die Esche sich über den See beugt, zu laufen, und ich werde es halten.« –
»Eine nette Entschuldigung! – Wem versprachst Du es?« – fragte Richard spöttisch.
»Mama.« –
Mia erwartete, daß Richard laut loslachen würde, wie er es oft that, und Karl, der dasselbe dachte, machte Kehrt und wollte aus Gehörsweite, aber in demselben Augenblicke schlug ihm Jemand, – Mia glaubte, es sei Sir Henry Wentlock gewesen, – die Mütze vom Kopfe, die weit über den See fortschnellte. – Sie blieb gerade auf der bezeichneten Stelle unter der großen Esche liegen.
»Nun werden wir doch sehen,« rief Horaz triumphirend, »wie gewisse Leute das Versprechen, welches sie der Mama gegeben, halten.« –
Louis' » Pfui!« – drang laut durch und erheiterte Karl; es machte ihn gleichgültiger gegen Sir Henry's rohes Gelächter und gegen Richard's Spott. Er stand wacker da, ohne Mütze, das lockige Haar in's Gesicht geweht. –
»Was ist zu thun?« – rief Mia etwas verzagt. »Wenn Du ohne Mütze nach Hause gehst, wirst Du Dich zum Tode erkälten, wie Kitty sagt.« –
»Daraus mach' ich mir Nichts,« antwortete Karl, »aber ich habe vorgestern meine Alltagsmütze verloren. Alle zusammengerechnet, ist dies die vierte Mütze, die ich in diesem Jahre verloren habe.« –
»Ich wollte, ich könnte Schlittschuh laufen, oder wenigstens sicher auf dem Eise gehen,« – rief Louis. – »Aber ich kann es nicht.« –
»Warum kann Karl nicht selbst gehen?« rief Horaz. »Das ist viel Lärm um Nichts!« –
»Ich gehe gewiß nicht,« rief Richard.
»Und Euch verbiete ich, nach der Mütze zu gehen,« rief Sir Henry, sich an eine Gruppe von Stallknechten und andern Dienern wendend, die sich den Knaben genähert hatten. –
Doch zum Erstaunen Aller trat ein Knabe in einer Stalljacke, der hinter der Gruppe gestanden hatte, hervor und zu Karl tretend sagte er:
»Jetzt sehe ich erst, daß Sie es sind. Sie hatten das Gesicht weggewendet. Und wenn ich meine Stelle dafür verlieren sollte, ich gehe doch, Ihre Mütze zu holen, junger Herr, und wenn sie unter dem Eise wäre, statt auf ihm! – Ich bringe sie Ihnen!« –
Der Knabe lief davon, ehe Karl sich von seinem Staunen erholt hatte, Horaz Vernon verfolgte ihn. –
»Ich werde Dich lehren, mir ungehorsam zu sein!« – schrie Sir Henry.
»O Karl, hast Du ihn erkannt?« – fragte Mia. »Es ist Tom! – Besinnst Du Dich wohl, sein Vater sagte uns, daß er eine Stelle in Silberthal gefunden hätte. – Sieh nur, wie schnell er läuft, schneller als Horaz auf seinen Schlittschuhen! – Ich hoffe, er kommt zuerst und glücklich an!« –
»Ja, wünschen Sie es ihm,« sagte ein alter Mann, der nahe dabei stand, – »aber das ist die gefährlichste Stelle des ganzen Sees. Wenn das Eis da bricht, und es ist dünn genug, so sind die Beiden verloren.« –
Mia bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, und Louis und Karl riefen den Knaben zu, zurückzukommen, aber ihr Rufen sowohl als das der Andern wurde vom Winde weit weggetragen; es erreichte die Laufenden nicht.
»Kann nicht Einer von Euch ihnen nachlaufen?« – sagte jetzt Sir Henry zu den Leuten. »Es wäre doch dumm, wenn Einer ertränke.« –
»Bleibt hier!« – rief Louis. – »Je mehr Personen dahin laufen, je größer ist die Gefahr, daß das Eis einbricht.« –
»Horaz Vernon ist hingefallen,« schrie Karl. »Aber das Eis ist stark, er steht wieder auf, er kommt zurück. Hurrah!! – Tom hat die Mütze erreicht, er bückt sich nieder, um sie aufzuheben, er richtet sich wieder in die Höhe, nein! – Er fällt, er ist eingebrochen! – Er ist eingebrochen!!« –
Es schien Mia, als drehe sich der See mit ihr in die Runde, und sie ergriff Karl's Arm, um nicht hinzufallen. – Alle schrieen und liefen durch einander. –
»Laß mich los,« – rief Karl, »ich muß fort; – Mama würde mich jetzt selbst hinschicken! – Und Du willst doch nicht, daß ich Jemand ertrinken lasse, ohne ihm zu Hülfe zu eilen, Mia!«
»Nein, nein, gehe!« – Sie fühlte sich wieder stark, stark genug, um Karl einer Gefahr entgegen gehen zu sehen. –
Karl lief davon und würde wahrscheinlich in fünf Minuten selbst unter dem Eise gelegen haben, hätte Louis nicht seinen Arm ergriffen. Dieser hatte schon mit den umherstehenden Männern und Knaben gesprochen und sagte jetzt zu Karl mit demselben Achtung gebietenden Tone:
»Nimm Deine Schlittschuhe ab und folge mir. – Sieh hin, der Knabe hält sich an einem Aste, er hat den Kopf noch über dem Wasser, – wenn der Ast nur so lange hält, bis die Leute mit den Stricken aus jenem Boothause kommen, – krieche ich längs dem Baume hin und werfe sie ihm zu, dann ziehen wir ihn heraus. Aber nimm Dich in Acht, daß wir Dich nicht auch noch herauszufischen bekommen.« –
Es ist doch eine vortreffliche Sache um Geistesgegenwart! – Es war merkwürdig zu sehen, wie Jedermann Louis' Anordnungen folgte und wie ruhig er die Anordnungen traf! – Sir Henry und Richard und selbst Horaz standen zähneklappernd und bleich da, unfähig ein Wort zu sprechen. Mia that ihr Möglichstes, um Luise zu beruhigen, die laut schrie. – Nach Verlauf von zehn Minuten stand Tom wieder auf trockner Erde, umgeben von lärmenden Menschen, und Karl wand das Wasser aus seiner Mütze, welche Tom fest in seiner linken Hand gehalten hatte. Sobald die Gefahr vorüber war, waren auch Sir Henry und Richard wieder die Alten, sie lachten und sprachen sehr laut und thaten ihr Bestes, um den ernsten Vorfall vergessen zu machen. – Horaz sah ein Weilchen ernster als gewöhnlich aus und sagte zweimal: »Er hoffe, es sei nicht seine Schuld gewesen, und Niemand hätte vorher wissen können, daß das Eis brechen würde und es wäre verteufelt dummes Eis, so unter Einem zu brechen.« –
Louis schien Willens zu sein, aus der ganzen Sache oder, wenigstens aus seinem Antheil an derselben wenig zu machen. Mia hörte, daß er Tom auf den folgenden Morgen zu sich bestellte. – Darauf wandte er sich ruhig an Luise und schlug vor, nach dem Herrenhause zu gehen, wo sie Alle von Frau Dalton erwartet wurden. –
Es hatten Alle für heute Schlittschuhlaufen genug gehabt. Niemand dachte mehr daran, die Knaben nahmen ihre Schlittschuhe ab und machten sich ruhig auf den Heimweg. Horaz, Richard und Sir Henry gingen zusammen und Louis, Karl und die beiden Mädchen folgten. –
»Ich denke,« – sagte Mia zu Louis, nachdem sie ein Weilchen schweigend gegangen waren, »ich denke. Sie haben nicht blos Tom's, sondern auch Karl's Leben gerettet.« –
»Ach Unsinn!« – sagte Louis tief erröthend, – »ich meine, – ich kann es nicht leiden, wenn man Alles so wichtig macht. – Ich kann überhaupt das viele Sprechen nicht leiden.« –
Nach solch einer Erklärung mußte man wohl stille sein, Mia wenigstens sprach kein Wort mehr und Karl nahm sich vor, seinen Dank für sich zu behalten. – So gingen sie weiter, und Jeder dachte bei sich, daß es schwer ist, Jemand zu lieben, der, so sehr er sich auch die Menschen verpflichte, in seinem Betragen aller Anmuth entbehrte. – Vielleicht dachte Louis Aehnliches. – Als sie in's Haus traten, drehte er sich zu Mia um und sagte:
»War ich sehr ungezogen?« –
»Es schadet Nichts,« – antwortete Mia.
»O!« – sagte Louis und es schien, als wollte er noch Etwas hinzufügen. – Mia wartete, aber es kam Nichts und da der Diener die Thüre offen hielt, so eilte sie Luisen nach, aus Furcht, nicht allein eintreten zu müssen.
Es war schon schrecklich genug dies Eintreten! Da waren so viele Herren und Damen und alle waren Mia unbekannt. – Sie hoffte, unbemerkt in irgend eine Ecke schlüpfen zu können, aber zu ihrer großen Verwunderung kam ihr Lady Wentlock entgegen, faßte sie bei der Hand und sagte, sie freue sich, in ihr solch' eine ächte Harley wieder zu sehen. – Sie gliche ihrer Mutter auf ein Haar, aber mehr noch einem schönen Bilde in dem Herrenhause, welches Lady Wentlock von jeher bewundert habe. –
Mia wußte nicht, was sie sagen sollte, aber Frau Dalton erhob sich und flüsterte der Lady Etwas in's Ohr. – Mia verstand: »Es ist nur Fräulein Merton.« Darauf ging Lady Wentlock nach dem andern Ende des Zimmers und sah, wie es Mia vorkam, sehr unzufrieden aus. – Aber es war wirklich nicht Mia's Schuld, wenn sie wie eine ächte Harley ausgesehen, sie hatte es nicht beabsichtigt. –
Einige Augenblicke darauf meldete ein Diener, daß das große Frühstück bereit sei und Alle gingen nach dem Eßsaale. –
Mia saß zwischen Sir Henry und Richard. Niemand kümmerte sich um sie, oder legte ihr Etwas vor, und sie fürchtete sich, sich selbst von den schweren silbernen Schüsseln vorzulegen, welche die Diener herum reichten, denn sie wußte nicht, ob Frau Dalton das nicht für eine große Freiheit halten würde. –
Da ihr das Essen also nicht viel zu thun gab, so blieb ihr desto mehr Zeit zum Beobachten übrig. Sie wunderte sich über Sir Henry's vieles Essen und über die Wichtigkeit, die er dem Essen beilegte. – Dann und wann rief ihm Lady Wentlock vom andern Ende zu, von dieser oder jener Schüssel nicht zu essen, aber das hatte nur die Folge, daß er sich desto mehr davon nahm. –
Lady Wentlock sah sehr verzagt aus und sagte: »Du wirst wieder krank werden, ich ängstige mich so sehr!« – Darauf wandte sie sich zu einer Dame, welche neben ihr saß und erzählte ihr von der Angst, die sie ausgestanden, als Sir Henry vor einigen Tagen krank gewesen war, und von der Mühe, die Knaben Einem geben, wenn sie zu den Ferien nach Hause kommen; sie glaubte aber, fügte sie hinzu, daß nicht alle Mütter so besorgt um ihrer Kinder Gesundheit und Wohlergehen wären, als sie es sei. –
Während dessen aß Sir Henry so viel, als er nur irgend konnte und dann unterbrach er seine Mutter mit seiner unangenehmen, heisern Stimme:
»Höre, Mutter, ich sage es Dir, morgen gehe ich mit Horaz und Richard Vernon auf die Entenjagd.« –
Lady Wentlock drehte sich schnell zu ihm hin und rief: »Mein Liebling, ich hoffe, Du wirst das nicht thun, Du wirst nicht so grausam gegen Deine Mutter sein! – Du weißt, ich würde die ganze Zeit über elend sein, denn ich bin überzeugt. Du würdest Dich tödtlich erkälten. – Nein, ich lasse Dich nicht gehen.« –
»Unsinn, Mutter! – Richard und Horaz gehen, weßhalb sollt' ich zu Hause bleiben? – Du hast immer solche Einfälle!« –
»Mein Liebling, das kommt von meiner zärtlichen Besorgniß für Dich her. – Ich bin sicher. Du wolltest mich nicht mit einer sorglosen, gleichgültigen Mutter vertauschen! Ich bin vielleicht zu liebevoll, zu besorgt, aber Du liebst mich deshalb nur noch mehr. – Nicht wahr, mein Kleinod?« –
»Ganz und gar nicht,« – schrie Sir Henry. – »Ich wollte lieber. Du machtest Dir gar Nichts aus mir, als daß Du Dich in alle meine Angelegenheiten mischest und alle meine Vergnügungen verdirbst!« –
Es folgte eine Pause, Alle sahen verlegen aus. – Endlich sagte Louis sehr ruhig, er glaube nicht, daß Horaz und Richard am Freitag Abend auf die Jagd gehen würden, denn sein Vater wäre auf zwei Tage verreist und hätte den Befehl zurückgelassen, daß Niemand während seiner Abwesenheit auf die Jagd gehen solle.
Das beruhigte Lady Wentlock und sie dankte Louis sehr. – Aber während sie mit ihm sprach, tauschten Horaz und Richard einige Winke aus und gaben dem Sir Henry, welcher sprechen wollte, ein Zeichen unter dem Tische. – Letzteres wußte Mia bestimmt, denn ihr Fuß wurde dabei getreten. Darauf begann ein Flüstern zwischen Richard und Sir Henry und da Mia in ihrer Mitte saß, hörte sie einige von den sehr leise gesprochenen Worten: »Das wird ein Hauptspaß sein … wir machen es eben so als wir es bei dem alten Doktor machten … Stille! jetzt nicht, – ihr Bruder ist gerade solch' eine Schlafmütze, wie Louis. – Also, Freitag Nacht! –«
Frau Dalton brach auf und Mia war recht froh, den flüsternden Knaben entrinnen zu können, und sich, nach dem bewegten Vormittage, wieder auf ihrem engen Sitze zwischen Mademoiselle und Luise zu befinden. – Sie vergaß während der angenehmen Fahrt und besonders Abends, als sie mit Karl und Luise Versteck spielte, während Frau Dalton ein Schläfchen hielt. Alles, was sie von dem Gespräche der Knaben gehört hatte. – Sie würde vielleicht gar nicht mehr daran gedacht haben, wenn an demselben Abende nicht Etwas vorgefallen wäre, was in ihr die Vermuthung erweckt hätte, daß die Knaben Heimlichkeiten vorhatten. Als sie sich nämlich auf einem dunklen Gange versteckt hielt, sah sie Horaz durch eine Thüre kommen, die nach der Hintertreppe führte, oben aus der Treppe stand Jemand mit einem Lichte, und sie sah deutlich, daß Horaz ein weißes Bündel in der einen Hand hielt, es schien ihr auch, als habe er in der andern eine Flinte, doch war sie dessen nicht gewiß, denn die Thüre wurde schnell wieder geschlossen und das Licht ausgelöscht. Er kam leise den Gang herauf und als er in Mia's Nähe war, stand er still und flüsterte: »Ich habe es gethan, hole Du die Laterne und den Schlüssel. Jetzt bleibt uns nur noch übrig, den Burschen Merton zu überreden.« –
Mia räusperte sich und trat hervor, um die Stubenthüre zu öffnen, aber während sie nach dem Drücker suchte, hörte sie die Fußtritte schwächer werden und die Thüre der Hintertreppe zuwerfen. Der Knall erweckte Frau Dalton, sie kam heraus und verbot den drei Kindern das Versteckspielen. –
»Ich bin sicher,« dachte Mia, als sie Frau Dalton in das Wohnzimmer folgte, »ich bin sicher, es ist nicht aus Neugierde, daß ich dies Mal hinter das Geheimniß von Horaz kommen möchte. Ich will Karl eine Warnung geben, damit er nicht durch ihn auf unrechte Wege geführt werde.«
Horaz und Richard kamen erst zum Abendessen und da die Kinder nicht spielen durften, so würde ihnen der Abend sehr lang geworden sein, ohne ein Plauderstündchen zwischen Mia, Karl und Louis, – es machte sie zu guten Freunden. – Mia hatte schweigend die schönen Einbände der Bücher bewundert, welche auf dem Tische des Wohnzimmers lagen, ohne den Wunsch zu haben, sie zu berühren, als Louis sie rief.
»Kommen Sie in die Bibliothek,« – sagte er, – »und sehen Sie sich meine Bücher an; ich weiß, Sie lieben Bücher.«
Louis' Bücher nahmen eine Seite der Bibliothek ein. Mia war ganz entzückt und rief Karl, um ihr Vergnügen zu theilen. Sie fand alte Lieblingsbücher, aber noch viele, deren Titel sie nicht kannte. –
»Nennst Du das unterhaltende Bücher?« – fragte Karl, als er sich einige angesehen hatte. »Dies ist ja gar ein lateinisches Buch!« –
»Es ist trotzdem sehr unterhaltend,« – antwortete Louis.
»Aber Du liesest doch nicht Latein zu Deinem Vergnügen?« – fragte Karl.
»Wenn es mir nicht Vergnügen machte, würde mich Niemand dazu auffordern,« – antwortete Louis und seufzte.
Karl lachte. »Du seufzest darüber, daß Dich Niemand zum Lernen zwingt, und das ist gerade, was ich mir wünsche.« –
»Du würdest es Dir nicht wünschen, wenn Du wüßtest, was es heißt, nicht so wie andere Leute zu sein und in jeder Beziehung anders behandelt zu werden.«
»Du bist gar nicht andern Leuten so sehr unähnlich, wenn man Dich näher kennt,« sagte Karl. »Du bist nur viel klüger, das ist Alles. – Und hier in England wirst Du wahrscheinlich auch ganz gesund und stark werden.« –
»Niemals!« – sagte Louis. »Ich weiß, daß ich auch im besten Falle niemals gesund und stark sein werde, und es ist möglich, daß ich ein Krüppel werde. – Mein Vater fürchtet das Letztere, ich sehe es ihm an und es betrübt mich mehr um seinetwillen, als um meinetwillen.« –
»Sie wissen,« sagte Mia, »daß kränkliche Menschen Großes in der Welt gethan haben, und Sie werden auch Großes thun.« –
» Volo valeo,« rief Karl. –
Louis lächelte und seine Augen leuchteten. »Dank Euch,« – sagte er, »ich denke oft daran und ich möchte wohl ein großer, aber noch lieber ein glücklicher Mann sein. Nun laßt mich Euch etwas Anderes sagen; nicht wahr, Ihr habt mich zuweilen recht verdrießlich gefunden, am ersten Abende und heute Morgen und sonst noch?« –
»Ja,« – sagte Karl, fügte aber auf einen bittenden Blick Mia's – »ein Bischen,« – hinzu. –
»Ich will mich nicht bei Euch deshalb entschuldigen,« fuhr Louis fort, – »aber da ich Euch gut bin und wünsche, daß wir Freunde werden möchten, so will ich Euch bitten, Geduld mit mir zu haben. Wenn Ihr so viele Schmerzen hättet, als ich und so viele traurige Gedanken, und wenn Euch dabei die Leute immer mißverständen und quälten, so würdet Ihr vielleicht auch verdrießlich sein.« –
»Ich gewiß!« rief Karl. »Aber Louis, das ist für die Leute kein Grund, um Deine Launen angenehm zu finden.« –
»Nein, aber vielleicht, um sie mit mehr Nachsicht zu ertragen.« –
Mia war recht froh, daß in demselben Augenblicke ein Diener kam, um sie zum Abendessen zu rufen, denn sie errieth, daß Louis des Sprechens genug hatte.