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Der Eisgang

Es war im April des Jahres 1856. Zacharias Topelius verbrachte die Nacht an seinem Schreibtisch, wie viele der vorhergehenden Nächte auch.

Wieder war es Frühling, die Zeit des Eisgangs. Er gedachte entschwundener Frühlingszeiten, wo er von der anbrechenden Freiheit gedichtet hatte.

»Nun wohl,« sagte er sich, »warum sollte ich nicht auch jetzt ein Frühlingslied dichten? Jetzt hab' ich mehr Veranlassung dazu, als je vorher.«

Aber er wies den Gedanken doch zurück. Er vermochte jetzt nicht zu dichten. Es war etwas eingetreten, was ihm noch niemals widerfahren war. Er war in diesem Frühjahr müde, war matt und mutlos.

Hastig stand er auf und wanderte in seinem Zimmer auf und ab. Er fühlte das Bedürfnis, in sich zu gehen, zu untersuchen, woher sie kam, diese dumpfe Gleichgültigkeit und Unlust, die ihn bedrückten.

Sie mußten ja ihren Grund in dem Entsetzlichen haben, das ihm vor zwei Jahren widerfahren war, als er für einen Verräter gehalten wurde. Der Frühling und Sommer des Jahres 1854 waren in der Tat eine Zeit der Prüfung für ihn gewesen, aber im Herbst war es doch schon etwas lichter geworden.

Er dachte an einen Brief, den er damals von seinem alten Freunde August von Essen bekommen hatte. Dieser wohnte in Schweden; aber die bösen Gerüchte über Topelius waren auch dorthin gedrungen.

Aus dieser Veranlassung schrieb August von Essen: »Ich habe die Art und Weise, wie Du vorgegangen bist, nicht billigen können, aber ich habe Deinen Mut und Deine Selbstaufopferung bewundert, durch die Du Dich, um ein edles Ziel zu erreichen, zum Märtyrer gemacht hast. Ich nenne es edel, groß, bewunderungswürdig, sich so aller Selbstsucht zu entkleiden, so trotz Schmach und Hohn unerschütterlich auf der Bahn weiterzugehen, die man für die rechte hält, und sich so vollständig selbst für die Allgemeinheit preiszugeben.«

Schon diese Worte hatten viel Gutes bewirkt. Es gab also doch noch jemand, der verstand, daß Zacharias sich für sein Vaterland aufopferte, daß er in seiner Art ein Märtyrer war. Und was von Essen weiterschrieb, hatte ihn tief gerührt:

»Es muß greulich sein, so allgemein mißverstanden zu werden. Vielleicht kann es ein wenig Balsam für die verwundete Seele sein, wenn ein alter Freund zu Dir kommt, Dir brüderlich die Hand reicht und ungefähr also spricht: ›Ich stimme Dir nicht bei, aber Du bist fortgesetzt eine edle, redliche Seele, das glaub' ich felsenfest, und solange Du das bist, bin ich auch Dein alter, treuer Freund!‹«

Ungefähr zur selben Zeit, wo Zacharias diese guten Worte von August von Essen erhielt, begann er seine Vorlesungen. Er hatte die ersten Stunden darauf verwendet, eine geographische Beschreibung der verschiedenen finnischen Landschaften vorzutragen; natürlich hatte er nur wenige Zuhörer gehabt, und diese hatten überdies äußerst mürrisch und sauertöpfisch dagesessen, wie um zu zeigen, daß sie in die Vorlesungen des geschmähten Professors nur gingen, um notwendiges Wissen zu erlangen. Mittlerweile hatte er eine Stunde lang von Österbotten gesprochen, und nachdem er auf dieses geliebte Thema gekommen war, hatten ihn die Erinnerungen und die ihm vorschwebenden Bilder mit fortgerissen, und so hatte er fast gegen seinen Willen recht lebhaft und stimmungsvoll gesprochen.

Als die Vorlesung zu Ende war, meinte er zwar, eine gewisse Bewegung bei der Jugend zu bemerken, hielt diese Annahme indes doch für ein Mißverständnis. Aber siehe, als er das nächstemal sein Katheder bestieg, war der Saal von Zuhörern ganz gefüllt, und man wollte seinen Vortrag über Österbotten noch einmal hören.

Das war ein großer Erfolg, und zwar ein andauernder. Alle seine Vorträge wurden nun von einer zahlreichen und dankbaren Zuhörerschar gehört, und er sah wohl, daß ihm alle allmählich ergeben waren. Sie dachten wie August von Essen, er habe zwar unrecht gehabt, aber sie wollten nicht glauben, daß er sich habe kaufen lassen. Und natürlich war dies mit dem Zustand des Sommers verglichen ein großer Fortschritt. In jenem Herbst wurde ihm auch noch eine große andere Hilfe zuteil. Im November gab er das dritte Heft der Heideblumen mit den Sylvia-Liedern, ein kleiner Knabe, das Studentenlied und vieles andere heraus. Und dieses Mal drang er durch. Er wurde von allen Kritikern als ein Dichter ersten Ranges anerkannt, und die große Menge schien derselben Ansicht zu sein. Die kleinen Sachen sprachen wohl auch zu den Herzen der Leser und legten Zeugnis davon ab, daß einer, der auf solche Weise dichtete, wohl ein Märtyrer für sein Land werden konnte, schwerlich aber Ränke dagegen schmieden würde. In einer der ersten Besprechungen sprach der Kritiker wirklich auch die Ansicht aus, es sei sehr keck von Topelius, seine Freiheitslieder zu veröffentlichen, da er ja der Sache der Freiheit untreu geworden sei. Aber da hatte sich Topelius ein Herz gefaßt und ihn zurechtgewiesen.

»Komm nicht in den Rosengarten mit sanften Worten, nur um dort einen Klettenbusch von den großen Weideplätzen hereinzuschleppen!« hatte er jenem Manne zugerufen, der die ganze Zeit einer seiner erbittersten Verfolger gewesen war.

Im Jahr 1855 hatte Zacharias auch die Zensurfrage behandelt und dabei klargelegt, daß er von dieser Seite keinerlei Protektion begehrt hatte. Alles hatte sich nun ziemlich ausgeglichen: man wollte nicht mehr glauben, daß er bestochen gewesen sei. Aber daß er unrecht getan hatte, vor England zu warnen und Treue gegen Rußland anzubefehlen, daran wollte man aufs bestimmteste festhalten.

Im März 1855 war indes Kaiser Nikolaus gestorben, und der russische Thron ward von Alexander II. bestiegen, von ihm, der schon in seinen jungen Jahren Beweise seiner Liebe und seines Verständnisses für die Finnen gegeben hatte, von diesem Zaren, der für freisinnig galt und keinen größeren Wunsch hatte, als alle seine Untertanen glücklich zu machen.

Zugleich mit dieser Veränderung hatte Topelius auch einen Umschwung im Gedankengang seiner Landsleute wahrnehmen können. Dieser und jener hatte allmählich erkannt, daß Zacharias möglicherweise die ganze Zeit über recht gehabt haben könne. Man konnte vielleicht hoffen, den Segen der Freiheit doch zu erlangen, selbst wenn das Land unter dem russischen Zepter verblieb. Vielleicht war gerade Topelius der Hellsehende gewesen, während sie, die andern, einfältige Träumer verblieben waren.

Und Alexander hatte in der Tat alle Erwartungen erfüllt. Vor ganz kurzem erst hatte er Finnland besucht und bei dieser Gelegenheit dem Senat aufgetragen, für die Einführung von Volksschulen zu sorgen, den Bau von Eisenbahnen zu fördern, die Unternehmungen von Handel und Schiffahrt zu erweitern, sowie Vorschläge zu machen betreffs besserer Besoldung der niederen Angestellten. Der Zar hatte sich sehr gnädig, sehr liebenswürdig gezeigt, man sah sicherlich einer neuen Zeit entgegen. Der eine und andere wagte zu prophezeien, die strengen Universitätsstatuten und Sprachen-Ukasse würden nun aufgehoben, ja man redete verstohlen von einem eigenen Landtag. Jetzt hatte der Kaiser auch den Krieg beendet. Am dreißigsten März war in Paris der Friede geschlossen worden.

Hatte da nicht Topelius Grund genug, in diesem Jahr ein Frühlingslied zu dichten, ein schöneres denn je zuvor, das bis jetzt aus seinem Gehirn hervorgegangen war?

O gewiß, gewiß!

Aber die Begeisterung, die Freude der Selbstaufopferung, die ihn während der ganzen schweren Zeit aufrechterhalten, hatten ihn nun verlassen. Unter 1855, wo der Krieg noch immer raste, wo Sveaborg bombardiert wurde, wo die Cholera verheerend einzog, wo das Land mannigfaltige Not litt, da hatte Zacharias' ganzes Wesen in einem innern Fieberzustand geglüht. Allerdings hatte er allmählich mit seinen herausfordernden politischen Artikeln Schluß gemacht. Warum gegen einen unterdrückten Aufruhr ankämpfen? Das deuchte ihn unnötig, und so war er zu seinen rein kulturellen Bestrebungen zurückgekehrt; aber das ganze Jahr hindurch hatte er doch mit großer Sicherheit gefühlt, recht gehandelt zu haben. Ein merkwürdiges Glücksgefühl war in ihm rege gewesen. Mit einer beinahe unnatürlichen Leichtigkeit hatte er die verlassen, die ihn quälten. Das Märtyrertum hatte er sich zur Ehre gerechnet: je mehr Plagegeister, desto größer der Ruhm dem geretteten Vaterland gegenüber.

Woher kam es nur, daß ihm die Spannkraft, die ihn bisher aufrecht erhalten hatte, nun abhanden gekommen war? War es darum, weil sich Finnland nicht länger in Gefahr befand? Jetzt fühlte er den Schmerz seiner Leiden, jetzt senkte sich die ganze Schwere der Demütigungen auf ihn herab. Immer wieder mußte er zu sich selbst sagen: »Was hab' ich gelitten! Was hab' ich doch gelitten!«

Und gleichzeitig hatte ihn ein heftiger Zorn ergriffen über die Bosheit und Grausamkeit der Menschen. Ein widerliches Schauspiel hatte sich vor ihm abgespielt. Schmerzvoll rang er die Hände. »Wo ist mein Rosengarten?« rief er aus. »Wie kann ich je wieder an ihn glauben und für ihn arbeiten?«

Zweifel an allem stiegen in ihm auf. Was hatte es für einen Zweck, nach Hohem zu streben? Die Menschen waren roh und verbrecherisch. Das Beste, was man von ihnen sagen konnte, war: »Sie sind unzurechnungsfähig, sie wissen nicht, was sie tun.«

»Was hab' ich gelitten!« stöhnte er. »Wie schrecklich haben sie mich leiden lassen! Hat nicht ihre Verachtung auf mir gelegen wie eine schwere Eisdecke? Sie haben mich so furchtbar frieren lassen. Deshalb, ja deshalb vermag ich jetzt nichts mehr.

Wie sollte ich ein Frühlingslied dichten können? Die Kälte ihrer harten Herzen hat mich aller lebendigen Kraft beraubt. Ich bin erfroren, versteinert.«

Aber dieser Zustand matter Niedergeschlagenheit, in dem er sich nun seit mehreren Wochen befand, war eine große Gefahr, das fühlte er deutlich. Er mußte neuen Lebensmut, neue Hoffnung, den Glauben an die Menschen wiederfinden, sonst mußte er unterliegen.

Er dachte nicht an den Fluß bei Nykarleby, denn mit ihm verbanden sich nur frohe Erinnerungen. Nein, er dachte an den Fluß bei Uleåborg, denn an dessen Ufern war er oft in traurigen Gefühlen von Kleinheit und Ohnmacht dahingewandert.

Wenn die Kameraden hart gegen ihn gewesen waren, die Aufgaben übermäßig lang, wenn die Einsamkeit schwer auf ihm lastete, dann war er nach dem zugefrorenen Flusse gelaufen und hatte sich gefragt, ob dieser unter seiner Eisdecke auch solchen Kummer habe wie er, ob es ihm verhaßt sei, gefesselt zu sein, ob er sich nach der Freiheit sehne?

So oft der Fluß zur Zeit des Eisgangs seine Fesseln sprengte, hatte Zacharias eine ganz überwältigende Freude empfunden. Dann war ihm, als habe er sich selbst freimachen können. Geradeso wie der Fluß wollte er selbst eines Tages dahergestürzt kommen, furchtbar, unwiderstehlich, die Hindernisse zur Seite schleudernd, allen denen, die meinten, er sei gefesselt, zeigend, daß – – –

Plötzlich unterbrach Zacharias seine Wanderung.

Nun kehrte es wieder zurück, jenes Gefühl, das seit solange vergessene Gefühl aus den Kinderjahren, daß er selbst ein mächtiger Fluß sei. Rasch eilte er an seinen Schreibtisch.

Er ergriff die Feder. Sein Atem ging schwer. Jetzt fühlte er wie einst. Er war der Fluß. Aber nicht der frohe, befreite Fluß, sondern der noch unter der Eisdecke gebundene.

Jawohl, so war es! Mit der Eisfessel der Verachtung hatte man ihn gebunden, und er hatte die Fesseln noch nicht gesprengt. Gelähmt lag er da. Sein Herz klopfte, aber nur schwach, das Leben war noch in ihm, aber das Gefühl des Gesundseins mangelte.

Jetzt schrieb er. Er sprach für sich selbst, er sprach für den Fluß. Es war ein und dasselbe. Sie fühlten beide gleich, sie waren eins.

»Bin Sklave ich? Wer sollte denn mich lehren,
Im Jugendlenz den Winter zu verehren?
Ich stolzer Sohn von Finnlands blauen Seen,
Frei kam ich in die Welt – frei will ich gehen!

Mein Herz in seines späten Lenzes Sehnen,
Nährt sich's nicht von des Vaterlandes Tränen?
Ein junger Strom, zog ich nicht Kraft voll Lust
Aus tausend Adern meiner Heimat Brust?

Die stillen Tiefen – meine Stürze – Schnellen,
Die alles, was sie hindert, wild zerschellen,
Bin ich ein flücht'ger Tropfen drin, fürwahr
Ein Tau, ein Regen – eine Perle gar?«

Von dem Gedanken hingerissen, schrieb Zacharias mit zunehmendem Selbstgefühl. »Ich selbst, ich bin der Fluß. So ist mein Ursprung, ich bin in allem der rechte Sohn meines Vaterlandes. Wie kann man von mir glauben, ich sei eine Sklavennatur?«

Und er fuhr fort:

»So will ich meiner Heimat wert denn bleiben,
Tag, Nacht, Glück, Leid – nichts soll mich von ihr treiben,
Nicht sage der, der bei mir wohnet frei,
Daß Finnlands Strom sich gab in ›Sklaverei‹!«

Er dachte in seinem Herzen: »Dies ist zu stolz, zu groß, so darf ich nicht reden.« Aber in der nächsten Minute wachte der Zorn wieder in ihm auf. »Ich bin ein Fluß, ich bin einer von Finnlands starken Strömen. Wie konnte man es wagen, mich in Eisesfesseln zu schlagen? Ich bin kein Bach und kein Rinnsal; ich bin stark unter den Starken.«

Mit wachsender Zuversicht schrieb er weiter:

»Voran! Mein Weg kann nimmer rückwärts führen,
Solang der Zeiten Schwingen mich berühren;
Ob nicht mein starker Arm zerbrechen kann
Mit seiner Muskeln Kraft des Eises Bann?

Luft will ich! Licht! Mein eigen Schicksal schaffen
Will selbst ich mir mit meinen eignen Waffen,
Und weh der Fessel, die mich noch beengt
Und schwer um meine Riesenschulter hängt!«

Er schrieb wie in einem Rausche. »Ich bin der Fluß,« dachte er noch immer. »Ich bin mächtig, mag also mein Geist seine Macht gebrauchen!«

»Auf Bäche! Ströme! Sprudelt klar und helle
Hervor aus unsres Landes Mutterquelle!
Vereint zum starken Strome euch mit mir,
Für Leben, Licht und Sonne kämpfet ihr!

Wo ist die Mauer, die uns kann beengen?
Wo ist die Felsenwand, die wir nicht sprengen?
Und er, der feig entfliehet der Gefahr,
Der starb dem Rinnsal gleich im Schlamm, fürwahr!«

Fast stöhnend holte er tief Atem. Die Anstrengung war unerhört. Die Eisdecke lag noch auf ihm. Unter dieser ging er dahin wie ein dunkler Strom, ohne Luft, ohne Licht. Noch rief er vergebens nach helfenden Bächen und Strömen und Seen.

Aber dabei durfte nicht stehen geblieben werden. Vorwärts also, zum Eisgang! Auf zu der furchtbaren Arbeit!

Wieder fing er an zu schreiben.

»Schlaflos brüllt in der lichten Mainacht
Des Ämnäs schneeweißer Wogenschwall.
Überlistet, doch ungebändigt
Kündet zuerst er des Winters Fall.

Und da erhebet sich Koivikoski,
Wirft seine Fesseln trotzig ab,
Brausend in zwanzig Wasserfällen
Schleudert das Eis er in Niskas Grab.«

Er fühlte sich ganz und gar als der kämpfende Fluß. Er zählte die Namen seiner Stromschnellen auf, denn in ihnen mußte die Befreiung ihren Anfang nehmen. Mit bebendem Herzen verfolgte er den Kampf des Eises gegen die heranstürmenden Wasser. Er sah, wie es sich turmhoch aufrichtete im Kampf mit Ahmas Wogen. Er sah, wie es auf der Flucht die Ernte aus den Scheunen, die Räder aus den Mühlen raubte. Er sah, wie es sich bei Merikoski einmal staute. Er sah die Ufer wanken, die Felder im Wasser ertrinken, sah die Straßen überflutet. Aber aufs neue wurde die Kraft des Eises gebrochen. In tausend Schollen zersplittert, wurde das gewaltige Winterheer auseinander getrieben, in die Wellen des Meeres geschleudert und vernichtet.

»Es atmet die Aue – die Wogen sinken.
Über gebrochene Dämme geht
Frei die Flut als ein stolzer Sieger
Ihre Bahn voll Majestät.«

Jetzt atmete Zacharias auf.

»Es ist vollbracht,« dachte er. »Das Eis ist gebrochen, jetzt bin ich frei. Ich fließe ungefesselt zwischen meinen Ufern dahin, ich stürze meine Höhen herunter, ich biege in meine Buchten ein, ich breite mich zu Seen aus, ich trage meine Boote, ich spiegle meinen Himmel wider. Wie ein Band des Lebens ziehe ich durch die Wildnis, ich drehe meine Mühlräder, ich münde schließlich in meinem Meere. Ich bin wieder ich selbst. Ich bin so, wie ich sein soll.«

Aufs neue griff er nach der Feder.

»O Suomi-Mutter, edel, stolz und gut,
Hast Freude du an deiner jungen Flut?
Mein Herzblut, hat es dir bezahlt den Lohn?
Darf ich mich würdig nennen deinen Sohn?

Glaubst du nun, daß kein Winterflockentreiben
Ewig Gesetz darf deinen Wogen schreiben?
Wie du, gebannt in kalten Eises Joch,
Bin frei und warm ich in der Tiefe doch!«

Die Vision, das Gefühl, der Fluß zu sein, fing an zu verschwinden. Er wachte ganz sachte aus einer tiefen Verzauberung auf. Jetzt fühlte er sich nicht mehr eins mit dem Flusse, aber er redete noch in dessen Namen.

»Doch wenn mein Mut jauchzt der Gefahr entgegen,
Die Fesseln, die uns binden, bricht verwegen,
Nehm' vor dem Lenz ich meinen Lorbeer ab
Und spreche: Du bist's, der den Sieg uns gab!«

Noch immer war er ein Fluß; aber jetzt wich die Verzauberung immer mehr. Er war auf dem Punkt, wieder zum Menschen verwandelt zu werden, und redete mit menschlicher Zunge:

»Dein Sonnenschein Eisriesen niederstreckte,
Dein Segen war's, der deine Ströme weckte,
Durch deine Liebe alles ward bereit,
Und ich – hab' nur verstanden meine Zeit!

O wüßten sie, die seufzend, sehnend wandeln
Auf Erden, wenn für sie die Zeit, zu handeln.
Sie tränken Kraft sich aus des Lichtes Mark,
Sie sprengten Mauern, Berge, riesenstark.«

Hier war der Zauber vollständig gebrochen. Hier redete wieder er selbst. Jetzt war es nicht mehr der Mensch, der der Fluß war, sondern der Fluß war Mensch geworden. Aber das war gut, er wollte es so haben. Denn dies war das Gedicht von seinem Leiden und seinem Kampf, er hatte gesiegt, und er wollte sagen, daß er sich dessen bewußt war. Ohne alle Rücksicht wollte er es aussprechen.

Weiter hatte er nichts mehr zu sagen. Aber er wiederholte die erste stolze Strophe, wie um zu fragen: »Seht ihr, daß es Wahrheit ist, was ich darin gesagt habe?«

»Bin Sklave ich? Wer sollte denn mich lehren,
Im Jugendlenz den Winter zu verehren?
Ich stolzer Sohn von Finnlands blauen Seen,
Frei kam ich in die Welt – frei will ich gehen!«

Aber als die Feder der ermatteten Hand entfiel und die Augen sich schlossen, um das Gehirn von Wort und Reim ausruhen zu lassen, da herrschte Freude in seinem Herzen und eine tiefe Ruhe.

Er hatte das Wichtige, das Wahre, das Stolze aussprechen dürfen, das, was er seinem Volke notwendigerweise sagen mußte nach allem, was er seinetwegen hatte leiden müssen. Jetzt war das Eis aus seinem Gemüte verschwunden. Er war wieder mutig und hoffnungsvoll wie vor dem Kampfe. Nun liebte er die Menschen wieder und glaubte an ihre Fähigkeit, diese arme, elende Erde in einen Rosengarten zu verwandeln.

Sylvias Frühlingstriller erklangen wieder aus den Wolken. Die Frühlingsblumen der Sagen sprießten aus einem leicht durchfluteten Erdreich hervor.


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