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Mia erwachte am nächsten Morgen, trotz der guten Vorsätze, mit schwerem Herzen. Sie wußte selbst nicht, was oder wer daran schuld war. – Frau Dalton? – Das Gypsmodell? – Oder die Möglichkeit, daß Karl, sollte er heute wieder auf die Jagd gehen, Richard wirklich erschieße? – Je mehr sie nachdachte, je schwermüthiger wurde sie, da hörte sie plötzlich im Hausflur Jemand pfeifen. – Es war Karl! – Was fiel ihm nur ein? – Er wußte ja, daß selbst die Mutter solch' lautes Pfeifen im Hause nicht gerne hatte! – Mia sprang auf, denn sie sah ein, daß sie besser daran that, neuen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, als über alte nachzudenken. – Als sie mit dem Anziehen fertig war, war alle Schwermuth fort, und Herr Harley legte seine Hand auf ihr Haupt, als sie in's Frühstückzimmer trat, und sagte: »Ich wollte, alle Kinder kämen mit so freundlichen, lachenden Gesichtern Morgens aus ihren Schlafzimmern.« –
Er sagte das nicht ohne Absicht, denn Richard und Horaz saßen sehr mürrisch am andern Ende des Tisches, und während des Frühstücks erfuhr Mia den Grund davon; es war derselbe, der auch auf Karl's Gesicht eine getäuschte Hoffnung lesen ließ. – Herr Harley hatte ihnen verboten, auf die Jagd zu gehen; er selbst ward durch Geschäfte davon abgehalten, Louis hatte sich noch nicht von seiner gestrigen Müdigkeit erholt und er hielt es für gefährlich, die drei Knaben allein gehen zu lassen. »Es scheint mir wahrscheinlicher, daß Ihr Euch gegenseitig erschießt, als daß Ihr Rebhühner nach Hause bringt,« sagte Herr Harley. –
Bei diesen Worten sah Louis nach Karl hin und Karl's Augen blitzten hell auf, gerade als hätten ihm die Worte besonders eingeleuchtet. Er wandte sich zu Herrn Harley und sagte in seiner gewohnten, ehrlichen Weise: »Am Ende haben Sie ganz Recht, Herr Harley; ich glaube wirklich, ich möchte Jemand erschießen. – Sie wissen, ich thue das oft, – d. h. ich meine, ich mache oft Dummheiten. Es ist mir lieb, daß wir heute nicht auf die Jagd gehen werden.«
»Der unerträgliche Dummkopf!« – murmelte Richard.
Herr Harley sagte freundlich: »Und mir ist es lieb, daß wenigstens Einer von Euch ein Vergnügen ohne Unmuth aufgeben kann. Dafür will ich gleich ein andres vorschlagen. Ich kann Euch nicht auf die Jagd gehen lassen, aber ich habe Nichts gegen Euer Ausreiten. Die Jagdhunde der Grafschaft werden heute in Hovingham losgelassen, und Ihr könnt hinreiten und Euch die Sache ansehen. Ich werde Euch einen Bedienten mitgeben, aber Keiner von Euch darf der Meute folgen. – Du kannst doch reiten, Karl?« –
»Vortrefflich!« – sagte Karl. – »Auf einem Esel,« ergänzte Mia, – aber Karl bekam plötzlich solch einen Hustenanfall, daß Mia's Bemerkung von Niemand gehört wurde und dann blinzelte er ihr so gewaltig zu, daß sie sie nicht zu wiederholen wagte. Sie tröstete sich mit der Hoffnung, daß es nichts Gefährliches sein würde, wenn Karl auch Etwas zustoßen sollte. Karl fiel immer von Etwas oder auf Etwas, aber er that sich nie Schaden und so, hoffte sie, würde es auch gut ablaufen, sollte er heute vom Pferde fallen. Jedenfalls wollte sie sein Vergnügen nicht durch ihre Besorgniß verderben; als sie ihn daher von der Hausthüre aus hatte fortgaloppiren sehen, ging sie mit einem recht bewußt fröhlichen Gesichte nach oben, um sich zu einem Spaziergange mit Mademoiselle und Luise anzuziehen. – Wenn man nur froh sein will, kommen schon fröhliche Dinge, so fand es wenigstens Mia an jenem Tage. Es war ein heller, warmer Morgen, gar nicht wie ein Wintermorgen, und Mia machte es viel Vergnügen, ihren beiden Begleiterinnen ihre Lieblingsplätze in den Gärten und Anpflanzungen und die schönsten Aussichten zu zeigen. – Da war die immer grüne Eichenanpflanzung und die kleine Brücke, von der an frostigen Tagen so schöne Eiszapfen herabhingen und der Abhang, von dem aus man, besonders jetzt, da die Bäume blätterlos waren, die Kauklas-Berge und den Kirchthurm von Oswald sehen konnte. – Es war ganz zum Erstaunen, wie Mia plötzlich gut französisch sprechen konnte, und wie sie gar nicht mehr an die unregelmäßigen Zeitwörter dachte, indem sie mit Mademoiselle redete. Aber das Beste von Allem war, daß Luise sehr bald des Gartens überdrüssig war und nach dem Dorfe zu gehen verlangte. – Mia führte sie bei dem Predigerhause vorbei und hatte das gute Glück, Georg vor der Stallthüre fegen und Kitty hinter dem Küchenfenster eine Citrone reiben zu sehen; sie nahm sich gleich vor, diese interessante Begebenheit Karl so bald als möglich mitzutheilen. Es kam ihr vor, als wären sie schon ein ganzes Jahr von Hause fort und als blickte der Klopfer an der Hausthüre sie vorwurfsvoll an, – bei alledem war es doch sehr erfrischend, das Alles gesehen zu haben. –
Als sie heim kamen, war es zweite Frühstückszeit und nach dem Frühstücke forderte Herr Harley Mia auf, in die Bibliothek zu kommen und ihm und Louis beim Auspacken von Büchern und Bildern zu helfen. Frau Dalton zog ihre Augenbrauen voll Erstaunen in die Höhe, als sie das hörte, und Luise winkte ihr zu, nicht zu gehen, aber Louis hielt ihr höflich die Thüre offen, damit sie seinem Vater folge, und so hielt sich Mia verpflichtet, es zu thun. Anfänglich meinte sie, es würde sie verlegen machen, mit Herrn Harley und noch mehr mit Louis zu reden, aber das war gar nicht der Fall! – Sie fühlte sich in fünf Minuten so zu Hause, als ob sie die alte Bücherkiste im Predigerhause auszupacken hätte. – Sie löste feste Knoten, stäubte Bilderrahmen ab, suchte nach fehlenden Bänden und war so vergnügt, als nur möglich. Die Stunden vergingen schnell, denn Herr Harley war gar zu unterhaltend. – Er erklärte ihr Bilder, ließ sie die Titel der Bücher lesen und erzählte ihr viele Anekdoten, die alle in Verbindung mit den indianischen Merkwürdigkeiten standen, welche sie aus den Kisten und Kästchen auspackten. – Auch Louis war wie ausgetauscht, es war gar nicht derselbe Knabe, wenn er mit seinem Vater war. Mia zählte, er lachte wirklich fünf Mal! – Ob er nur über Frau Dalton so denkt, wie ich? – dachte Mia. Und ob er auch findet, daß wir uns zu viele Freiheiten herausnehmen? –
Das Letzte, was Mia auspackte, war ein schöner Tisch mit Mosaik ausgelegt. Herr Harley suchte einen guten Platz für ihn aus, wo er im besten Lichte stand, und als er ihn gefunden, sagte er: »Louis, ich wünsche, daß Dein Gypsmodell hierher gestellt werde. – Hier will ich meinen Leseplatz haben und wenn ich vom Buche aufsehe, habe ich es vor mir.«
Louis erröthete und Mia's Herz klopfte laut. In demselben Augenblicke wollte Herr Harley das Zimmer verlassen und Mia streckte ihre Hand aus, um ihn zurückzuhalten. – Sie wollte sprechen, aber die Worte fehlten ihr, da fühlte sie sich am Arm gefaßt: es war Louis. –
»Stille! – Ich werde es ihm selbst sagen, wenn er sich, zum Mittagsessen ankleiden geht. – Ich werde schon Sorge dafür tragen, daß er nicht böse ist.« –
»O danke!« sagte Mia. »Aber woher wissen Sie es denn?« –
»Karl spricht laut und mein Zimmer stößt an das Frühstückszimmer. – Ich konnte nicht umhin, es zu hören. – Wenn ich Kopfweh habe, höre ich sehr scharf. – Es freut mich, daß ich Alles hörte, – auch die Geschichte von dem Diener und der bittern Frucht!« –
»Sind Sie wegen des Modells sehr böse?« –
»Nein. – Ich hörte ja Ihre Geschichte und da konnte ich nicht böse sein.« –
Louis erröthete und stockte, aber er sah so mild aus, daß Mia nicht begriff, wie sie ihn jemals hatte mürrisch finden können. – Mia dankte Louis im Herzen, aber sie sagte Nichts, denn sie kannte die Natur der Knaben genug, um zu wissen, daß Louis durch einen ausgesprochenen Dank nur verlegen werden würde. Sie war demnach ganz froh, sich von Luisen rufen zu hören und einen guten Vorwand zu haben, um ohne Weiteres aus dem Zimmer zu gehen. –
Karl ließ sich natürlich nicht in dem Theile des Hauses sehen, in dem Frau Dalton war, und so sah ihn Mia nicht vor der Essenszeit. Er kam nicht eher in's Eßzimmer, als nachdem schon Alle bei Tische saßen und Herr Harley das Tischgebet gesprochen hatte. Er war sehr erhitzt, seine Jacke war mit Staub bedeckt und das Haar hing unordentlich auf seiner Stirne. Mademoiselle zuckte die Achseln, Luise kicherte, Frau Dalton murmelte Etwas über Freiheiten und Herr Harley legte den Suppenlöffel hin, mit dem er gerade die Suppe austheilen wollte. Mia stand auf, um ihm ihren Platz zu geben, der zufällig der Thüre ganz nahe war, aber er beachtete den Wink gar nicht. – Statt Platz zu nehmen, ging er gerade auf Herrn Harley zu und stellte sich neben ihn. –
»Ich habe Ihnen Etwas zu sagen, Herr Harley,« sagte er mit heiserer Stimme.
»Ich habe Dir auch Etwas zu sagen: – Du kommst zu spät zum Essen.« –
»Das heißt sich Freiheiten herausnehmen,« – sagte Frau Dalton.
»Wo warst Du so lange?« – fragte Herr Harley.
»Im Stalle, – denn« –
»Er tritt bei jedem Schritte Schmutz in den Teppich,« unterbrach hier Frau Dalton.
»Denn,« fuhr Karl fort, – »ich bin mit Louis' Pony gestürzt und er hat beide Füße gebrochen. – Es thut mir sehr leid.« –
»Hm!« sagte Herr Harley. »Ist das Alles?« –
»Nein. Ich habe zwei Scheiben im Treibhaus eingeschlagen.« –
»Sonst noch Etwas?« –
»Ja, – die Reitpeitsche, die mir Louis geliehen harte, zerbrach auch und dann noch gestern – das Gypsmodell! – Das ist Alles.« –
»Ganz gut. – Jetzt thätest Du am besten, Dich hinzusetzen und Mittag zu essen. – Wir warten Alle.« –
Karl ging an's andre Ende des Tisches und sah sehr niedergeschlagen aus. – Louis machte ihm neben sich Platz. –
Mia beobachtete ängstlich Herrn Harley's Gesicht, aber sie konnte nicht errathen, ob er auf Karl böse war. Louis gab seinem schwarzen Diener hinter seinem Stuhle einen Auftrag, – sie vermuthete, daß er sich auf den Pony bezog; darauf aß er ruhig seine Suppe, gerade als wenn Nichts vorgefallen wäre. –
Horaz und Richard saßen Mia gegenüber, sie winkten sich zu und lachten, als Karl sich niedersetzte. –
»Sagt' ich's doch, er ist ein Dummkopf,« – flüsterte Richard. – »Warum giebt er sich selbst an, er hätte eine ganz andere Geschichte daraus machen können.« –
»Es ist gut für Dich, daß er es nicht that,« – antwortete Horaz etwas lauter. – »Wie würde der Onkel Dich angesehen haben, wenn Karl ihm gesagt hätte, daß Du ihn dazu reiztest, über die Schafhürde zu setzen und des Pony's Beine peitschtest, um ihn fallen zu machen, – daß Du ihm die Peitsche aus der Hand reißen wolltest und daß Du eigentlich die Fensterscheiben zerbrochen hast, denn Du weißt recht gut, daß Du ihn vordrängtest und daß – –«
»Stille, willst Du stille sein. Du Esel!« – rief Richard, der plötzlich bemerkte, daß Mia Alles hörte. –
Mia sah nach Karl hin und bei der Gelegenheit fing sie einen Blick von Louis auf, der sie hoffen machte, daß Louis nicht blos wenn er Kopfweh litt, schärfer als andre Leute hörte. – »Vielleicht,« – dachte sie, »wird dem Herrn Harley die Geschichte von Karl's Mißgeschick noch anders erzählt werden.« –
Louis sprach während des Mittagessens viel mit Karl und als das Dessert aufgetragen ward, führte er ihn mit sich fort, um mit seiner Hülfe eine Laterna magica in Stand zu setzen, die einigen Dorfkindern, unter denen sich auch Mia's und Karl's kleine Freunde aus dem Parkhäuschen befanden, gezeigt werden sollte. –
Der Abend verging so angenehm, daß er den unbehaglichen Mittag fast vergessen machte. – Weder Mia noch Karl hatten je vorher eine Laterna magica gesehen und dies war eine sehr gute. – Die Schiebebilder waren alle nach Zeichnungen von Louis, der für sein Alter ein guter Zeichner war, angefertigt worden, es waren meistens indische Landschaften oder ausländische Thiere. – Mia war entzückt, nicht bloß über die Bilder, sondern auch darüber, daß sie die Dorfkinder wieder sah und sich ihnen nützlich machen konnte. Als ihre älteste Bekannte nahm sie sich ihrer an, sprach mit ihnen, sah zu, daß die Kleinsten nicht versäumt wurden und daß die blöden Kinder beim Abendessen, welches in der Küche stattfand, nicht zu kurz kamen, sondern ihren richtigen Antheil erhielten. –
Ihre Fröhlichkeit bekam vor dem Schlafengehen einen kleinen Stoß. – Sie erfuhr nämlich, daß Frau Dalton gefunden hatte, daß sie sich viel zu sehr in den Vordergrund gestellt und sich viel zu wichtig gemacht habe. Und Karl klagte auch über sein Mißgeschick. Es gelang ihr nämlich, durch Louis' Beistand noch eine kleine Unterredung mit ihrem Bruder zu haben. Nachdem er ihr Alles erklärt hatte, erheiterte er sich wieder, denn er fand heraus, daß er nicht so sehr zu tadeln sei. Er endete mit folgender Betrachtung:
»Wenn einmal Etwas geschehen ist, und wenn man einsieht, daß man ein Narr gewesen ist, so nützt es Nichts, viel darüber zu sprechen, wer weniger oder wer mehr Schuld hat. – Das Wetter hatte auch seinen Antheil daran, denn wenn es gefroren hätte, wie es eigentlich sollte, so wären wir Schlittschuh gelaufen und ich hätte unmöglich so viel Pech haben können.« –