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Karl und Mia waren so besorgt, daß noch irgend eine Unterbrechung oder Versuchung kommen könnte, daß sie während des ganzen Tages kaum eine Pause von zehn Minuten machten. Mia rechnete während des Essens, aber Karl setzte sich nicht einmal hin, sondern aß knieend sein mit Fleisch belegtes Butterbrot und jätete dabei. Endlich war der glückliche Augenblick da. Die Geschwister rissen mit vereinter Kraft das dicke Unkraut heraus, das sich über die Parkthüre hinwegzog, Karl schwang es über seinen Kopf und rief so laut Hurrah, daß die Krähen, die gerade zu ihren Nestern hinter dem Hause heimkehrten, aufschreckten, und daß Nanny herausstürzte, um nach der Veranlassung des Hurrahs zu fragen. –
Aber Nanny war nicht die einzige Person, welche herbeikam. – Ein langer Herr mit weißem Haar war schon lange in der Allee jenseits der Parkthüre auf und ab gegangen, aber die Kinder hatten ihn nicht bemerkt. Bei Karl's Jubelruf drehte er sich um und beobachtete den Knaben, der die mit Erde bedeckten Wurzeln über seinen Kopf schwang, und Mia, die an ihrem Hute zupfte und ihr Haar ordnete, welches auf ihre Schultern gefallen war, als sie das letzte Unkraut herausgezogen hatte. – Gerade als Karl nach seinem letzten Siegesrufe seine Siegestrophäe über den Zaun werfen wollte, fühlte er sich fest am Arm gehalten. Er drehte sich hastig um und erblickte zu seiner großen Verwunderung den langen Herrn, von dem er mit Mia so oft gesprochen hatte. –
»Was macht Ihr hier?« – fragte der lange Herr, »was bedeutet der Spektakel, wenn ich Ruhe haben will, und wie kommt Ihr dazu, auf meine Beete Unkraut zu werfen? – Wer seid Ihr?«
»Wir sind Karl und Mia Merton,« – antwortete Karl keck, »und wir haben kein Unkraut umher geworfen, sondern die Beete gejätet.« –
»So, – und wer erlaubte Euch das? – Was habt Ihr mit meinen Beeten zu schaffen? – Sie gehören nicht Euch. Könnt Ihr wissen, ob ich es nicht liebe, meinen Garten ganz bedeckt mit Unkraut zu haben? – Wie dürft Ihr Euch herausnehmen, mein Unkraut zu stehlen?« –
Die Frage war verblüffend!
Karl, der anfänglich seine glänzenden Augen fest auf den Herrn gerichtet hatte, schlug sie zu Boden und begann seine Aermel auf und zu zu knöpfen. Dann faßte er sich wieder ein Herz, blickte auf und sagte:
»Aber Sie haben doch Nanny's Enkelsohn gesagt, er solle hier jäten.« –
»Das ist möglich, aber deshalb habe ich es Euch noch nicht gesagt. – Nun, laßt mich sehen, wie viel dummes Zeug Ihr gemacht habt. – Wo fingt Ihr an?« –
»Wir fingen beim Herrenhause an und haben bis zur Parkthüre gejätet; da in der Ecke liegt alles Unkraut; wir haben es auf einen Haufen gelegt.« –
Der lange Herr ging langsam von der Parkthüre bis zum Hause, blickte genau nach beiden Seiten, aber erspähte kein einziges zurückgebliebenes Unkraut. Als er zu Mia und Karl zurückkam, welche ängstlich mit einander gesprochen, machte er ein sehr sonderbares Gesicht, daß Mia ganz verwundert war, er runzelte die Stirn so, daß die Augenbrauen fast zusammenkamen und dennoch krümmten sich die Mundwinkel gerade so, als wenn er lächeln wollte. –
»Wie sollen wir es machen, um von ihm die halbe Krone zu fordern?« – fragte Mia ihren Bruder.
»Die halbe – was?« – fragte der Herr, der es hörte, obgleich Mia sehr leise gesprochen hatte. »Sagtest Du halbe Krone? – Hoffentlich fällt es Euch nicht ein, eine halbe Krone dafür haben zu wollen, daß Ihr ohne Erlaubniß in meinen Garten kommt, und einen Haufen Unkraut in den Fahrweg werft, gerade als ob Ihr es darauf angelegt hättet, Wagen in Gefahr zu bringen.« –
»Ach – aber, Herr – lieber Herr!« – rief Mia, »ich hoffe, Sie werden uns das Geld geben, es ist ja für Tom und er will es seinem Vater senden, und Sie versprachen ihm doch eine halbe Krone, wenn er bis zum Thore jätete.« –
»Ja, allerdings, aber ich versprach ihm keine halbe Krone, wenn Ihr es jätetet. – Ich miethe mir meine Arbeiter gern selbst und mache selbst mit ihnen ihren Lohn ab.« –
»Nun denn, Herr,« rief Karl, dessen Gesicht immer röther und röther geworden war, bis er endlich die Farbe einer Damascener Rose angenommen hatte, »ich will Ihnen Etwas sagen: Wenn Sie dem Knaben nicht eine halbe Krone geben, nachdem wir so schwer gearbeitet haben, damit wir sie für ihn verdienten, so nenne ich das ungerecht, geizig und eine Schande, und ich werde niemals glauben, daß Sie der Knabe sind, der das Kreuz gemacht hat.« –
»Sei still, Karl,« – bat Mia.
»Fahr fort, Karl,« sagte der lange Herr; »aber sei Deiner Sache gewiß, ehe Du erklärst, daß ich ungerecht, grausam und geizig bin, und daß ich nicht der Knabe bin, der das Kreuz gemacht hat.« –
Die Runzeln verschwanden ganz, als er dies sagte und plötzlich überzog ein freundliches Lächeln sein Gesicht, daß Mia sich gar nicht mehr vor ihm fürchtete und seine Hand ergreifend, sprach:
»Sie necken uns nur, und Sie beabsichtigen gewiß, uns die halbe Krone zu geben.« –
»Sie irren sehr, mein kleines Dämchen; ich beabsichtige ganz und gar nicht, Euch die halbe Krone zu geben.« –
»Aber Sie wollen sie dem armen Tom geben?« –
»Nein. – Ich werde Niemanden eine halbe Krone geben, und ich halte Wort, selbst im Scherze.« –
»Das thut mir sehr, sehr leid,« – sagte Mia, ließ seine Hand los und trat zur Seite, um die Thränen zu verbergen, welche durch die getäuschte Hoffnung hervorgelockt waren. –
»Du, Karl, zürnest mir wohl sehr?« – fragte der lange Herr.
»Ja, das thue ich,« – antwortete Karl fest.
»Höre« – sagte der Herr, – »ich habe Euch nicht für's Jäten gemiethet, und deshalb sehe ich nicht ein, weshalb ich Euch dafür bezahlen, noch weniger, weshalb ich Euch gerade eine halbe Krone dafür geben soll. – Wir haben Nichts mit einander abgemacht, und Du Karl, der von Gerechtigkeit spricht, Du solltest doch einsehen, daß – im Fall ich Euch Etwas gebe – ich das Recht habe. Euch die Belohnung zu geben, die mir gefällt. – Ich werde darüber nachdenken. – Kommet künftigen Sonnabend her, – bis dahin verbiete ich Euch, in meinen Garten zu kommen, – dann sollt Ihr erfahren, wie hoch ich Euer Jäten anschlage.« –
»Aber künftigen Sonnabend ist es zu spät,« – entgegnete Karl, – »wir wollen ja Nichts für uns haben, wir wollen nur –«
»Ich sagte auch nicht, daß ich Euch Etwas geben werde. – Ich weiß recht gut, was Ihr wünschet. – Ich gebe Dir eine größere Aufgabe, Karl, als die war, den Garten zu jäten. – Ich wünsche, daß Du Dich weder wunderst, noch verdrießlich, noch traurig bist, daß Du mich weder für ungerecht, noch geizig oder sonst Etwas erklärst, bis Du mehr von mir hörst. – Jeder kann thun, was er will. – Volo, valeo, Karl.« –
Die Geschwister sahen sich verwundert an.
»Er ist ein Zauberer,« – flüsterte Mia, – »er muß Alles gehört haben, was wir im Tapetenzimmer gesprochen haben.« –
Mittlerweile hatte der lange Herr Mia's Korb in die Höhe gehoben und hinein gesehen.
»Was habt Ihr hier?« – fragte er – »Brombeeren?« –
»Ja,« erwiderte Mia, »ich war durstig und da hat Karl mir ein Blatt voll Brombeeren jenseits der Hecke gepflückt. Ich hob ihm einige auf, damit er nach der Arbeit Etwas zu essen habe.« –
»Häßliche, saure Dinger,« sagte der Herr, »nicht halb reif. – Ich vermuthe, Ihr saht nicht die schönen Birnen da auf dem Baume oder die Pfirsiche und Aprikosen an der südlichen Mauer.« –
»Was meinen Sie damit, mein Herr?« – sagte Karl. – »Die Birnen und Pfirsiche gehören uns nicht; wenn wir sie gepflückt hätten, hätten wir gestohlen.« –
»Ach so,« – sagte der lange Herr. »Ich dachte nur, da Ihr ohne Erlaubniß Unkraut ausjätet, so pflücktet Ihr Euch auch vielleicht Obst ohne Erlaubniß.« –
»Sie irren sich sehr,« – antwortete Karl.
»Du könntest wahrscheinlich nicht einmal die Pfirsiche erreichen, wenn Du es auch versuchtest,« – fuhr der lange Herr fort, – »Du bist ja so ein kleiner Bursche.« –
»O Karl könnte es wohl,« – rief Mia, – »er kann so hoch klettern, wie er will, und Alles erreichen, was er will.« –
»Das wollen wir einmal sehen. – Ich bin sehr durstig, gehe, pflücke mir den Hut voll Aprikosen und Pfirsiche, während Mia und ich über Exempel sprechen. Ich denke, lange Dividir-Exempel sind nicht ihre Stärke, ich muß das durchsehen, was sie hier auf der Tafel gerechnet hat, ich fürchte, ich werde Fehler entdecken, statt des Quotienten steht vielleicht Etwas über ein Gespenst.« –
»Ich möchte am Liebsten fortlaufen,« dachte Karl, »denn vielleicht fängt er noch an mit mir über die Lateinische Grammatik zu sprechen. Mich würde es nicht wundern, wenn er verlangte, ich solle sie ihm von Anfang bis zu Ende aufsagen. Gewiß, ich liefe fort, wenn er dann nur nicht dächte, daß ich mit dem Obst weggelaufen bin.« –
Als Karl mit einem Hut voll der schönsten Aprikosen und Pfirsiche zurückkam, schien der lange Herr noch mit Mia's Tafel beschäftigt zu sein.
»Schütte sie in Deiner Schwester Korb,« – sagte er, »und dann flink hinauf und hole mir die allerschönsten Birnen. – Nimm Dich in Acht, damit Du nicht den Hals brichst! – Bei meiner Treu, solch einen Kletterer sah ich nie zuvor. – Vorsicht! Sieh, wohin Du steigst! Nun, ich bin froh, Dich wohlbehalten unten zu sehen. – Aber welch eine Menge Du gepflückt hast; wie soll ich die alle aufessen, es wäre ganz genug, um Einem die Cholera zuzuziehen. Du wirst so gütig sein, sie auch in den Korb zu schütten und mitzunehmen. – Dein Exempel ist ganz richtig, Mia, und so denk' ich, wär' es Zeit für Euch nach Hause zu gehen.« –
Mit diesen Worten wandte er sich um und ging dem Herrenhause zu. –
»Bitte,« rief Karl, – »bitte, was sollen wir mit dem Obst machen? – ich verstand Sie nicht. – Und dann möchten wir, wenn Sie es erlauben, noch mit Tom wegen der halben Krone sprechen.« –
»Wegen welcher halben Krone?« – fragte der lange Herr, zurückkommend. – »Ihr habt mit Tom Nichts zu sprechen. – Ueberlaßt es mir! – und nun, Junker Karl, merkt es Euch, dieses Haus gehört mir und ich wünsche, daß Ihr vor künftigem Sonnabend nicht herkommt.« –
»Welch ein sonderbarer Mann das ist!« – sagte Mia zu Karl, als sie den schweren Korb zwischen sich tragend, nach Hause gingen. »Zuerst spricht er so verdrießlich zu uns, und dann schenkt er uns all dieses schöne Obst. – Welch schönes Abendessen für unsere Eltern! Ich weiß selbst nicht, ob er mir gefällt oder mißfällt! – Anfänglich war ich Tom's wegen sehr erschreckt und traurig, aber jetzt denke ich, er hat etwas Gutes im Sinn, denn er sagte doch: Ihr habt mit Tom Nichts zu sprechen, überlaßt das mir. – Er wird den armen Tom nicht verlassen, ich hoffe, er wird ihm das Reisegeld für seinen Vater geben. – Aber warte, er sagte auch, daß er Niemanden eine halbe Krone geben werde, und daß er immer Wort halte, selbst im Scherze. – Was sollen wir machen, um uns nicht zu wundern und wie schwer wird es sein, eine ganze Woche geduldig zu warten!« –
»Ich möchte nur wissen,« – sagte Karl, »wie viel er von unserm Gespräch im Tapetenzimmer gehört hat. Wenn ich nur ganz gewiß wüßte, daß er der Knabe ist, ich meine der Volo, valeo Knabe, – dann wäre ich nicht im Geringsten unruhig, denn dann wüßte ich auch, daß er das Richtige thun wird.« –
»Ich weiß gewiß, daß er kein Knabe ist, sondern ein Mann,« – sagte Mia lachend. »Das Beste ist, daß die Eltern heute nach Hause kommen und daß wir ihnen Alles erzählen können, und hören werden, was sie dazu sagen. Jetzt ist es sieben Uhr und Georg sagt, daß wir sie um halb neun Uhr erwarten können. – Ich wünsche nicht einmal, daß sie früher kommen möchten, denn es bleibt mir gerade nur Zeit genug für Alles, was ich zu thun habe. Ich muß mir Gesicht und Hände waschen, mein Haar bürsten, mein Sonntagskleid anziehen, mein heutiges Exempel abschreiben, meine Schiebladen in Ordnung bringen, meine Handschuhe ausbessern, frische Blumen in die Vasen stecken, die Melodie des Sonntagsliedes spielen, die Psalmen und Gebete in den Gebetbüchern der Schulkinder aufschlagen, und wenn mir noch Zeit übrig bleibt, werde ich –«
»Aber, Mia, Dir wird keine Zeit übrig bleiben. Ich bin froh, daß ich nicht solch eine Unmasse Geschäfte habe. – Ich habe nur meine Jacke und Hosen zu wechseln, aber vorher werde ich mich in's Arbeitszimmer setzen und die beiden letzten von den Regeln lernen, die der Vater angestrichen hat, und dann noch alle einmal überlesen. – Ich werde lange vor Dir fertig sein.« –
Karl war aber nicht lange vor Mia fertig. Gerade als er, seine letzte Regel singend, die Treppe hinauf lief, begegnete er Kitty, und die schickte ihn wieder hinunter in sein Zimmer, damit er sich ordentlich mache. Was noch schlimmer war, sie folgte ihm auf dem Fuß und bestand darauf, ihm selbst das Haar zu scheiteln und zu bürsten. Sie versuchte auch die Falten auf seiner Sonntagsjacke zu glätten, und er bedauerte jetzt, die Jacke nicht ein Bischen ordentlicher fortgelegt zu haben. Er kam erst glücklich wieder in das Wohnzimmer, als es halb neun schlug und fand Mia, welche ihre Unmasse Geschäfte sorgsam verrichtet hatte, bei dem Theetisch. Sie hatte des langen Herrn Pfirsiche und Birnen in zwei Körbe geordnet, und stellte sie mitten darauf.
Wie es oft zu geschehen pflegt, so mußten sie noch eine halbe Stunde warten, und hätten sich nicht so übereilen dürfen. Mia schien die halbe Stunde eine ganze zu sein und sie war auf die Uhr böse, als sie neun schlug, denn sie hatten doch schon so sehr lange gewartet. Sie wollte eben zu beweisen suchen, daß die Uhr stehen geblieben sein müsse, daß es gewiß zehn Uhr sei, und daß die Eltern sicherlich abgehalten wären, heute Abend nach Hause zu kommen, als Karl das Gerassel des Wagens hörte, und eine halbe Minute später standen die Kinder an dem geöffneten Thorwege, um beim Willkomm der Eltern die Ersten zu sein. –
Nun folgte ein Lärmen, ein Küssen und Händeschütteln, gerade als hätte man sich seit einem Jahre nicht gesehen, und selbst als sie schon im Wohnzimmer waren und Mia der Mutter Hut und Shawl nach oben getragen hatte, konnte Frau Merton noch immer nichts Anderes thun, als ihre Kinder ansehen. Sie fand sogar im ersten Augenblick, daß Beide während ihrer Abwesenheit gewachsen waren, bis sie überlegte, daß sie ihr wohl nur deshalb so rosig und groß vorkamen, weil die Stadtkinder, die sie gesehen hatte, so bleich und klein waren. –
Mia hatte Karl gebeten, nicht vor der rechten Zeit die Begebenheiten der Woche zu erzählen, und da er behauptet hatte, er verstehe sich nicht auf rechte Zeiten, so mußte er versprechen, nicht eher davon zu reden, als bis Mia anfing. – Er bemerkte aber bald, daß es nicht leicht sei, sein Versprechen zu halten, denn Mia fing immer nicht an, trotz aller Zeichen, die er ihr machte. Sie wartete, bis Kitty ihre Berichte über die Kranken im Dorf beendet und das Zimmer verlassen hatte und bis Papa seine Briefe gelesen und mit der Mutter darüber gesprochen hatte. Selbst bei einer sehr guten Gelegenheit, während des Theetrinkens, als Mama die Pfirsiche bemerkte und fragte, wer sie gesendet, antwortete Mia Nichts weiter, als: »Ich werde Dir nach und nach Alles sagen, Mama, wenn Du mit dem Theetrinken fertig bist.« –
Endlich als der Thee getrunken war, als Kitty die Tassen fortgenommen, Mia sich auf ihr altes Plätzchen, in den kleinen Stuhl zu Mama's Füßen, und Karl sich auf seines, auf den Arm von Papa's Lehnstuhl gesetzt hatte, sagte sie, Karl ansehend: »Jetzt ist es Zeit, anzufangen.« –
»Anzufangen? – Und was?« – fragte die Mutter fast erschrocken. »Ich bemerkte schon den ganzen Abend, daß Karl Etwas auf dem Herzen hat, – sagt mir schnell, was ist es?« –
Sonderbar! Als sie alle schwiegen und ihn ansahen, wußte Karl nicht, was er sagen, noch wo er anfangen sollte. – Er wurde ganz roth und fing am verkehrten Ende an; damit, daß der lange Herr es abgeschlagen habe, ihnen die halbe Krone für Tom zu geben, daß sie nicht wüßten, was er am Ende der Woche thun würde, daß er gehört, was sie im Tapetenzimmer zusammen gesprochen, und daß er Mia's Exempel durchgesehen habe. –
Mia erschrak heftig. Sie fürchtete, Karl würde Alles von der Grammatik und dem Rechnen erzählen und das sollte erst herauskommen, wenn die Lehrstunden begannen.
Aber glücklicherweise unterbrach ihn Mama mit den Fragen: »Welcher lange Herr? – Und welcher Tom? – Und welche halbe Krone?« – Sie bat Karl um Entschuldigung, aber sie verstand kein Wort von Allem, was er sagte. –
Nun ergriff Mia das Wort, denn Karl winkte ihr zu, er wußte, daß Mia eine eigenthümliche klare Art hatte, Etwas zu erzählen. Sie fing mit ihrem ersten Gange nach dem Herrenhause, nach der Abreise der Eltern an, und berichtete Alles genau, was sich zugetragen hatte, nur sagte sie kein Wort über Karl's Betragen bei Gelegenheit des Elephanten, und dann schien es nach ihrer Erzählung, als habe Karl Alles gethan und sie habe ihm nur geholfen. Herr und Frau Merton unterbrachen sie nicht, aber als Mia erzählte, wie sie es abgeschlagen hatten mit Frau Thorold zu fahren, fühlte sie sich von ihrer Mutter Arm umschlossen und Karl bemerkte, daß der Vater sich die Hände rieb, und das that er immer, wenn ihm Etwas Freude machte. –
Als Mia zu Ende war, war es Zeit zum Abendgebete, deshalb konnte nicht mehr viel gesprochen werden, nur Eins hörten die Kinder mit Befriedigung, daß nämlich die Eltern gar nicht daran zweifelten, daß der lange Herr die Absicht habe, Tom Gutes zu thun. – Der Vater ging noch weiter, er versprach Mia, Erkundigungen einzuziehen und im Fall Aussicht sei, daß Tom's Vater im Dorfe Beschäftigung fände, solle ihm das Reisegeld nicht fehlen. –
Beide Eltern hielten es jedoch für's Beste, daß die Kinder den Rath des langen Herrn befolgen und geduldig das Ende der Woche abwarten möchten, ohne sich zu wundern und ohne traurig oder allzu hoffnungsvoll zu sein, bis sie erführen, was der lange Herr thun würde.
»Aber das wird sehr schwer sein,« – sagte Karl. »Die Woche wird mir sehr, sehr lang vorkommen; ich wollte, es wäre schon künftiger Sonnabend.« –
»Weshalb wünschest Du eine ganze Woche fort?« sagte Frau Merton, »Du kannst nicht wissen, wie viel Angenehmes Dir darin begegnen mag.« –
Und es wäre Schade um die Woche gewesen, denn es geschah darin viel Angenehmes. – Es war zuerst sehr angenehm, am Sonntag Morgen Mama statt Kitty beim Frühstückstische zu finden, und all die Anekdötchen von ihrer Reise zu hören und von den Bekannten, die sie gesehen hatte. – Es war besonders für Mia sehr angenehm, daß dies wirklich ein Tag der Ruhe nach der Arbeitswoche war, die Stille des Sonntagsmorgens hatte den Kindern noch nie so sehr gefallen, als an jenem Tage. –
In der Kirche wurde Mia's Aufmerksamkeit ein Wenig durch die Erscheinung des langen Herrn zerstreut, er kam, ohne Umstände, in ihren Stand und es schien ihr, als ob er sie dann und wann ansähe und sie hatte große Mühe, ihre Augen nicht von ihrem Gebetbuche zu wenden. – Nach dem Gottesdienste wartete er in der Vorhalle, bis Herr Merton aus der Sakristei kam und dann ging er mit ihm den ganzen Weg bis nach Hause. Er schien sehr ernst mit ihm zu sprechen, aber die Kinder, die mit ihrer Mutter nach kamen, konnten kein Wort verstehen. –
»Der Papa wird uns erzählen, was er gesagt hat,« – flüsterte Mia dem Bruder zu, aber sie irrte sich sehr. Was auch der Vater erfahren haben mochte, die Kinder erfuhren Nichts. Vergebens waren ihre Fragen, die einzigen Antworten, die sie erhielten, waren: »Wartet bis zum Sonnabend! – Geduld bis zum Sonnabend!«