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Zacharias Topelius, der Ältere

Wenn niedergebrannte Häuser, verheerte Äcker, zugrunde gerichteter Wohlstand, erschlagene, gemarterte oder in Gefangenschaft und Sklaverei fortgeführte Menschen, ja, wenn selbst politische Unglücksfälle, wie der Verlust von Ländern, verwüstete Provinzen und allgemeine Verarmung die einzigen Folgen eines langen, verheerenden Krieges wären, dann wäre der Anblick noch lange nicht der furchtbarste, der einem Menschenauge in den Bruderkriegen dieser Welt zuteil werden könnte. Diese Häuser können wieder aufgebaut werden, diese Felder wieder bestellt, diese Bewohner wieder heranwachsen, weil sich gemäß der weisen Einrichtungen der Natur die Fruchtbarkeit nach großen Zerstörungen verdoppelt. Aber das härteste Unglück von allem und das, was den Beschauer mit der tiefsten Trauer erfüllt, ist der Anblick der großen moralischen Erniedrigung, die gewöhnlich den Verheerungen des Krieges auf dem Fuße folgt.

Wohl ist es wahr, daß nach dem Friedensschlusse von 1809 die in Finnland herrschende Not nicht zu vergleichen war mit dem Elend des großen Krieges, das Christof Toppelius bei seiner Rückkehr von Rußland überall antraf. Jetzt besaß das Land noch unverbrannte Städte und Dörfer, die Handelsschiffe waren nicht von Freibeutern geraubt, die Felder lagen nicht unbebaut und von sich einnistenden Waldbäumen überwuchert da. Die Kosaken hatten nicht alles Vieh fortgetrieben, und man hatte die Kirchenglocken nicht auf den Meeresgrund versenken müssen, damit sie der Beschlagnahme vom Feinde entgingen. Die Bevölkerung war jetzt nicht von ihrem kostbarsten Eigentums fortgeflohen, die Bürgerschaft wohnte noch in den Städten. Bauern und Pfarrer waren noch auf den Dörfern. Im Waldesdickicht lauerten keine Räuber, und verarmte Flüchtlinge zogen nicht auf den Wegen umher und suchten nach ihren zerstörten Heimstätten. Dem Gefolge aber, das mit dem Kriege dahergezogen kommt, war das Land keineswegs entgangen, der Sittenlosigkeit, der Ungerechtigkeit, der Genußsucht sowie dem verderblichen Verlangen, mit wenig Arbeit leicht erworbenen Verdienst zu ernten.

Wenn man dazu den Umschwung aller Verhältnisse bedenkt, den die Trennung von Schweden herbeiführen mußte, dann kann man wohl sagen, daß das Land zu keiner andern Zeit charakterfeste, uneigennützige und tüchtige Männer so bitter nötig gehabt hätte, Männer, die einen Damm gegen die Sittenverderbnis hätten aufrichten können und dem Volke die Leitung zuteil werden lassen könnten, die es unter der Umwälzung so notwendig brauchte. Unternehmend und scharfsichtig mußten diese Männer auch sein, denn jetzt galt es, nicht nur am Alten festzuhalten, sondern auch das Land auf jedem Gebiet vorwärtszubringen, nun handelte es sich darum, ob Finnland zu einem Gouvernement wie jedes andere in einem stillstehenden Rußland herabsinken wollte, oder ob die Finnen auch ferner zu dem fortschreitenden, freien Volk des Westlandes gezählt werden durften.

Und wahrlich, glücklich dürfen sich die Finnen schätzen, daß in jener Zeit ihr hart bedrängtes, sich selbst überlassenes Volk solcher Männer mit solchen hervorragenden Eigenschaften niemals ermangelte, Männer, von denen jeder an seinem Ort die Führerschaft übernahm. Bald war es ein Universitätsprofessor, bald ein Pfarrer, bald ein einfacher Bauer, der sich an die Spitze stellte und die Erneuerung beschleunigte. Und diese Männer der neuen Zeit scheinen sich auch überall gefunden zu haben gleich einer über das ganze Land ausgebreiteten Bruderschaft.

Mit einem aus dieser Schar werden wir jetzt bekannt werden.

Ganz nahe bei der hübschen Stadt Nykarleby im südlichen Österbotten lag ein kleiner Herrenhof namens Kuddnäs. Vielleicht kann sich der eine oder andere aus jener Gegend noch an das behagliche einstöckige Wohnhaus erinnern, wie es sich damals ausnahm mit seinen weißen Wänden, seinem gegliederten Dach und dem kleinen eigenartigen Vordergiebel dicht über dem Dachrand. Rings um das Wohnhaus her zog sich der Garten mit Blumenrabatten, Erdbeer- und Küchenkräuterbeeten und einer großen Menge Johannisbeersträuchern. Hinter dem Garten lag ein kleines Wäldchen mit himmelhohen Erlen, vor dem Garten schlängelte sich ein kristallhelles Flüßchen dahin, und vom Hofe her bis zur Straße nach Nykarleby führte eine stattliche Allee.

Dagegen kann man nicht verlangen, daß sich irgend jemand jetzt noch an jenes Leben und die Betriebsamkeit erinnerte, die vor hundert Jahren auf diesem Hofe herrschten. Das Anwesen gehörte seit dem Jahre 1813 dem kurze Zeit vorher von Schweden zurückgekehrten Arzte Zacharias Topelius, der wegen seiner großen Geschicklichkeit in ganz Finnland berühmt geworden war und sich eine ganz bedeutende Praxis erworben hatte. Ein Fuhrwerk ums andere brachte Kranke nach dem Hofe, oftmals von recht weit abgelegenen Orten her, Leute, die den Doktor zu sich holen wollten, warteten vor dem Hofe mit ihrem Wagen, Kranke, die längere Zeit der Pflege bedurften und in dem Gesindehaus auf Kuddnäs oder in den umliegenden Höfen Aufnahme gefunden hatten, wanderten nach der Wohnung des Doktors, um sich von ihm behandeln zu lassen.

Immerhin waren es nicht nur Kranke und Hilfesuchende, die auf dem Hofe aus und ein gingen. Der berühmte Arzt war zugleich auch ein eifriger Vaterlandsfreund, der sein Eigentum zu einem Musterhofe und den ganzen Bezirk ringsum zu einem nutzbringenden Vorbild machen wollte. Bei ihm waren Arbeiter angestellt, die große Gartenanlagen einrichteten, Zimmerleute verbesserten und erweiterten die Wirtschaftsgebäude; an einem Bach, der im Frühjahr und Herbst gar reißend daherrauschte, wurde eine Schmiede und eine Mühle gebaut, und draußen auf den Äckern wurden neue Arbeitsmethoden geprüft und neue Ackerbaugerätschaften ausprobiert.

Immer neue Gesichter zeigten sich auf dem kleinen Hofe. Bald kam ein Bauer, um sich die neuen »Moden« des Doktors anzusehen, bald war es ein vornehmer Durchreisender, der sich in Nykarleby aufhielt und nicht abreisen wollte, ohne die merkwürdigen Anlagen auf Kuddnäs gesehen und dem Besitzer für seine eifrige Vaterlandsliebe gedankt zu haben. Bald kam der alte Kirchenmaler, der nach der Heimkehr des Sohnes zu neuem Leben erwacht war, mitsamt seinen ganzen Malgerätschaften von Uleåborg dahergefahren, um monatelang das nach Süden gelegene Giebelzimmer zu bewohnen. Bald sah man da auch des verstorbenen Kaplans von Ilmola einzigen Sohn Franz Michael, dem der Doktor seine väterliche Fürsorge zuteil werden ließ und den er oft in den Ferien nach Kuddnäs einlud.

Unter anderen, die Kuddnäs besuchten, zeigten sich auch ein seltenes Mal arme alte Männer von wildem, sonderbarem Aussehen; sie hatten eine dunkle Hautfarbe, das Haar hing ihnen auf die Schultern herab, und sie trugen lange, fast bis auf den Boden reichende Kaftane.

Diese umherziehenden Männer waren in der ganzen Umgegend gefürchtet, weil man sie für gefährliche Hexenmeister und Zauberer aus dem entfernten Finnenbezirk hielt. Auf Kuddnäs dagegen wurden sie warm willkommen geheißen. Der Doktor schloß sich mit ihnen in sein Studierzimmer ein und unterhielt sich da stundenlang mit ihnen. Er war nämlich während seiner Tätigkeit als Arzt wiederholt mit alten Männern und Frauen in Streit geraten, die die verschiedensten Krankheiten durch Aufsagen altertümlicher Gedichte in finnischer Sprache heilten. Zu all den vielen verschiedenen Gebieten, die ihn anzogen und seine Zeit ausfüllten, war da die Lust in ihm erwacht, sich von diesen seinen armen Nebenbuhlern eine Sammlung ihrer heilkräftigen Runen zu verschaffen, und so begrüßte er hocherfreut jeden, der ihm einen Beitrag dazu liefern konnte, gleichsam vorausschauend, daß sich unter diesen merkwürdigen dichterischen Erzeugnissen Schönes und Wertvolles finden würde, was von andern Forschern bisher übersehen worden war.

Kurz nach seiner Rückkehr in das Vaterland hatte sich Doktor Topelius mit Sofie Calamnius verheiratet, deren Familie zu den reichsten und vornehmsten in Nykarleby zählte, und er und seine Frau luden immer von Zeit zu Zeit Freunde und Verwandte aus der Stadt zu einem frohen Mittagsmahle ein. Bei solchen Gelegenheiten legte der ernste Doktor alle Kümmernisse auf die Seite und war dann ein außerordentlich angenehmer Gastgeber. Er lud seine Gäste nicht nur zu reichlicher Verpflegung an Wein und Speisen ein, sondern auch zu interessanten Geschichten aus der eben erst überstandenen Kriegszeit und zu Berichten über das, was die vaterlandsfreundlichen Männer taten, um den Mängeln in Finnlands Literatur und allgemeiner Bildung abzuhelfen. Viele Tischreden wurden gehalten, vom Hausherrn und der Hausfrau wurden Lieder vorgetragen, wobei die ganze Gesellschaft in den Kehrreim taktfest mit einstimmte. Wenn nach einem solchen Feste die Gäste Kuddnäs verließen, waren alle darüber einig, daß das Haus des Doktors nicht nur das vornehmste und gebildetste der ganzen Umgegend sei, sondern auch der Ort, wo man so recht von Herzen froh und vergnügt sein konnte, wie sonst nirgends.

Auf diesem Kuddnäs, wo man so überaus fleißig war, wo man so viel Gutes tat und wo man es verstand, der ganzen Umgebung Freude zu spenden, war man indes durchaus nicht ohne Sorgen und Kummer gewesen. Zwei Söhnlein hatten nur ein paar Monate gelebt; am 14. Januar 1818 wurde ihnen indes noch ein dritter Sohn geboren. Er kam am Felixtage selbst auf die Welt, und ein achtzigjähriger Gärtner, der etwas von Astrologie verstand, stellte ihm das Horoskop. Er fand heraus, daß das Kindlein einstmals einen berühmten Namen bekommen werde. Auf so etwas legten indes die Eltern wenig Gewicht. Sie verlangten nichts weiter, als daß das Kind gesund und kräftig sei, damit es am Leben bleiben könnte und ihnen nicht wie die beiden Brüderchen wieder entrissen würde.

Zwei Jahre später stellte sich auch noch ein Töchterchen ein, und diese beiden Kinder blieben am Leben und gediehen prächtig heran. Nun hatte ihnen das Glück die ersehnten Kinder beschert, und man konnte sich wohl fragen, was es danach noch alles für sie in Bereitschaft haben werde.

Alles ringsumher war im Aufstieg begriffen. Die Anstrengungen des tüchtigen Arztes wurden mit Erfolg gekrönt. Sein Besitztum besserte sich nach jeder Richtung. Er und seine Frau lebten in der glücklichsten Ehe zusammen. Von dieser Welt Güter hatten sie mehr als genug; nicht nur der Not seines Vaters und der seiner Geschwister konnte der Doktor steuern, er konnte auch noch den Nahrungssorgen bei vielen andern abhelfen.

Doch im Jahr 1820 traf ihn ein großes Unglück. Auf einer Amtsreise fuhr Doktor Topelius über einen zugefrorenen See, und da brach das Eis unter ihm ein. Er geriet in eine Wake, wurde zwar gerettet, zog sich aber eine schwere Erkältung zu. Bei seiner Heimkehr fühlte er sich so krank, daß er sich gleich zu Bett legen mußte. Dann lag er unter großen Schmerzen Monat um Monat auf seinem Lager, und er selbst und andere glaubten nicht mehr an sein Aufkommen. Der Tod verschonte ihn dann freilich, aber seine Gesundheit kehrte nicht wieder. Die Beine blieben gelähmt, das Gehör geschwächt, und er litt oft an schmerzhaften Krämpfen. Jetzt mußte er selbst ärztliche Hilfe suchen. Sein Bruder kam als sein Stellvertreter, er selbst reiste nach Kopenhagen und nach Åbo und befragte die berühmtesten Kollegen; aber eine Besserung seines Zustandes war nicht zu erlangen.

Nun verstummte allmählich das brausende Leben auf Kuddnäs. Die Kranken hörten zwar nie ganz auf, den berühmten Arzt um Rat zu fragen, aber notwendigerweise waren sie von da an doch sehr in der Minderzahl. Keine neuen Gebäude erstanden mehr auf dem Gute, kein Einkauf von neuen Hufen Lands wurde mehr gemacht, keine Erweiterung des Gartens vorgenommen. Was schon getan war, suchte man instand zu halten, aber das Leben fiel nun in denselben ruhigen Gang wie auf einem gewöhnlichen Hofe.

Der Kranke selbst verbrachte seine Tage in einem Lehnstuhle sitzend mit einem Schreibebrett vor sich. Sein Kopf war klar, die Hände konnte er bewegen, aber die Fähigkeit zu energischer Arbeit war dahin, Er behandelte die Kranken, die zu ihm kamen, er las, er schrieb, er besorgte seinen Briefwechsel, er sammelte finnische Runen, er interessierte sich für alles, was mit Finnlands Wiederaufbau zusammenhing, er beschäftigte sich auch mit der Erziehung seiner Kinder; aber trotzdem erkannte er selbst und erkannten alle andern, daß seine Rolle auf dieser Welt ausgespielt war.

Aber eines bleibt bestehen: wenn ein Mann, der unter schweren Zeiten mit uneigennützigem Eifer sich für das Wohl seines Landes eingesetzt hat, plötzlich davon abgeschnitten wird, ihm noch weiter zu helfen, dann scheint damit auch sein Lebensnerv dahinzusiechen. Keine andere Tätigkeit befriedigt ihn mehr, er will weder Trost suchen noch annehmen, und eine unüberwindliche Mutlosigkeit zehrt an seiner Seele. Er fühlt sich nicht als der Stein, der, obzwar von den Bauleuten verworfen, trotzdem noch zum Eckstein ward, sondern als ein Pfeiler, der dazu bestimmt, das Gebäude zu tragen, als baufällig, unzulänglich und schwach erfunden und vom höchsten Baumeister verworfen worden ist.

So war ganz gewiß die Gemütsstimmung, die den kranken Arzt beherrschte, obgleich er mit unerhörter Geisteskraft es zu vermeiden suchte, seine Umgebung mit in sein Leid hineinzuziehen und die Luft im Hause schwer und drückend werden zu lassen.

Vor seiner Gattin, die zugleich seine Pflegerin war, konnte er wohl kaum seine Verzweiflung verbergen, aber seine Kinder durften ihrem Alter gemäß sorglos, frisch und glücklich heranwachsen.


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