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In der vorletzten Maiwoche des Jahres 1854 erschien in der Helsingforser Zeitung ein Gedicht, das ungewöhnliches Aufsehen erregte. Man las es wieder und wieder, stritt darüber und ärgerte sich.
Wie konnte nur ein derartiges Gedicht in diesem Blatte stehen? Man war es gewohnt, Freiheitslieder, Lobgesänge des Lichtes in ihm zu finden. Wer hätte je geglaubt, daß die Hand, die den »Morgensturm«, das »Studentenlied« niedergeschrieben hatte, Finnlands Unterdrückern zur Verfügung stehen würde?
Der Generalgouverneur Fürst Menschikoff hatte einst bestimmt, daß Finnland weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes von sich hören lassen dürfe, worauf die Finnen ihrerseits ausgemacht hatten, es dürfe niemand Rußlands Partei ergreifen, ob dieses nun recht oder unrecht habe. Jedermann konnte in russische Dienste treten, konnte als russischer Beamter von der russischen Regierung Befehle entgegennehmen und sie als ehrenhafter Mensch ausführen, darin lag nichts Verwerfliches. Hingegen verbot ein unausgesprochenes, aber unumgängliches Gesetz jedwedem Finnen, als Rußlands Freund aufzutreten und sich zum Dolmetscher von dessen Wünschen zu machen, ohne dazu gezwungen zu sein.
Man zeigte die Zeitung seinen Freunden, alle lasen das Gedicht höchst nachdenklich und versuchten es zu verstehen. Bisher hatte jedermann immer das Gefühl gehabt, als spreche Topelius gerade das aus, was jeder selbst auf dem Herzen hatte. Hierhin aber konnte ihm niemand folgen.
Wenn man sich die Sache recht überlegte, so hatte er schon seit dem vergangenen Herbste, wo der Krieg mit der Türkei ausgebrochen war, ganz unumwunden und voller Freude den jetzt bevorstehenden Untergang dieses Reiches verkündigt: 1453 hatten die Türken Konstantinopel erobert, 1853 würden sie seiner Ansicht nach von dort vertrieben werden.
Schon dies war etwas unvorsichtig gewesen, aber es mochte noch hingehen. Russen und Türken standen ungefähr auf derselben Stufe, es war Geschmacksache, mit wem von beiden man es halten wollte. Jetzt aber verhielt sich die Sache anders. Seit ein paar Monaten kämpften Frankreich und England auf seiten der Türkei. Jetzt suchten sich nicht mehr zwei Barbaren zu vernichten, jetzt zogen Bildung und Freiheit in den Kampf gegen Dunkelheit und Unterdrückung.
War da überhaupt noch eine Wahl möglich? Verstand es sich nicht von selbst, daß Finnlands Sympathien bei den Westmächten waren? Wenn Rußland siegte, würde sich dieselbe Unterdrückung wiederholen, unter der man in den letzten Jahren gelitten hatte. Siegten die Westmächte, dann stürzte möglicherweise die russische Herrschaft zusammen, dann winkte allen von ihm unterdrückten Völkern die Freiheit.
Offiziell waren England und Frankreich Finnlands Feinde. Eine öffentliche Parteinahme für sie konnte nicht in Frage kommen. Das einzig Richtige war, sich still zu verhalten und Meinungsäußerungen zu vermeiden. Wenn man sich für die Westmächte aussprach, brachte man das Vaterland in Gefahr, trat man aber für Rußland ein, so handelte man gegen seine Überzeugung.
Natürlich konnte Finnland zum Kriegschauplatz werden: aber auch dann hieß es, sich streng neutral verhalten. Einen kleinen Vorschmack des Krieges hatte man tatsächlich schon bekommen. Die Engländer hatten einen Versuch gemacht, nach Ekenäs vorzudringen. Sie hatten ein Schiff auf der Reede weggenommen, waren dann aber von einer russisch-finnischen Truppenmacht zurückgeworfen worden.
Auch ein paar finnische Fahrzeuge hatten die Engländer gekapert, aber was tat das? So war es nun einmal im Kriege. Die Westmächte konnten Finnland nicht schonen, so lange es ein russisches Land war. Sie mußten jede Gelegenheit ausnützen, dem Feinde Schaden zuzufügen. So etwas mußte man geduldig über sich ergehen lassen.
Der Mann aber, der kürzlich vom Kaiser, ohne ein Gesuch eingereicht zu haben, zum Professor ernannt worden war, er dachte natürlich nicht so.
Er machte jetzt seinem Herzen über jenen unbedeutenden Vorfall bei Ekenäs in diesem langen Gedichte Luft, das jedermann vollkommen unverständlich war. Er hatte es »der erste Blutstropfen« betitelt und sprach darin davon, wie unrecht England handelte, das den Krieg an Finnlands Küsten trug, gerade als man sich über den zurückkehrenden Frühling freute. Und dann verkündigte er in dem Gedicht, die Engländer hätten alle die bisherige Achtung und Liebe dieses Landes verscherzt, weil sie die Schönheit des Frühlings mit Blut befleckt und seinen heiligen Frieden gestört hätten. Jetzt wolle man sie nur noch mit aller Macht bekämpfen.
»Wir wahren unsre Küsten, wir schützen unser Land,
Nicht fällt auf unsre Häupter der schweren Blutschuld Schand;
Die Wirren in Europa und der Türkei – fürwahr
Was fragen wir nach denen, wenn Finnland in Gefahr!«
Die Leute flüsterten miteinander, sie fragten sich gegenseitig, versuchten, dies zu verstehen. Man konnte doch England nicht deshalb als Feind betrachten, weil es in Ekenäs ein Schiff hatte wegnehmen wollen? War es möglich, sollte das wirklich Topelius' Ansicht sein?
Oder waren diese Verse nicht eher eine Art Bezahlung für die Professur? Er hatte sicher sehr gern in Helsingfors bleiben wollen. Er hatte ja an jemand geschrieben, Jakobstadt sei für ihn ein Vandiemensland.
Vielleicht hatte er schon früher im Dienste der Regierung gestanden? Denkt an Saima, denkt daran, daß er gezwungen wurde, aus der Österbottnischen Abteilung auszutreten!
Niemand hatte früher so mutig und tröstlich geschrieben wie er, aber er war vielleicht eine schwache Natur. Von jetzt an mußte man auf ihn und seine Zeitung gründlich aufpassen, denn höchstwahrscheinlich verbeugte er sich jetzt vor der Regierung.
Es war spät am Abend, aber eine Dunkelheit gab es ja kaum um diese Jahreszeit, und Zacharias saß am Schreibtisch, um einen Artikel für seine Zeitung zu verfassen. Er hatte bemerkt, daß seine Verse über den ersten Blutstropfen großes Mißfallen erregt hatten, und seine Frau hatte ihm erklärt, man könne nach diesem Gedicht meinen, er wolle sich auf Rußlands Seite stellen. Ein derartiger Gedanke wäre ihm nie eingefallen. Er hatte das Gedicht in seinem ersten, heftigen Zorn niedergeschrieben, als er erfahren hatte, daß die Engländer, diese Krämernation, finnische Schiffe gestohlen hatten. Ihm war sofort eines klar gewesen, sie wollten die Gelegenheit benutzen, einen etwaigen Nebenbuhler im Handel loszuwerden, und er hätte es sich niemals träumen lassen, daß seine Landsleute die Sache anders auffassen könnten als er. Denn er war es nun einmal so gewohnt, daß die Gefühle, die ihn beseelten, von dem ganzen Volke geteilt wurden. An Rußland hatte er keine Sekunde gedacht, als er das Gedicht verfaßte. Politische Erwägungen hatten ihm da gänzlich ferngelegen. Er war sozusagen nur ein Nykarlebyer Junge gewesen, der wußte, was es in den kleinen Seestädten droben bedeutete, wenn Schiffe als Prisen weggenommen wurden und Heringe und Salz allmählich in den Haushaltungen ausgingen.
Jetzt aber wollte er sich rechtfertigen, und er hatte gerade einen Artikel angefangen, der den Titel trug: »Im Kampfe des Lebens«.
»Zwei Männer bewohnten ein Haus und stritten sich über dessen Zweckmäßigkeit. Der eine wollte ein Dach aus Eisenblech haben, der andere eines aus Dachpappe. Der eine wollte den Hof durch einen Bretterzaun von den Nachbarn trennen, der andere wollte die Höfe vereinigen. Der eine fand die Fenster zu klein, der andere behauptete, die Ofen rauchten. Beide wollten verschiedenes anders haben, aber keiner wollte das Haus verkaufen.«
Während Zacharias dies schrieb, hörte er durchs offene Fenster heranschleichende Schritte und gedämpfte Stimmen. Doch war er zu sehr in seine Arbeit vertieft, um zu ergründen, was dies zu bedeuten habe.
»Eines Tages brach in der Stadt eine Feuersbrunst aus, und die beiden, die in demselben Hause wohnten, sahen, wie das Feuer auf ihr Haus übersprang. Was taten sie jetzt? Der eine besann sich keinen Augenblick, sondern gesellte sich zu denen, die aus Leibeskräften beim Löschen halfen und das Haus zu retten hofften. Der andere redete erst lang und breit von der Entstehung des Feuers, dann von den vielen Mängeln des Hauses und endlich, ob das Feuer schädlich, ob es nicht eher nützlich sei, sowie von der Unmöglichkeit, daß dieses Haus abbrennen könne, weil die Stadt brenne.
Wer von den beiden handelte edel?
Wer von den beiden handelte klug?«
Der Schreibende zuckte zusammen, er hätte beinahe die Feder fallen lassen. Ein schriller Pfiff durchschnitt die Luft, unmittelbar darauf aber folgte ein entsetzlicher Radau. Man trommelte auf Kochtöpfe, pfiff auf Schlüsseln, knarrte auf Kämmen. Was man nur von Dingen, die pfiffen, kreischten und einem in den Ohren gellten, hatte auftreiben können, war herbeigeschleppt worden und wurde jetzt dazu benutzt, einen durch Mark und Bein gehenden Lärm zustande zu bringen.
Topelius hatte einen Augenblick die Feder hingelegt, griff aber sofort wieder danach. Eine Katzenmusik vor seinem Fenster! Da war es allerdings nötig, daß er sich nach Kräften verteidigte.
»Wenn deine Mutter neben dir mißhandelt wird, was fragst du danach, ob die Hand, die sie schlägt, die deines besten Freundes ist? Bist du nicht bereit, diese Hand doch abzuhauen? Und wenn die Hand, die sie vor dem Verderben bewahrt, die deines größten Feindes wäre, was fragst du danach? Bist du nicht bereit, diese Hand dennoch zu drücken und den Retter Freund zu nennen?«
Er hielt einen Augenblick inne und hörte dem mißtönenden Unwesen zu. Wenn die Leute das hier mit ein wenig Überlegung lasen, mußten sie doch fühlen, daß er Rußland seinen größten Feind und die Westmächte seine besten Freunde nannte.
Aber es sollte doch ja niemand glauben, er finde Englands Vorgehen nicht nach wie vor verwerflich. Deshalb fuhr er fort:
»Oder wer sagt zu den Räubern, die seinen Vater im Walde angefallen haben: Ich habe die und die Ansicht; deshalb schenke euch Gott Glück und Erfolg, liebe Räuber!«
Wieder hielt er inne. Der Lärm gellte ihm zu entsetzlich in den Ohren, er konnte seine Gedanken nicht zusammennehmen. Dann legte er die Feder nieder und lehnte sich in seinem Stuhle zurück. Ehe die Studenten gütigst mit dem Radau aushörten, war jede Arbeit unmöglich.
Er lächelte bei dem Gedanken, daß er selbst mehr als einmal einer der Anstifter einer derartigen Unterhaltung gewesen war. Und jedesmal war er felsenfest davon überzeugt gewesen, daß der Mann, der in seinem Zimmer saß und zuhörte, wirklich eine Schuld begangen hatte, und daß die, so draußen auf der Straße standen, in ihrem vollen Rechte waren.
Sollten die Jungen jetzt auch recht haben? – In den letzten Tagen hatten die Engländer neue Landungsversuche unternommen. Sie hatten Brahestad und Uleåborg heimgesucht, die Werft mitsamt den im Bau begriffenen Schiffen verbrannt und große Teer- und Getreidelager zerstört, die alle Privatpersonen gehörten. Und mit diesen Räubertaten sollte man sich einverstanden erklären, nur weil sie im Namen der Kultur und der Freiheit begangen wurden? Sah denn niemand, daß sich diese Leute nur die günstige Gelegenheit zunutze machten, Finnlands aufblühenden Handel zu zerstören?
Nein, niemand sah es! Seine eigenen Landsleute waren völlig blind und brachten ihm, der diese Korsarenstreiche nicht billigte, eine Katzenmusik dar.
Zacharias geriet immer mehr in Erregung; der Radau wirkte auf seine Nerven, und so maß er dem Erscheinen der Studenten eine viel zu große Bedeutung bei.
Er meinte daraus entnehmen zu müssen, daß der Haß gegen Rußland, die Hoffnung auf Befreiung unter der Jugend, ja unter der ganzen Bevölkerung stärker waren, als er jemals geahnt hatte. Wenn man derartig für England Partei nahm, war man sicher zum Aufstand bereit, bereit, sich in kurzsichtigem Vertrauen auf die Versprechungen der Westmächte für ihre Sache zu erklären.
Zacharias aber wußte und sah, Rußlands Stunde war noch nicht gekommen. Ein Aufruhr in gegenwärtiger Zeit würde nur dazu führen, daß Finnland gerade wie Polen bestraft und verwüstet wurde. Er sah das Land schon voller Galgen, sah, wie jedes Eigentum eingezogen wurde. Er sah alle Freiheiten verloren gehen. Er sah Finnland der russischen Oberhoheit einverleibt, in eine erbärmlich verwaltete, verarmte, verwahrloste Provinz verwandelt. Er sah jede Hoffnung auf lange Zeit hin erlöschen, er starrte in ein grenzenloses Unglück hinein.
Wenn das aber drohte, dann war jetzt ein Mann nötig, der zur Rettung seines Volkes eine schwere, schwere Last auf sich nahm. Ein Mann mußte seine Mitbürger warnen, ein Mann mußte ihnen zeigen, wie falsch der Freund war, der sie jetzt an sich lockte.
Und selbst wenn dieser Mann deshalb verfolgt und verachtet werden, wenn er wie ein gekaufter Verräter behandelt werden sollte, er mußte es ertragen. In Zeiten wie diesen war es notwendig, daß sich ein Mann für sein Volk opferte.
Allen, die in jener Zeit mit Zacharias Topelius zusammentrafen, fiel es auf, daß sein Blick heller glänzte, daß er den Kopf höher trug als gewöhnlich. Und sie wunderten sich, denn sie wußten, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären, hätten sie sich nicht auf Helsingfors' Straßen sehen lassen.
Menschen, mit denen er vorher in einem freundschaftlichen Verhältnis gestanden hatte, schauten weg, wenn sie ihm begegneten, und grüßten nicht. Seine wirklichen nahen Freunde benahmen sich natürlich nicht so, aber unzählige andere. Zacharias lebte jetzt mehr als zwanzig Jahre in Helsingfors, seine Tätigkeit hatte ihn allgemein beliebt gemacht, die ganze Stadt kannte ihn. Auch unter den ihm nicht persönlich bekannten Menschen hatte er bisher eine Menge Freunde gehabt, wohin er kam, empfingen ihn gewöhnlich freundliche Gesichter. Jetzt war das mit einem Schlage anders geworden. Jetzt sah er, wie die Leute auf ihn deuteten, wenn er seines Weges daherkam, und wie einer dem andern etwas über seine verächtlichen Dienste in Rußlands Sold zuflüsterte.
So oft er dergleichen merkte, sagte er sich: »Ein Mann muß für das Volk sterben.«
Er wußte, er opferte sich für alle diese Menschen auf, er rettete sie vor unermeßlichem Unglück. Er liebte sie mit einer so tiefen, aufopfernden Liebe, daß ihr Haß ihm nichts anhaben konnte.
Nach wie vor warnte er sie in seiner Zeitung vor England. Er sprach von dessen Heuchelei und Treulosigkeit. Er ermahnte Finnland, jetzt wie immer seine Treue dem zu bewahren, der sein Herrscher war.
Konnte er anders? In Rußland gab es ja eine mächtige Partei, die jetzt während des Krieges Macht erlangt hatte, und diese Partei wartete nur auf einen Vorwand, um Finnland in ein russisches Land zu verwandeln. Nie hatte man gefährlichere Zeiten durchlebt. Eine Stimme der finnischen Presse mußte unbedingt warnen und zurückhalten. Diese Stimme würde vielleicht dadurch ihre frühere Zauberkraft verlieren, aber was lag daran? Gab es irgend etwas noch so Kostbares, das er seinem Vaterlande nicht zu opfern verpflichtet gewesen wäre?
Seitdem der Krieg ausgebrochen war, hatte er es für notwendig gehalten, ihm seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Er hatte deshalb mit der Veröffentlichung der Erzählungen des Feldschers aufgehört und schrieb nur noch über den Feldzug und die Politik der Westmächte. Dies war eine große Entbehrung für ihn. Die Arbeit an dem großen Werke machte ihm Freude, er sehnte sich nach den früheren schönen Zeiten, wo ihn die Leute auf der Straße angehalten hatten, um zu fragen, in wessen Händen sich der Ring des Königs jetzt wohl befinde, und wo man ihm nur den einen Vorwurf gemacht hatte, daß er den einst so liebenswürdigen Gustav Bertelsköld zu hart und hochmütig habe werden lassen.
Die mit ihm in der Presse wetteifernden Nebenbuhler, die längst mit Ungeduld beobachtet hatten, wie sich seine Zeitung immer mehr die Gunst der Allgemeinheit erwarb, benützten diese Gelegenheit, ihn zu stürzen. Sie verdrehten seine Worte so, daß er wie ein engherziger Lokalpatriot dastand, der gerne Bildung, Freiheit, Fortschritt preisgab, wenn dadurch ein paar Menschenleben gerettet werden konnten.
Zacharias war fast zu erfüllt von seinem Opfergedanken, um daran zu denken, die andern zu widerlegen. In seiner Seele herrschte eine heilige Ruhe. Er fühlte sich über Haß und Furcht erhaben. Seine Begeisterung für das Vaterland ließ ihn keinen Schmerz empfinden.
Nein, seine Seelenruhe war nicht gestört. Er dichtete seine Sylvia-Lieder wie im vergangenen Jahre. Am siebzehnten Juni schrieb er »Sylvias Sommergedanken«, die vielleicht ein wenig trauriger waren als früher, und seine Sorge für das Vaterland, aber keine Klage über das eigene Unglück widerspiegelten.
Grüne, o Wald,
Grüne! Wohl kommt deine Zukunft bald!
Fern ist verklungen der Äxte Schlag,
Grollende Donner hallen nach,
Flammen lodern!
Du wirst nicht ihre Beute sein,
Nein, nein!
Grüne, o Wald,
Grüne! Wohl kommt deine Zukunft bald!
Wiege dich, Meer,
Rings um die grünenden Inseln umher!
Friedliche Segel verbergen sich,
Kriegesdrachen durchschwärmen dich,
Lüstern nach Raub!
Du wirst nicht ihre Beute sein,
Nein, nein!
Wiege dich, Meer,
Rings um die grünenden Inseln umher!
Kämpfe, o Land!
Bete und ring' um den Heimatstrand!
Erde, die heilige, ist bedroht,
Ernten reifen in Brand und Tod;
Schwerter blitzen –
Du wirst nicht ihre Beute sein,
Nein, nein!
Kämpfe, o Land!
Bete und ring um den Heimatstrand!
Einige Tage später kam Emilie und fragte Zacharias, ob er einen Artikel im Morgenblatt gelesen habe, der wahrscheinlich auf ihn gemünzt sei. Er stehe in der Abteilung »Mosaik« und trage den Titel: »Regeln nach Knigges Umgang mit Menschen«.
Der Inhalt war ganz einfach folgender: Wenn jemand erkläre, es sei sehr schwer, zu einer Überzeugung zu kommen, – das hatte Zacharias kürzlich geschrieben – dann dürfe man fest überzeugt sein, daß dieser Jemand zum wenigsten – eine Wetterfahne sei.
Des weiteren wurde eingeschärft: Wenn jemand lange Reden halte über die Reinheit seiner Absichten, über seine tiefen Gefühle, seine ehrlichen Gedanken, und sich darüber beklage, daß er mißverstanden werde, dann brauche selten ein Zweifel darüber zu herrschen, daß dieser Jemand zum wenigsten – ein schlechtes Gewissen habe.
»Unaufrichtigkeit, Duckmäuserei und nach Glück haschende Wetterfahnenart könnten sich ein noch so schönes Mäntelchen umhängen, immer komme irgendein unberechneter Windstoß, der einen Zipfel aufhebe und die innere Gebrechlichkeit entblöße. Sie könnten noch so freundlich lächeln und sich noch so artig verbeugen, immer komme einmal ein unbewachter Augenblick, wo die Maske falle und die innere Gemeinheit zutage trete.«
Zacharias lächelte, während er diesen Artikel las, aber er wurde doch recht bleich dabei. Etwas so Rücksichtsloses hatte er kaum erwartet. Aber es mußte so sein, das begriff er. Und er verwunderte sich fast darüber, daß die Beleidigung nicht weher tat, als wie er sie jetzt empfand.
Am liebsten hätte er alles unbeachtet vorübergehen lassen; aber seine Frau sagte ihm, er sei geradezu gezwungen, darauf zu antworten.
In dieser Zeit schien sich alles miteinander gegen ihn verschworen zu haben. Seine Erwiderung wurde zuerst von der Zensur gestrichen, und als er sich bei dem Zensor beklagte und das Recht verlangte, seine Ehre wahren zu dürfen, wurde das Verbot doch nicht aufgehoben, sondern der Vorsitzende des Zensurkomitees schickte, ohne Topelius' Vorwissen, eine Vermahnung an das Morgenblatt, daß es nicht mit der Helsingforser Zeitung polemisieren dürfe.
Einen schlechteren Dienst hätte das Zensurkomitee Topelius nicht leisten können. Wenn es heimtückische Pläne gehabt hätte, um Zacharias zu stürzen, hätte es kein dienlicheres Mittel wählen können. Jetzt wußte das Morgenblatt, woran es sich zu halten hatte. Jetzt konnte kein Zweifel mehr herrschen: Topelius stand unter hoher Protektion.
Das Gerücht kam zwar nicht in Druck, aber es ging von Mund zu Mund: Topelius stand im Dienst der Regierung. Er war mit dem Professorengehalt gekauft worden. Das war ganz sicher und gewiß. Das Zensurkomitee hatte allen andern Zeitungen verboten, gegen ihn zu polemisieren.
Schließlich drang das Gerücht auch bis zu Zacharias Er nahm es auf, wie alles andere in jener Zeit, nämlich mit stiller Ergebung. Es mußte so sein. Er verlangte nicht mehr, sich verteidigen zu dürfen. Aber seinen eigenen Weg verfolgte er weiter, ohne nach rechts oder links auszuweichen.
Es schien fast, als sei es Zacharias eine Lust, das Messer in der Wunde herumzudrehen, um zu zeigen, daß er den Schmerz nicht fühle. So reiste er in diesem Sommer nicht nach Kuddnäs, sondern mietete sich Zimmer an der Humlebucht in der Nähe der Hauptstadt. In Österbotten hätte er Ruhe gehabt. Dort stand die Bevölkerung auf seiner Seite. Dort gab es niemand, der glaubte, der Sohn des Doktors von Kuddnäs habe sich an die Russen verkauft. Aber Zacharias gönnte sich diese Erleichterung nicht, und er nahm auch keinen Urlaub, sondern versah seinen Redaktionsposten den ganzen Sommer hindurch ohne Unterbrechung. Er wagte es nicht, seinen wichtigen Posten zu verlassen. Er mußte dableiben, um zu warnen und zu verhindern.
An einem schönen Augustabend saß Zacharias am Ufer der Humlebucht und fischte. Ein paar Studenten gingen vorüber. Sie waren ein wenig angetrunken, und als sie Topelius erblickten, stießen sie einander an, deuteten auf ihn und lachtet so recht pöbelhaft und beleidigend. Sie gingen noch ein Stück weiter, recht bald aber ließen sie sich auf der Erde nieder und fingen an zu singen. Zacharias saß ganz nahe dabei, und es entging ihm kein Wort von dem Gesang. Die Studenten bemühten sich auch, alles recht deutlich auszusprechen. Das Lied wurde zur Melodie der Marseillaise gesungen:
»Es geht ein Ruf durch alle Lande,
Die Freiheit sei ein mißlich Wort,
Die Stimme ist's, die wohlbekannte,
Die Hierzuland tönt fort und fort!«
Zacharias war auf dem Punkt, aufzustehen und fortzulaufen. Das Blut stieg ihm in den Kopf, in seinen Schläfen hämmerte es so, daß er nichts verstehen konnte. Was sangen denn die da drüben? Es mußte etwas Entsetzliches sein, aber er konnte nichts verstehen.
Er zwang sich, still zu sitzen. Er zwang sich, aufmerksam zu lauschen:
»Ihr Soumisöhne, hör's ein jeder:
Er blendet euch mit leerem Schein,
Es ruft der Schatten unsrer Väter,
Nicht unserer Schuld gedenk zu sein!
Er will, Soumis Geist soll schmachten
In schnöder Sklaverei,
Will Rußlands Machtgier nicht verachten,
Daß sein der russ'sche Rubel sei.
Was nützt der Freiheit Ehr',
Solang der Beutel leer,
Mein Leben, Freiheit, Volk und Land
Bedeuten angesichts
Von Reichtum, Ehren, Ordensband.
Dem Judaslohne – nichts!«
Dann folgte noch eine Strophe. Als die Studenten auch diese gesungen hatten, standen sie auf, nahmen die Mützen ab und grüßten. Darauf schwankten sie weiter.
Spät am Abend kam Zacharias nach Hause, ohne Fische. Frau Emilie war ganz bestürzt und fragte, ob ihm ein Unglück zugestoßen sei. Nein, nichts, als daß es ein so besonders schöner, friedevoller Abend gewesen sei. Er habe ein Gedicht darüber machen müssen. Es solle ein Sylvia-Lied werden. Er wolle es »Friedensgebete beim stillen Abendschein« nennen. Er wolle die Liebe bitten, doch herbeizukommen und den Haß, den Streit und den Sturm zu vertreiben.
Er sei noch lange nicht fertig damit, aber hier sei eine Strophe, die annähernd vollendet sei.
»Du Mächtige, du Hohe, komm herab!
Erlösch in deinem Glanz des Streites Flammen,
Den Frieden spende als die beste Gab',
Du Segenspendrin, lehr uns nicht verdammen!
Laß nicht in sanfter Abendschönheit Wehn,
In Haß und Bitterkeit die Herzen neigen,
Laß uns kein böses Wort vom Munde gehn.
Wenn ringsumher zu lichten Himmelshöhn
Die Nachtgebete von der Erde steigen!«
Er schwieg, aber seine Frau trat zu ihm und nahm sein Gesicht zwischen ihre beiden Hände.
»Wenn du nicht selbst willst, brauchst du mir nichts zu sagen,« flüsterte sie. »Ich verstehe doch, daß dich jemand tief gekränkt hat. Solche milde Töne findest du nur, wenn du auf dem Punkte bist, vor Kummer zu sterben.«