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Du meine Ruh,
Mein Trost, mein Schild,
Mein Himmel mild,
Mein Hoffen du!
Voll Sehnsuchtsschmerz
Zieht's mich zu dir,
O öffne mir
Noch heut dein Herz!
O, du bist reich,
So traut und warm,
Doch ich bin arm.
Nicht von mir weich!
Blick her zu mir,
Du Ruhe mein,
Und laß mich sein
Nur stets bei dir!
Also schrieb Zacharias im Gedanken an Emilie im Herbst 1844. Da stand er mitten drin in dem Saimastreit; er sollte sein Lizentiatexamen machen, als Kurator hatte er einen Versuch gemacht, die beiden österbottnischen Abteilungen wieder zu vereinigen, und er befand sich dieser Sache wegen mit den Behörden in Unterhandlung. Bei diesem allem, bei allem, was ihn aufregte, was ihn erfreute oder ihn ängstigte, gingen seine Gedanken stets zu Emilie, um sich bei ihr Labung und Frieden zu holen.
Emilie war nicht nur seine Liebe, sie war auch, ohne daß sie selbst etwas davon wußte, seine Stütze und seine Hilfe. Die Briefe, die sie ihm schrieb, waren bewunderungswürdig, sie waren geistreich, fröhlich, inhaltsreich, von Zärtlichkeit beseelt. Jeder dieser Briefe brachte ihm neuen Mut und neue Arbeitskraft. Er trug sie auf seiner Brust und fühlte, wie sie ihn, einem Panzer gleich, gegen alle giftigen Pfeile, die Saima nach ihm abschoß, schützten.
Allmählich glaubte er fast, Emilie sei ein besserer Schriftsteller als er selbst. Jede Zeile, die sie schrieb, wäre wert gewesen, gedruckt zu werden. Es war ein Glück für ihn, daß er sie in den Jahren, wo er seine hoffnungslose Liebe zu ihr im Herzen getragen, eigentlich gar nicht gekannt hatte. Wenn er gewußt hätte, daß sie so hochbegabt, so gewandt, so unterhaltend war, wenn er eine Ahnung von ihrem feinen Geschmack, ihrer Geduld und ihrem Pflichtgefühl, von der Sanftmut ihres Herzens gehabt hätte, dann hätte er die Gewißheit, sie nicht besitzen zu dürfen, niemals ertragen können.
Und jetzt, was konnte er anders tun, als sich nach der Zeit sehnen, wo er sie alle Tage in unmittelbarer Nähe sein eigen nennen dürfte?
Ehe er sein Studium vollendet hatte, konnte er ja kaum an eine Heirat denken, aber am 8. November 1844 machte er sein Examen, und damit war das schlimmste Hindernis aus dem Wege geräumt.
Er selbst trug einen so kühnen Wunsch im Herzen, dem er vor seiner Braut und seiner Mutter kaum Worte zu verleihen wagte. Er wollte nämlich am liebsten seine Redakteurtätigkeit beibehalten und auch ferner in Helsingfors wohnen, und er war beinahe sicher, daß er mit seinem Redakteurgehalt im Verein mit kleinen Nebenverdiensten wohl die Kosten für das eigene Heim bestreiten könnte.
Emilie wäre vielleicht diesem gewagten Unternehmen nicht abgeneigt gewesen, wer sich aber einem so abenteuerlichen Vorschlag auf das bestimmteste widersetzte, war Zacharias' Mutter, die alte Doktorin. Sich mit einem Einkommen von zwölfhundert Rubel verheiraten, wenn man so ein Verschwender sei, wie ihr Sohn Zacharias, wenn man sechzig Rubel im Jahr allein für Tabak ausgebe, siebenundvierzig im Spiel daraufgehen lasse und überdies noch allgemeine Auslagen habe, die größer seien, als was unzählige bessere Familien als Jahreseinkommen hätten, sich verheiraten!
Ja, wenn er so klug wäre wie seine Mutter, dann hätte es angehen können, aber ihr Zacharias, der es nicht lassen könne, Bürge zu werden und nach rechts und links aus der Tasche heraus bar Geld auszuleihen, er müsse durchaus ein festes Einkommen haben, ehe er heirate. Wenn er in Helsingfors bleiben wolle, dann müsse die arme Emilie eben das Warten lernen.
Es half auch nichts, daß das Einkommen von der Zeitung im Jahr 1844 bis auf tausend Rubel hinaufging, die Mutter hielt die feste Anstellung für unumgänglich notwendig.
Aber eine feste Anstellung, das bedeutete für Zacharias so viel wie eine Lehrerstelle auf dem Lande. In Vasa gab es eine offene Stelle, die Zacharias möglicherweise bekommen konnte, wenn er sich dazu bequemte, sich dafür zu melden.
Er zögerte lange. Nach Vasa ziehen, das war so viel, als die Zeitung aufgeben, das war so viel, als von dem hohen Katheder, auf dem er jetzt stand und ein ganzes Land unterrichtete, herabzusteigen und in ein kleines, düsteres Schulzimmer zu ziehen, wo er nur einige unreife Jungen als Zuhörer hatte. Das war so viel, als der Arbeit für seine große Idee entsagen. Es hieß, den Acker verlassen, auf dem er die Saatkörner ausgestreut hatte, ohne die Früchte und die Ernte abwarten zu dürfen. Ach, es war fast so viel, als seinem dem Vaterland abgelegten Gelübde untreu werden!
Andererseits meinten wohl die meisten seiner Freunde nach der Verfolgung von seiten Saimas, er tauge nicht so recht zum Redakteur einer Zeitung. Auch seine Mutter fragte in einem Briefe, ob es nicht am besten wäre, er gäbe die Redakteurstelle auf. Emilie schrieb zwar nichts davon, aber sie berichtete von dem traurigen Leben in Nykarleby und sprach davon, wie glücklich sie sein würden, wenn sie erst ihr eigenes Heim hätten.
Im Frühling 1845 reichte Zacharias wirklich seine Meldung um die Stelle des Geschichtslehrers am Gymnasium in Vasa ein. Es geschah indes mit großem inneren Widerwillen und mit einer schlecht verhehlten Hoffnung auf einen Mißerfolg. Aber Emilie und ihre Familie sollten nicht sagen können, er habe die sich ihm darbietende Gelegenheit nicht ergreifen wollen.
Immerhin wartete er jeden Tag darauf, daß irgendetwas dazwischen komme, demzufolge er seine Meldung zurückziehen könnte.
Was dies sein sollte, wußte er nicht recht. Vielleicht, daß er eines schönen Tages auf der Straße einem freundlichen alten Herrn begegnete, der ihm auf die Schulter klopfte und ungefähr also zu ihm sprach: »Ich habe Ihre Tätigkeit bei der Zeitung genau verfolgt, und ich meine, es wäre schade, wenn Sie sich in Vasa begraben würden. Ich will etwas für Sie tun. Sie sollen in Helsingfors bleiben dürfen.«
Aber der freundliche Herr erschien nicht, und da machte Zacharias eine große Anstrengung, um sich selbst zu helfen. Er sammelte seine lyrischen kleinen Sachen und gab sie in einem Bändchen heraus, das den Titel »Heideblumen« erhielt.
Auch die Tanne grünt im Lenze,
Ihren Duft hat auch die Wüste,
Ros'ge Blüte deckt die Heide,
Und auch sie hat ihre Wonnen.
Und das reiche Menschenherze,
Sollt es, ärmer als die Heide,
Ärmer als die öde Wüste,
Keine Heideblumen tragen?
Also schrieb Zacharias in dem Einleitungsgedicht – und er hatte ein Recht, so zu schreiben. Die Geschichte seines eigenen Herzens war es, sie hatte er auf diesen Blättern, die er der großen Menge bot, eingeritzt. In Beziehung auf die Form konnte man da und dort noch einen Anklang an andere Dichter erkennen, aber der Inhalt war im allerhöchsten Grade sein Eigentum. Alles war selbst erlebt, alles selbst erfahren. Da war das Streben des Jünglings, in den Sinnbildern der Natur Bekräftigung seiner Sehnsucht nach Unsterblichkeit zu finden, da gab es seiner Emilie und dem dunkeln Kahramädchen gewidmete Liebeslieder, dann wieder Gedichte im Runenstil, die während seiner Begeisterung für die Kalevala entstanden waren. Ein kleiner, historischer, durch das Jubelfest inspirierter Versuch kam auch in die Sammlung, sowie Trauerlieder über Heinrich Backman, religiöse Lieder unter dem Einfluß des Pietismus geschrieben und Gedichte zu Neujahr und zum Eisgang, was beides immer besondere Festzeiten für Zacharias gewesen waren.
Er hatte sein ganzes Leben wieder durchlebt, als er diese losen Blätter für den Druck aneinanderreihte.
Das Buch war natürlich keine einheitliche Sammlung. Ein Teil der Gedichte war entstanden, ehe Zacharias überhaupt wußte, was wirkliche Inspiration eigentlich heißen wollte. Und sogar nachdem er das erfahren hatte, konnte er sich durch die unerhörte Leichtigkeit, mit der er in gebundener Form arbeitete, zu kleinen Reimereien verleiten lassen, die keinen eigentlichen Wert hatten.
Aber wenn ihm das Herz voll war, wenn dieses in Sehnsucht seufzte, vor Mutlosigkeit schmerzte, wenn es Qualen verschmähter Liebe erduldete, da hatten seine Lieder einen echten, vollen, ergreifenden Klang. Überall erfuhr er die Wahrheit der Worte, die er in einem seiner Gedichte, das er selbst vielleicht am höchsten einschätzte, ausgesprochen hatte: »Das Lied wird aus dem Leid geboren.«
Als das Buch erschien, wurde ihm etwas klar, was ihn zwar erfreute, worüber er aber gleichzeitig trauerte. Seine Gedichte waren wie aus Luft gewebt, sie hatten keinen Körper, waren nur Duft und Klang. Ein Teil der Leser konnte auch nichts darin finden, diese kleinen Lieder sagten ihnen nichts, sie waren ihnen nur leise, klingende Töne. Andere dagegen trugen selbst etwas in sich, eine Erinnerung, eine Erfahrung, die in Schwingung versetzt wurde, als sie diese Verse lasen, und diese Menschen nahmen sie in ihre Herzen auf, fast als seien sie von ihnen selbst gedichtet, sie freuten sich darüber, Worte für das gefunden zu haben, was sich auf dem Grunde ihrer eigenen Seele bewegt hatte.
Die Menschen, die Zacharias' Gedichte mit starrer Gleichgültigkeit aufnahmen, waren freilich in der Mehrzahl; aber dafür fand sich doch auch der eine und andere, der sagte: »Seht, das ist ein Buch für mich. So hab' ich es selbst gefühlt. Runeberg hab' ich nie verstanden.«
Das waren im allgemeinen Menschen, die zu den Demütigen gehörten und von sich und ihrem Geschmack nicht groß dachten. Gerade weil sie Topelius verstanden, glaubten sie, er müsse ein ziemlich mittelmäßiger Schriftsteller sein.
Freunde und Feinde schienen also darüber einig zu sein, daß Zacharias' Buch kein hervorragendes Werk sei. Der freundliche Beschützer hatte keine Veranlassung, sich zu zeigen, und Zacharias mußte es bei seiner Meldung bewenden lassen.
Im September reiste er nach Åbo, um vor Bischof und Domkapitel über einige lateinische Thesen zu disputieren und Probeunterricht zu geben, durch den er sich des Lehrerberufs würdig erweisen sollte.
Lange, unerquickliche Tage waren es, die Zacharias in der früheren finnischen Hauptstadt zubrachte. Er lag im Kampf mit sich selbst. Bald hoffte er auf Erfolg, bald meinte er, es wäre am besten, wenn er nicht ernannt würde. Aber als die Thesen an die Reihe kamen, da erwachte der Ehrgeiz in ihm, und da tat Zacharias sein Bestes! Auch bei dem Probeunterricht zeigte er recht achtungswerte Fähigkeiten, und so bekam er gute Zeugnisse.
Am letzten Abend, ehe Zacharias Åbo verließ, kam ihn die Lust an, eine Wanderung durch die Stadt zu machen. Es war eine schöne, milde Herbstnacht, am südlichen Himmel goß der Mond seine Strahlen durch einen dünnen Wolkenschleier, während von irgendeinem verborgenen Feuerherd weit oben im Zenit unruhig flackernde Nordlichter zum nördlichen Himmel aufzuckten. Die Lust war mit Elektrizität geschwängert. Als Zacharias bei seiner Wanderung an dem Dom vorüberkam, glaubte er einen rötlichen Schimmer zu sehen, der über die hohen, spitzen Fensterbogen hinhuschte.
Zacharias blieb stehen, um diese Erscheinung zu beobachten. Er selbst befand sich in einem Zustand der Niedergedrücktheit, ja der Angst, er hatte ein Vorgefühl von etwas Schrecklichem, das über ihn hereinbrechen werde. Vergeblich versuchte er sich damit zu trösten, daß eigentlich nichts Schlimmeres geschehen könnte, als daß er die Stelle in Åbo nicht bekomme und auf diese sei er ja bisher wirklich nicht gerade erpicht gewesen.
Das Günstigste für ihn wäre sicherlich, wenn er noch einige Zeit in Helsingfors bleiben dürfte. Die Zeitung sei in diesem Jahre noch besser gegangen als im vorhergehenden. Emilie sei bereit, das Unerhörte zu wagen, sich mit einem Manne zu verheiraten, der nichts weiter war als ein Zeitungsredakteur.
Aber er konnte sich des niederdrückenden Gefühls nicht entschlagen, obgleich er sich auf solche Weise selbst Vernunft predigte. Schließlich versuchte er sich einzureden, seine ganze Unruhe rühre von einer äußern Ursache, vielleicht eher von einem atmosphärischen Druck als von Zukunftssorgen her.
In diesem Glauben wurde er um so mehr bestärkt, als er sah, wie der kupfergedeckte Turm des Doms auf eine ganz merkwürdige Art zu leuchten, zu glimmen begann. Das Kreuz oben auf der Turmspitze wurde von ganz deutlichen blauweißen Flammen umzüngelt. Irgend etwas ging da droben vor; Zacharias sah, wie eine Schar Dohlen in hellem Entsetzen durch die Nacht entfloh. Da verließ ihn plötzlich seine Angst, und sein Herz fing eifrig und erwartungsvoll zu klopfen an. Ihm war, als sei er Zeuge von dem Herniedersteigen von Geistern. »Unsterbliche Seelen,« so dachte er, »lassen sich nun zu ihren Körpern, die in den Grabkammern unter der Kirche modern, herabsinken, sie vereinen sich mit ihnen und erwecken sie zum Leben.«
Nun versammelten sich aufs neue die Domherrn in ihren Chorstühlen, die Bischöfe verrichteten eine stille Messe an dem dämmerigen Altar. Auf einem Thronsessel dicht unter der Kanzel saß eine Königin umgeben von ihrem Hofstaat, die früheren mächtigen Lehnsherren des Åboer Schlosses aber beugten die Knie auf den Stufen, die zum Chore führten.
Zacharias mußte über sich selbst lachen. Erst vor ein Paar Tagen hatte er ein Buch von Justinus Kerner, jenem Apostel des Mystizismus gelesen, und dieses Buch hatte natürlich diese Phantasien hervorgerufen. Dämone und Gespenster hatten ihn beim Lesen umschwebt. Da war vor allem eine Geschichte mit einem Ring gewesen, die Zacharias außerordentlich gefallen und seine Phantasie angeregt hatte.
Wenn er jetzt diesen Ring am Finger gehabt hätte, wäre er an die Kirchenpforte getreten und hätte Einlaß begehrt. Und die Toten würden es nicht gewagt haben, sich zu widersetzen. Er würde in diese Versammlung von Schatten eingelassen, und sie würden ihm die Geheimnisse ihres Lebens beichten. Er würde in die Geschichte seines Landes eindringen, wie noch nie jemand vor ihm.
Die schwüle Nachtluft, der altersgraue Dom hatten ihn in wirkliche Gespensterstimmung versetzt. Er war beinahe überzeugt, daß sich im nächsten Augenblicke weiße Gestalten rings um ihn her zeigen würden. Die Toten, die außerhalb des Doms ruhten, würden natürlich aus ihren Gräbern auferstehen, ja auch sie.
»Vielleicht sind sie schon da,« dachte er. »Ich kann sie nur nicht sehen.«
Er überlegte einen Augenblick, zog dann einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn vor sein rechtes Auge. Die alte Brita auf Kuddnäs hatte ihn ja folgendes gelehrt: Wer zur Nachtzeit auf einem Kirchhof durch einen Schlüsselring sah, dem würden sich die Toten zeigen.
Doch kaum hatte er den Schlüssel ans Auge gesetzt da sah er auch schon, wie sich eine Gestalt von der nächtlichen Dunkelheit loslöste und auf ihn zueilte.
»Dies ist kein wirklicher Mensch,« dachte er; aber jedenfalls fühlte er gar keine Angst, er war nur höchst verwundert.
Denn das wußte er, das Wesen, das er da vor sich sah, war weder tot noch lebendig, sondern es war ein Geschöpf seiner eigenen Einbildung. Aber noch niemals hatte er etwas so Wunderbares erlebt, daß ein Gebilde, das Erzeugnis seines eigenen Gehirns, leibhaftig vor ihn hintreten und sich mit selbständigem Leben bewegen konnte.
»Ich träume natürlich,« dachte er.
Und jetzt hörte er die Gestalt, die zu ihm getreten war, fragen, ob nicht der Herr Lizentiat ihm die Ehre seines Besuchs da droben im Kirchturm zuteil werden lassen wolle.
»Ich träume natürlich,« dachte Zacharias noch einmal.
Aber er wußte sehr wohl, daß er ganz wach war und etwas höchst Wunderbares erlebte. Etwas in ihm hatte diese Gestalt, die er da vor sich sah, erschaffen. Etwas in ihm sprach und handelte in allem, was die Gestalt sagte oder tat. Dieses Etwas aber stand in keiner Weise unter dem Einfluß seines Willens. Er, der mit dem Schlüssel vor dem Auge hier vor dem Dome stand, hatte keine Ahnung davon, was das Gebilde da vor ihm im nächsten Augenblick sagen oder tun werde.
Er befand sich mitten in einem wachen Traum. Die Macht in ihm, die die Träume der Nacht schafft, war in seinem wachen Zustand in Tätigkeit.
Er hörte, daß das Traumgebilde, oder wie er es nennen sollte, ihn einmal ums andere anredete, er aber war von seiner eigenen Seelenverfassung zu überrascht, um den Worten zu lauschen. Jetzt aber durchzuckte ihn auf einmal der Gedanke: »Dies ist etwas höchst Eigentümliches und Seltsames. Versäume die Gelegenheit nicht! Geh auf das Spiel ein! Laß diesen Traumschöpfer, den du in dir hast, sein Spiel treiben, wie es ihm selbst am besten gefällt!«
Nun betrachtete Zacharias das Wesen, das sich da vor ihm befand. So weit er es beurteilen konnte, war es ein unglaublich alter Mann; aber das betagte Gesicht mit seiner gebogenen Adlernase, seinen fleischlosen Wangen, der runzligen Stirne hatte noch immer das Gepräge ungebrochener, eisenharter Energie. Einen Augenblick ging Zacharias der Gedanke durch den Kopf, der Beherrscher der Unterwelt offenbare sich leibhaftig vor ihm.
»Ich sehe, Herr Lizentiat,« sagte jetzt das merkwürdige Wesen. »Sie haben bemerkt, daß heut' abend hier in Åbo im Dom etwas vor sich geht. Nun wohl, es handelt sich dabei weder um Gespenster noch um Geister, aber möglicherweise könnte Sie das, was da oben vorgeht, dennoch interessieren.«
Zu seiner Verwunderung brachte Zacharias weder Ja noch Nein heraus, und der Mann, der ihn angeredet hatte, begann aufs neue:
»Sie erwarten gewiß, daß ich mich Ihnen vorstelle, Herr Lizentiat. Mein Name ist Weis, Doktor Martin Weis, deutsch von Geburt; aber seien Sie ganz beruhigt, meine Papiere sind vollständig in Ordnung, ich halte mich mit gütiger Erlaubnis der Behörden hier auf. Und nun bitte ich Sie noch einmal um Ihren Besuch in meinem Turmzimmer.«
Einen Augenblick dachte Zacharias, er habe es am Ende mit einem Verrückten zu tun; aber was der Mann sagte, war doch vollständig klar und vernünftig und auch sein Gesicht zeigte nichts von den zerfallenen Zügen, die Verrückten eigen sind. Nein, hier war eine Seele, die sich auf der Höhe der Energie und der Geisteskraft befand.
Der Mann war ohne weiteres auf die Kirche zugegangen, und Zacharias folgte ihm. Bald erreichten sie ein Pförtchen, das wohl von dem Küster oder dem Turmwächter benutzt wurde und das in die Vorhalle der Kirche führte. Hier in der tiefen Dunkelheit ergriff Doktor Martin Weis Zacharias' Hand und geleitete ihn nach der Turmtreppe, die er in großer Eile hinaufstieg, wie wenn er dem Gaste keine Zeit lassen wollte, sich von dem Abenteuer zurückzuziehen.
Vielleicht geschah dies aus demselben Grunde, aus dem der sonderbare Mann nie eine Antwort abwartete, wenn er Zacharias anredete.
»Für wie alt halten Sie mich, Herr Lizentiat? Sie raten vielleicht auf achtzig oder neunzig Jahre. Legen Sie ruhig noch achtzig und achtzig dazu, dann kommen Sie der Wahrheit näher. Ich war ein Kind, als der große Gustav Adolf nach Deutschland auszog, und ich entsinne mich seiner noch sehr gut. Meine Mutter trug mich auf dem Arm, als die Leute in Naumburg seinen Koller aus Renntierleder küßten. Ich habe unter Turenne und Condé gefochten; dann zog ich mich zu meinen Studien zurück und arbeitete unter Leibniz in Deutschland, unter Newton in England. Kurz gesagt, ich habe viele Geheimnisse erforscht, von denen man in Ihrer Zeit kaum eine Ahnung zu haben scheint. Ich habe das Lebenselixier gefunden, das das höchste von allen Geheimnissen und ein Ausfluß der Substanz ist, von der die Welt lebt. Aber jetzt sehe ich, daß wir das Ziel unserer Wanderung erreicht haben.«
Er ließ Zacharias' Hand los und öffnete die Tür eines kleinen Raumes, der offenbar als ein Zufluchtsort für den Turmwächter gedacht war. So klein das Stübchen auch war, so erschien es gewissermaßen noch kleiner, weil fast der halbe Raum von einem großen Herd, auf dessen Platte ein starkes Kohlenfeuer glühte, eingenommen wurde.
Auf dem Herde standen verschiedene Tiegel, auf den Brettern an den Wänden ringsum unterschied man Retorten, Flaschen und dunkle, unbekannte Gegenstände, die in der unsicheren Beleuchtung von dem Kohlenfeuer kaum näher bestimmt werden konnten. Wenn es nicht so ganz unmöglich gewesen wäre, hätte Zacharias geglaubt, er sei in die geheime Werkstatt eines Alchymisten gekommen.
Hier hatte er übrigens Gelegenheit, den Mann näher zu betrachten, der ihn in sein Laboratorium geführt hatte und der sich für einen Zeitgenossen von Gustav Adolf und für einen Kenner des Geheimnisses von dem Lebenselixier ausgab. Er war mager und gebückt und trug noch die Tracht des siebzehnten Jahrhunderts: Kniehosen, lange seidene Strümpfe und Schnallenschuhe, sowie einen Frack mit breiten Schößen und großen Knöpfen. Er hatte sich einen Lederschurz umgebunden und war offenbar mit solcher Hast hinuntergeeilt, um Zacharias zu holen, daß er keine Zeit gehabt hatte, den Schurz abzunehmen.
»Herr Lizentiat,« sagte er, »es wird mir eine Freude sein, Ihnen nachher einen Beweis meiner Wissenschaft zu geben, aber jetzt muß ich zuerst eine äußerst wichtige Sache klarlegen. Ich bitte Sie deshalb, Platz zu nehmen und mir mit etwas Geduld zuzuhören.«
Damit schob er Zacharias einen ziemlich bequemen Lehnstuhl hin, und während er sich selbst auf die steinerne Stufe vor dem Turmfenster setzte, fuhr er mit seiner gewohnten Beredsamkeit fort:
»Ich bin ganz einfach ein Mann, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, in die Geheimnisse der Natur einzudringen, und es ist mir auch schon geglückt, das eine und andere herauszufinden. Immerhin ist mir für die mir noch zugemessene Lebenszeit genügend Arbeit übrig geblieben. Eine Zeitlang suchte ich nach Mitteln, den Einfluß der Sterne zu beherrschen. Ich las in meinen Zirkeln, daß alle fünfhundert Jahre einmal ein Zusammentreffen der drei mächtigsten Planeten Mars, Jupiter und Saturnus stattfindet, und daß ein unter dieser Konstellation geschmiedeter Talisman imstande ist, durch die vereinte Kraft dieser drei Planeten alle andern Sterne zu beherrschen. Aber diese Konstellation dauert nur acht Minuten, vierzehn Sekunden, neunundvierzig Terzen, und nicht eine Terze mehr oder weniger darf zum Schmieden des Talismans daraufgehen. Durch diesen Umstand ist dieser Talisman erst ein einziges Mal hergestellt worden, und zwar im Jahre 1318 am Nachmittag des 14. Januar um drei Uhr und achtundzwanzig Minuten. Bei dem nächsten Zusammentreffen dieser Sterne, das am 14. Januar 1818 stattfand, wurde kein Ring geschmiedet, aber es wurde da ein Kind geboren, das nun unter dem Schutz dieser mächtigen Planeten steht. Und nun, Herr Lizentiat, nun fangen Sie vielleicht an, zu verstehen. Täusche ich mich wohl, oder sind nicht Sie selbst in jenem denkwürdigen Augenblicke geboren?«
Zacharias machte ein bejahendes Zeichen, und Doktor Weis fuhr fort:
»Ich sehe, was ich Ihnen hier erzähle, kommt Ihnen höchst phantastisch vor, und Sie sind am ehesten geneigt, meinen Worten gar keinen Glauben zu schenken.«
Zacharias lächelte zustimmend und sagte:
»Alles, was Sie berichten, ist sicherlich im höchsten Grad interessant, aber – – –«
Der Doktor zuckte die Schultern.
»Ich habe bei dem Manne, der am 14. Januar unter dieser mächtigen Konstellation geboren ist, ein größeres Vertrauen in diese hohe Wissenschaft zu finden gehofft. Aber einerlei! Was sagen Sie dazu, Herr Lizentiat, daß Sie jetzt derjenige sind, welchem dieser Talisman rechtmäßigerweise gehört? Ihre Geburtsstunde berechtigt Sie zu dem Besitz. Und wenn Sie es wünschen, soll er Ihnen in dieser Nacht übergeben werden.«
»Wirklich?« sagte Zacharias. »Ei wirklich?«
»Sie lächeln, Herr Lizentiat,« sagte Doktor Weis mit einer Heftigkeit, die auf dem Punkt war, in Zorn überzugehen; »aber warten Sie nur einen Augenblick! Wollen Sie nicht die Güte haben, mich mit Vertrauen und ernster Aufmerksamkeit anzuhören? Mehr als gerne würde ich Sie auch ferner in Unkenntnis lassen; aber ich habe den Auftrag erhalten, Sie aufzuklären. Ich tue es wahrlich nicht aus eigenem Antrieb.«
Er sprach mit einer Überzeugung, die nicht verfehlte, Eindruck auf Zacharias zu machen.
»Ich bin gewiß kein Ungläubiger,« versetzte er, indem er seinen vorherigen satirischen Ton aufgab, »aber Sie müssen doch zugeben, Herr Doktor, daß mir das, was Sie mir eben gesagt haben, ein wenig ungewöhnlich vorkommen muß. Vielleicht würde ich die Sache besser fassen, wenn Sie mir etwas von den Kräften mitteilen würden, die dem Talisman, der Ihrer Aussage nach für mich bestimmt sein soll, eigen sind.«
»Dieser Talisman,« sagte das sonderbare alte Männchen, »ist ein kupferner Ring, so klein, daß er nur mit Mühe auf den kleinen Finger eines Menschen gezwängt werden kann.«
In einem Nu war er dann von seinem Turmfenster weg und bei Zacharias. Er erfaßte dessen linke Hand und versuchte, ihm einen Ring über das erste Glied seines kleinen Fingers zu schieben.
Mit einem unwiderstehlichen Gefühl von Angst und Entsetzen zog Zacharias seine Hand heftig zurück. Eine innere Stimme gebot ihm, sich in acht zu nehmen und sich unter keiner Bedingung den Ring aufzwingen zu lassen.
»Warten Sie einen Augenblick, Herr Doktor! Sie haben mich noch nicht über die Eigenschaften des Rings aufgeklärt.«
»O du verblendender Mensch!« rief der Alte mit nach oben gerichteten Augen. »Wie viele Menschen haben schon mit glühendem Verlangen nach diesem Ring gestrebt! Ich selbst war eine Zeitlang zu jedem Verbrechen bereit, nur um in den Besitz dieses Kleinods zu gelangen. Es hat mich ins Irrenhaus gebracht, es hat mich gezwungen, mich für tot auszugeben. Jetzt bin ich aber doch, sozusagen, über das Stadium des Rings hinausgekommen, und ich selbst brauche ihn nicht mehr. Mein Auftrag geht nun dahin, ihn Ihnen zu überlassen.«
Wieder machte er einen Versuch, ihn Zacharias auf den kleinen Finger zu zwingen; der aber wehrte sich.
»Die Eigenschaften zuerst!« sagte er in bestimmtem Ton.
»In der ganzen Welt gibt es keinen wertvolleren Schatz als diesen Ring,« erklärte Doktor Weis mit großer Feierlichkeit. »Mit seinem Besitz ist Glück im Frieden und Sieg im Krieg, Liebe, Ehre und Reichtum verbunden. Er beschützt vor allem Bösen, sofern der, der ihn trägt, keinen Meineid schwört, denn das lähmt die Kraft des Ringes. Nun also, Herr Lizentiat, wollen Sie jetzt nicht wenigstens probieren, ob er Ihnen paßt?«
Mit einem Lächeln, das einladend sein sollte, streckte er den Finger mit dem Ring aus; aber Zacharias schauderte.
»Noch eine Frage,« sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Warum bieten Sie mir den Ring erst heute an? Hätte er nicht schon seit meiner Geburt in meinem Besitz sein sollen?«
»Ja, gewiß, ganz richtig; aber Sie haben uns bis jetzt keine Gelegenheit dazu gegeben.«
»Gelegenheit, wieso?« fragte Zacharias verwundert.
»Ich meine, was ich sage. Seit Sie mündig geworden sind, haben Sie nichts weiter gewollt, als Glück für Ihr Vaterland herbeizuführen. Jetzt erst – – –«
»Sie meinen, Herr Doktor Weis?«
»Jetzt erst, durch diese Reise nach Åbo, haben Sie gezeigt, daß Sie an Ihr eigenes Glück denken. Sie wollen sich ein eigenes Heim schaffen, wollen sich verheiraten, Sie möchten eine sichere, gute Stelle haben. Jetzt muß der Ring Wert für Sie haben.«
»Und wenn ich ihn doch nicht annehme?«
»Ich beschwöre Sie,« sagte der Doktor, »begehen Sie keine Unvorsichtigkeit! Merken Sie sich nur eins! Während Sie heranwuchsen, ist der Ring hier im Dome mit den anderen kostbaren Kleinodien aufbewahrt worden. Aber der Åboer Dom ist durch die Erinnerungen, die sich an ihn knüpfen, durch seine Geschichte, durch die Toten, die hier ruhen, durch all das ist er sozusagen das Mutterhaus des schwedischen Volkes. Wenn ein solcher Schatz hier verwahrt wird, dann übt das eine Wirkung auf Ihr ganzes Land aus. Nun wohl, jetzt müssen Sie erkennen, welch ein außerordentliches Glück Finnland in den letzten Jahrzehnten zugedacht war.«
»Åbo ist doch abgebrannt,« warf Zacharias ein.
»Ist nicht eine Feuersbrunst in einer alten Stadt oft geradezu eine Wohltat?« versetzte der Doktor. »Kommen Sie jetzt!« sagte er und faßte Zacharias wieder an der Hand. »Lassen Sie mich Ihnen nun den Ring aufstecken. Das Glück, das Ihr Land jetzt genießt, wird sich in vergrößertem Maße auf Sie übertragen. Für alles, was Sie schreiben, wird man Sie bewundern. Sie werden Volksgunst, Königsgunst, Reichtümer gewinnen. Sie sind wirklich zu kleingläubig. Behalten Sie den Ring nur diese eine Nacht an Ihrem Finger, und Sie werden von dessen Kraft überzeugt werden.«
Zacharias stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. In diesem letzten Vorschlag sah er einen Ausweg, sich des andern Beharrlichkeit zu entziehen.
Nach einigen Augenblicken hatte er mit dem kleinen Goldmacher oder Zauberer, oder was es nun sein mochte ein Übereinkommen getroffen. Er versprach, den Ring diese eine Nacht an seinem Finger zu behalten. Wenn er dann keine Lust hätte, ihn zu eigen zu haben, sollte ihm das Recht bleiben, ihn wieder in den Domschatz zurückzugeben. Damit würde er nach Doktor Weis' Versicherung während seiner eigenen Lebenszeit Finnland Glück und Emporkommen zuwenden.
Als dies geschehen war, wurde der Doktor freundlicher und zutraulicher.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf,« sagte er, »sollten Sie diese Nacht darauf verwenden, die Geschichte des Ringes kennen zu lernen. Sie werden in Zukunft viel Nutzen davon haben.«
Als Zacharias dazu beifällig nickte, holte der Doktor eine große Glaskugel herbei, die mit wogendem Rauch gefüllt zu sein schien, und stellte sie vor Zacharias hin.
»Setzen Sie sich nun ganz behaglich zurecht,« mahnte er. »Halten Sie die Augen auf diese Kugel gerichtet. Sehen Sie her! Jetzt stecke ich den Ring auf Ihren Finger. Und jetzt, Herr Lizentiat, lasse ich Sie allein. Lassen Sie sich durch nichts stören!«
Zacharias wollte ihn an sein Versprechen, ihm die Geschichte des Ringes zu erzählen, erinnern; aber im selben Augenblick war der kleine Mann auch schon verschwunden, und Zacharias befand sich allein in dem seltsamen kleinen Kirchturmlaboratorium, den Ring am Finger und die große Glaskugel vor sich.
Als Zacharias nun die Glaskugel näher betrachtete, geschah in der Tat etwas Merkwürdiges. Auf eine Weise, die er sich nicht erklären konnte, war ihm, als sehe er zugleich in sein eigenes Innere hinein. In seinem Kopf, in seinem Gehirn, so kam es ihm vor, mußten sich auch solche durcheinanderwogende Wolken, ebensolche unbestimmbare Rauchwolken befinden.
Während er fortgesetzt in die Glaskugel hineinschaute, sah er, daß die Wolken in seinem Innern, oder auch vielleicht die in der Glaskugel – er konnte die einen nicht mehr von den andern unterscheiden – allmählich Form annahmen, und er erkannte sie als Erinnerungen wieder. Er sah, einige von diesen Wolken waren Erinnerungen aus der Zeit in Uleåborg, wo seine Phantasie durch das Romanlesen zuerst in Bewegung gesetzt worden war. Er sah die Gestalt eines Wesens, das er sich dort geschaffen hatte und das, sozusagen, die Königin aller seiner damaligen Träume gewesen war. Es war ein weibliches Wesen, das er zwar nie gesehen, aber doch von ganzem Herzen geliebt hatte. Sie war außerordentlich schön, südländisch dunkel, stolz, leidenschaftlich, von hoher Geburt; immer liebte sie einen großen Helden, den Zacharias nicht zu überglänzen imstande war, weshalb er die Schöne beständig vergeblich um ihre Liebe anflehen mußte.
Ferner zeigten sich in der Glaskugel Erinnerungen aus seiner Schulzeit, Heldentaten, die er in Gedanken daheim auf seinem Zimmer vollbracht hatte, vielleicht nachdem er von stärkeren Kameraden hart geschlagen und übel zugerichtet worden war. Dann drängten sich Abenteuer hervor, die er in dem kleinen Zimmer bei Runeberg erlebt, nachdem er Fryxells Geschichte gelesen hatte, und dann sah er einzelne Bruchstücke von Professor Reins Vorlesungen und von allem, was er da als Zuhörer gedichtet hatte.
Da sah er auch Erinnerungen von seinen beständigen langen Reisen auf der Landstraße. Was hatte er da nicht alles erlebt, während er zur Schule und zur Universität gereist war! Im Schneewetter hatte er sich verirrt und war vor geheimnisvollen Hofgütern angekommen. Manches liebe Mal hatte er den Weg wie ein finnischer Dragoner abgeritten, und oftmals war er in einer goldenen Königskutsche gereist. Bisweilen war es vorgekommen, daß Mathilda Lithén, gerade wenn er nach Nykarleby kam, von irgendeinem hohen Herrn entführt worden war. Da hatte er sich ungeachtet seiner Müdigkeit von der Reise in den Sattel geworfen, um sie zu retten. Er hatte das Tier während der Verfolgung zuschanden geritten, sich dann aber einen Schlitten gestohlen, der Schlitten war in ungeheuren Schneewehen steckengeblieben, und er war auf Schneeschuhen weitergeeilt. Bis nach Uleåborg, bis Haparanda, rund um den bottnischen Meerbusen herum war er den Flüchtigen nachgejagt.
Aber nicht immer war er der Verfolger, bisweilen war er auch ein gejagter Flüchtling gewesen. Bei rasendem Sturm war er mit geschwellten Segeln geflohen, er hatte sich in dunkeln Wäldern verkrochen. Wie ein aus Rußland heimgekehrter Gefangener hatte er nach seiner zerstörten Heimstätte gesucht, er hatte das ganze Elend des großen Unfriedens durchlebt.
Dann kamen die Knabenträume von Mathilda. Sie war die blonde nordische Frau, von niederer Herkunft, tüchtig, aber wunderbar schön war auch sie. Hochgestellte Männer flehten um ihre Liebe. Sie war nicht immer glücklich, aber sie hatte die Anlagen zu weiterer Entwicklung, konnte klug, tätig, kräftig werden und in späteren Jahren den Kindern und den Gütern vorstehen.
Da in der Glaskugel erschienen auch Zacharias' kindliche Gedanken über einen Stern, der sein Schicksal regieren sollte, ebenso seine beharrliche Vorstellung, daß sein altes Kindermädchen Brita Kiviranta doch eigentlich eine finnische Hexe sei, sowie auch alle die sonderbaren Geschichten aus Justinus Kerners Mazicon und vieles andere von dieser Art.
Und schließlich war da in der Glaskugel vor Zacharias alles, was er gelernt, alles, was er erlebt hatte, der ganze Inhalt seiner Seele würde man sich versucht fühlen, zu sagen. Es wogte hin und her, auf und ab, wie es bei Rauchwolken der Fall ist. Es hatte keine Kraft, sich zu wirklichen Bildern zu gestalten.
Aber jetzt plötzlich fühlte Zacharias einen schwachen Druck, der von dem Ring an seinem kleinen Finger ausging. Von diesem Finger aus schoß ihm ein heißer Strom durch den Arm und den Kopf bis hinauf ins Gehirn.
Und von diesem Augenblick an ordneten sich allmählich alle die sonderbaren Ingredienzen, die in dieser Glaskugel beisammen waren, und nahmen Gestalt an. Zacharias sah Menschen, Bäume, Pferde, Orte vor sich. Er hörte Reden, er las Gedanken. Es war alles miteinander Stoff aus seinem Gehirn, aber er ordnete sich, er baute sich auf zu einer Geschichte. Der Ring fing an, ihm seine Schicksale zu erzählen.
Das war das Wunderbarste, was Zacharias je erlebt hatte. Er konnte nicht sagen, es handle sich hier um Zauberei, alles dies hatte seinen Ursprung in ihm selbst, in ganz natürlichen Voraussetzungen. Aber er konnte jetzt, kraft einer ungeheuer gesteigerten Phantasie, einen weit zurückliegenden Zusammenhang der Geschehnisse erkennen. Er erlebte Menschenalter um Menschenalter. Er folgte Geschlechtern in verschiedenen Gliedern, sah die Eltern sterben und die Söhne heranwachsen, sah Typen, sah Charaktere. Er erlebte ein ganzes Epos, ein Heldengedicht der Finnen und Schweden.
So saß er stundenlang und folgte der langen Kette von Ereignissen, die sich vor seinen Augen entrollte. Er lachte und er weinte, er war glücklich und entzückt, war erzürnt und wütend. Die Schicksale des Ringes erschienen ihm herrlich, unvergleichlich. So saß er noch, als endlich die Tür aufging und Doktor Weis den Kopf hereinstreckte.
»Die Sonne ist am Aufgehen,« sagte er. »Die Nacht ist bald zu Ende. Was haben Sie nun bestimmt, Herr Lizentiat?«
Verwirrt wie ein Träumender fuhr Zacharias von den Erscheinungen in der Glaskugel auf. Er richtete seinen Blick auf den Ring an seiner Hand. Sein erster Gedanke war, daß er diesen Ring liebe und daß ihn jetzt nichts mehr dazu bewegen könne, sich wieder von ihm zu trennen.
Dann sah er auf und den Doktor an, um ihm das zu sagen: aber der Doktor hatte diesen Blick nicht erwartet. In seinem Gesicht spiegelten sich in diesem Augenblick nur allzu deutlich die Gefühle, die ihn beseelten. Das Gesicht, in das Zacharias sah, drückte eine satanische Freude, einen fanatischen Haß aus, das Glück des gefallenen Geistes darüber, daß er eine hochstehende Seele in dieselbe Falle gehen sieht, in der er selbst gefangen worden ist.
Von einem grenzenlosen Schrecken erfaßt, riß Zacharias den Ring vom Finger und schlenderte ihn zu Boden. Und unwillkürlich wiederholte er einen lateinischen Satz, den er erst vor kurzem in den Träumen der Nacht gehört hatte: »Vade retro, Satanas!«
In demselben Augenblick schien die Sonne durch die schmale Fensterluke. In ihren Strahlen begann sich die kleine Zelle gleichsam aufzulösen. Die Wandbretter mitsamt den Kolben und Retorten, der Herd mit seinen Tiegeln, ja, Doktor Weis selbst waren wie ausgelöscht. Zacharias stand bald allein da. Aber noch mehr! In dem hellen Sonnenschein verschwanden sogar auch die gewaltigen Turmmauern des Doms, die ihn eben noch umgeben hatten. Ihm war, als hätte er nur in einen Nebel hineingeschaut. Ringsum hatte er jetzt freie, frische Luft, er befand sich im Freien. Jawohl, er stand auf der Erde und lehnte sich noch an denselben Baum, wo er gestanden hatte, als Doktor Weis kam, um ihn in die Kirche zu holen.
»Nur ein Traum!« sagte er sich, und dann seufzte er ein wenig niedergedrückt.
Aber zugleich kehrten alle Erfahrungen der Nacht zu ihm zurück, und er fühlte helle Freude in seinem Herzen, am liebsten hätte er laut gesungen, geschrien, den ersten besten umarmt.
»In meiner Hand hab' ich ein großes Werk, den Stoff zu einem großen Werk!« rief er. »Ich habe den Plan zu einem Epos in meinem Kopf!«
In dem nächsten Brief, den Zacharias an Emilie schrieb, sagte er, es sei seine feste Überzeugung, daß sein Mitbewerber in Vasa die Stelle bekomme. Und zugleich bat er sie, sich darauf vorzubereiten, daß ihr künftiges Heim in Helsingfors sein werde. Er sei nun fest entschlossen, in der Hauptstadt zu bleiben.
Und siehe, sobald der mutige Entschluß gefaßt war, lichteten sich die Aussicht. Die große, entscheidende Anerkennung kam zwar nicht, und er erwartete sie auch nicht. Er wußte jetzt eines: sie konnte nicht kommen, ehe er sein Lebenswerk fertig hatte. Aber er bekam Bestellungen, an denen er merken konnte, daß man ihn allmählich mit unter die Schriftsteller rechnete. Ein Verleger, der ein Bilderwerk »Finnland in Bildern« herausgeben wollte, bat ihn, einen Teil des dazu gehörigen Textes zu schreiben. Ein anderer verlangte eine Novelle für Weihnachten; der Theaterdirektor Friedrich Deland forderte ihn auf, ein Theaterstück zu schreiben, und der Komponist Ingelius zu Åbo wollte einen Operntext.
Auch in Nykarleby war man jetzt nicht mehr so zaghaft wie zuvor. Emiliens Schwester Thilde wollte an Weihnachten mit dem Bürgermeister von Nykarleby Hochzeit machen, und die Schwiegereltern wünschten, Zacharias' und Emiliens Hochzeit solle gleichzeitig stattfinden.
So wurde es auch. Während des ganzen Herbstes hatte Zacharias unendlich viel Mühe und Sorge, die ihm aber nur lieb waren: er mietete eine Wohnung, ging auf die Auktionen und erstand Möbel, kaufte das Brautgewand für die beiden Schwestern und besorgte noch tausenderlei andere Dinge; in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr wurde dann in Nykarleby die Hochzeit mit Lust und Freude gefeiert, und am Neujahr 1846 saß Zacharias mit seiner Emilie im eigenen Heim in Helsingfors.