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Im Sommer 1835 reiste Frau Doktor Topelius mit ihrer Tochter Sofie nach Sonnes, auf das Rittergut des Baron Rosenkampf, und während ihrer Abwesenheit wurde Zacharias zu Lithéns auf Alörn eingeladen.
Heißt es nicht, es sei gefährlich, danach zu streben, das Glück mehr als einmal in derselben Gestalt zu suchen? Aber diese Gefahr schien es nicht zu geben, wenn es sich um Alörn handelte. Es war noch immer die Insel der Seligen wie einst, und Mathilda war noch immer der sanfte, bezaubernde Genius, der über deren Herrlichkeit wachte.
Ja, Zacharias war, wenn möglich, noch glücklicher als im vergangenen Jahre. Noch stärker als damals hatte er jetzt das Gefühl, am rechten Platz zu sein. Er vertrödelte seine Zeit nicht, während er an den unschuldigen Freuden der Jugend teilnahm. Für die andern war dies alles vielleicht nur ein fröhliches Spiel, für ihn aber nicht. Hier wuchsen seiner Phantasie Schwingen, hier, in dieser blauen Luft spann sie ihn in eine zauberhaft schöne Traumwelt ein. So reich und mannigfaltig und märchenhaft das auch war, er dachte doch keinen Augenblick daran, es niederzuschreiben oder davon zu reden, aber es erfüllte ihn in einsamen Stunden mit höchstem Entzücken.
Heinrich Backman wohnte mit einigen jungen Leuten in diesem Sommer auch auf der Insel, und das Leben war ein einziger Freudenrausch vom Morgen bis zum Abend. Keiner dachte an etwas anderes, als daß er so vergnügt wie möglich sein wolle, alle bemühten sich liebenswürdig zu sein, alle standen unter dem Bann eines Zaubers, der über der Insel lag und ihren Gedanken und Worten einen etwas schwärmerischen, poetischen Anstrich gab.
Eines nur gab es, das in Zacharias manchmal ein leises Gefühl der Bitterkeit hervorrief; die beiden Schwestern Lithén, so zuvorkommend und kameradschaftlich sie sich auch ihm gegenüber benahmen, schienen nie daran zu denken, daß er jetzt siebzehn Jahre alt und schon seit zwei Jahren Student war. Noch immer behandelten sie ihn wie den kleinen Schulkameraden auf Kuddnäs, bestimmten, was er tun und was er nicht tun dürfe, lachten über ihn, wenn er davon sprach, auf die Jagd zu gehen, und hielten es für selbstverständlich, daß er alle ihre Aufträge ausführte und jederzeit ihr gehorsamer Diener war. Nun, was das letzte betraf, stand er ihnen da gerne zu Diensten. Was ihn kränkte, war, daß er gerade dadurch merkte, wie sehr er in ihren Augen immer noch ein kleiner Junge war.
Ach, Mathilda wenigstens hätte ihn doch besser verstehen müssen! Sie wußte ja, daß er nur für sie lebte, nur für sie atmete. So rein und unschuldig sie auch war, sie mußte doch den Unterschied zwischen den Gefühlen bemerkt haben, die er jetzt für sie hegte, und jener kindlichen Zuneigung, die er vor ihrer Stockholmer Reise für sie empfunden hatte.
Es war an einem Abend zu Ende des Sommers. Man hatte getanzt und sich nach dem Tanze am Strand vor Lithéns Häuschen niedergelassen, um auszuruhen. Der Mondschein bildete eine lange, zitternde Brücke weit hinaus auf das Wasser, und eine leichte Brise hob und senkte die glänzenden Wogen.
Das war ein Augenblick so recht für Poesie, und alle baten und bestürmten Zacharias, irgend etwas vorzutragen, entweder aus Tegnérs »Axel« oder eines von Runebergs Gedichten.
Zacharias besann sich einige Sekunden, dann begann er mit etwas unsicherer Stimme ein Stück zu deklamieren, in dem gebundene Sprache mit ungebundener wechselte.
Das Gedicht schilderte ein Gespräch in einer schönen, stillen Nacht zwischen dem hoch im blauen Äther dahinsegelnden Monde und der bewegten Meereswoge, die in beständiger, wehmutsvoller Klage an den Strand schlug. Alles andere war in dieser Nacht in das tiefste Schweigen versunken. Keine Laute war erklungen, kein Herz hatte laut aufgestöhnt. Wie Gespenster waren die Winde lautlos durch die Wälder gewandert, alle Luftgeister hatten in den Kronen der Bäume geschlummert. Auf Erden hatte Friede geherrscht.
»Warum, o Woge, seufzst du dort in der Tiefe?« fragte plötzlich der Mond. »Warum bist du die einzige Unruhige, Klagende, wo doch die ganze Natur zur Ruhe gegangen ist und nur meine Strahlen in traumhaftem Glanz hin und her weben?«
Und die Woge bat die silberne Königin des Himmels, ihr nicht zu zürnen, weil sie immer klage, sich immer in seufzender Unruhe bewege. Sie könne niemals aufhören, sich nach dem strahlenden Himmelsdom zu sehnen, oder darüber zu klagen, daß sie an die rauhe, felsige, dunkle Erdentiefe gebunden sei.
»Traure nicht, du Tochter des Windes und der Tiefe!« erwiderte da der Mond voller Mitleid. »Für kurze Zeit bist du wohl an dieses Ufer gebunden, doch in deinem Busen wohnt eine Macht, die sich befreit und deine Ketten sprengt, wenn die Stunde da ist.«
So sprach der Mond, und diese lieblichen Worte versüßten die Sehnsucht der Woge. Freier und friedlicher schlug sie von da an gegen den Strand. Und siehe:
Es kam ein Tag, ein Abend kam, und wieder
Sah still der Mond von seiner Höh' herab,
Um seine weiße Stirne leis und luftig
Weht lichter Silbernebel zarter Schleier.
Und lichter Silbernebel zarter Schleier,
Er war die Woge aufgelöst im Sehnen,
Die vordem einsam in der Welt geklagt.«
Nachdem Zacharias geendet hatte, herrschte tiefes Schweigen.
Erst nach einer Weile sagte Rosalie rasch: »Zacharias, von wem ist das? Von dir?«
Zacharias versuchte es zu leugnen, mußte sich aber bald als Verfasser bekennen. Allerdings, er habe das Stück im Frühjahr in Helsingfors gedichtet und nun gedacht, es passe gerade für diesen Abend, sagte er.
»Es ist das Schönste, was du je gedichtet hast,« versetzte Rosalie in bestimmtem Tone.
»Man fühlt sich so glücklich, wenn man es hört,« bemerkte ein anderes junges Mädchen. »Man fühlt deutlich, daß man eigentlich dort oben seine Heimat hat.«
Mathilda sagte zuerst gar nichts; aber nach einer Weile schaute sie Zacharias lange und prüfend an.
»Ich begreife nicht, wo du solche Gedanken hernimmst,« sagte sie.
Ihre Stimme verriet eine demütige Bewunderung, und Zacharias fragte sich, ob sie jetzt wohl endlich erkennen werde, daß er ein anderer geworden und nun mehr war, als der kleine bescheidene Spielkamerad von ehemals.
Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck genau. Sie wurde auf einmal sehr ernst, und plötzlich sah er, daß sie weinte.
Alle schauten sie bestürzt an und fragten, ob sie krank sei.
»Ach, es wäre am besten, wenn ich sterben dürfte, solange alles noch so ist wie jetzt!« stieß sie schluchzend hervor.
»Aber warum denn, liebste Mathilda?« rief Rosalie.
»Weil ich ganz bestimmt weiß, daß ich noch sehr unglücklich werde.«
Diesem sonst so ruhigen Menschenkind war mit einem Male eine Ahnung aufgegangen, daß der kindliche Junge neben ihr über Kräfte verfügte, die ihn wie auf Schwingen zu Höhen emportragen würden, wohin sie ihm nicht folgen konnte.
Ein paar Tage später war der Sommer auf Alörn zu Ende, und man bestieg die Boote, um in die Stadt zurückzukehren. Beim Abschied von der Insel weinten alle jungen Leute. Sie konnten nicht anders, denn dessen waren sie sicher, das, was sie hier die ganze Herrlichkeit der Romantik hatte genießen lassen, konnte nie mehr zurückkehren.
Liebe, Freiheit, Jugend, Naturschönheit, Zuneigung, Sorglosigkeit – wo sollte sich das alles je wieder so vereinen können?
Nach der Heimkehr gingen sämtliche Besucher von Alörn wieder ihrer gewohnten Beschäftigung nach, nur Zacharias nicht. Er wollte in diesem Herbst einmal daheim studieren. Das Studieren an sich liebte er, und er wollte es um keinen Preis vernachlässigen, aber warum sollte er daheim auf Kuddnäs nicht ebensogut arbeiten können wie in Helsingfors?
Blieb er hier, dann konnte er nach getaner Arbeit ein Leben führen, wie er es liebte, in einer Umgebung, die seine Entwicklung am besten förderte.
Demzufolge kehrte Zacharias erst im Januar 1836 nach Helsingfors zurück, aber wenn er an das letzte Halbjahr zurückdachte, geschah es nicht ohne einen kleinen Beigeschmack des Unbehagens.
Sicherlich hatte er jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Stunden gearbeitet; aber sobald diese vorbei waren, hatte er seine Bücher auf das Regal geworfen und war zu Lithéns in die Stadt geeilt. Mitunter hatte es ihn in Verlegenheit gesetzt, Abend für Abend bei ihnen zu erscheinen, und dann war er auf der Straße auf und ab gegangen und hatte zu den Fenstern hinaufgeschaut.
So vollständig hingenommen war er von Mathilda gewesen, daß seine Mutter sich darüber ärgerte, ja tatsächlich betrübt war. Da er den ganzen Herbst zu Hause blieb, hatte sie gehofft, sich so recht mit ihm einzuleben. Aber er hatte es daheim bei ihr und seiner Schwester Sofie einfach nicht ausgehalten! Jetzt, hinterher war ihm der Gedanke, daß er ein solcher Sklave seiner Liebe gewesen und sich nicht besser hatte beherrschen können, keineswegs angenehm.
Das Schönste von dem ganzen Herbst waren jene Tage gewesen, wo Mathilda und Rosalie nach Kuddnäs hinausgekommen waren und bei ihnen übernachtet hatten. Da war jene Stimmung aus der Kinderzeit wieder zurückgekehrt. Sie hatten Zacharias' Schulbubenarbeiten durchgelesen, sich an kleine Mißgeschicke aus der Schulzeit erinnert; man fragte eifrig, ob Zacharias wohl noch immer ein wahrer Meister im Kochen von Sirupbonbons sei, und man ersuchte ihn, zu beweisen, daß er diese Kunst noch nicht verlernt habe.
Des Morgens war Zacharias sogar mit dem Auftragebrett erschienen und hatte den Mädchen den Kaffee gebracht. Und es hatte kein Mensch Anstoß daran genommen. Er zählte ja nicht mit.
Gerade dies war kein angenehmes Gefühl. Warum erlaubten ihm die Mädchen so etwas, was nie in Frage gekommen wäre, wenn es sich um Dyhr oder Backman gehandelt hätte? Konnte er ihnen denn niemals beibringen, daß er nicht mehr klein und ungefährlich war?
Und erging es ihm hier in Helsingfors nicht genau so? Auch hier wurde er wie ein Muttersöhnchen behandelt. das den Kinderschuhen noch nicht entwachsen war.
Er besann sich oft darüber, warum er wohl den Leuten so kindlich vorkam. Ach, vielleicht lag es an seinem Äußeren.
Aber wenn auch nicht breit und derb, so war er doch ebenso groß wie die meisten seiner Altersgenossen, und er stand ihnen in körperlicher Gewandtheit nicht nach. Reiten, Fischen, Jagen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen bereitete ihm genau so viel Freude wie jedem andern. Er focht, turnte, tanzte. Freilich, er mischte sich nicht gern in Händel, betrank sich selten und lebte solid. Aber das war doch eher ein Beweis von geistiger Reife als von Kindlichkeit.
Trotzdem mußte er eines zugeben: er hatte etwas an sich, das ihn weltfremd machte, und das war es vielleicht, was die andern als Kindlichkeit auffaßten. Er versetzte sich im Geiste gern in eine andere Welt als die, die ihn gerade umgab. In der blauen Luft der Romantik und von ambraduftenden Wolken umhüllt, wollte er leben.
Jetzt fühlte er plötzlich, daß er in dieser Beziehung zu weit gegangen war. Er hatte eine köstliche Zeit erlebt, aber jetzt mußte sie ein Ende haben, jetzt hungerte seine Seele wieder nach Wirklichkeit, nach Prosa und Arbeit, nach Verkehr mit Kameraden. Und eines verlangte sie vor allem: als ein gereifter Mann sollte er auftreten.
Nun ging er dem Kartenspiel nicht mehr absichtlich aus dem Wege, sondern beteiligte sich daran, wenn sich Gelegenheit dazu bot; aber er spielte besonnen, ohne Leidenschaft. Ebenso verhielt er sich den Trinkgelagen der Kameraden gegenüber. Er tat mit, hielt aber Maß.
Als er im Frühjahr wieder heimkam, liebte er Mathilda noch ebenso wie bisher, das wußte er ganz gewiß, aber die neue Richtung in seiner Entwicklung machte sich doch bemerkbar. Die beiden Lithénschen Töchter fanden ihn kühl und sonderbar. Er hatte wirklich nur die Absicht gehabt, ein wenig sicherer aufzutreten, sie aber meinten, die Veränderung bedeute, daß er jetzt für ein Mädchen in Helsingfors schwärmte.
Dabei drehte sich doch all sein Denken um Mathilda, und er fühlte sich tief gekränkt.
In diesem Sommer kam er zu keinem längeren Aufenthalt auf Alörn. Rosenkampfs weilten auf Kuddnäs, und er mußte zu Hause bleiben.
Doch eines Tages ruderte er nach der Insel hinaus und kehrte wie gewöhnlich bei Lithéns ein. Da wimmelte es von jungen Leuten, und am Abend wurde, wie so oft, »drei Mann hoch« gespielt. Aber Zacharias paßte nicht auf und ließ Mathilda von einem andern fangen. Darüber war diese sehr beleidigt und ließ es ihn auch merken.
Jetzt war es Zacharias, der Mathilda sonderbar fand. Er versäumte es, ihr in diesem Sommer an einem Namenstag die gebührende Aufmerksamkeit zu erweisen, und sie war danach höchst ungnädig. Ja, es kam sogar zu einem Auftritt, ehe sie sich wieder versöhnten.
Als er wieder daheim war, sehnte er sich wohl nach Mathilda; aber von da an war er nie mehr ganz sicher, wie es bei dem nächsten Zusammentreffen zwischen ihnen sein würde.
Dies war entsetzlich, aber dann stieg die Ahnung in ihm auf, daß Mathilda, sie, die Königin seines Sommernachtstraumes, die Freudenspenderin des dunkeln Winters, wenn sie in der kalten Beleuchtung der Wirklichkeit stand, doch nicht ganz so war, wie er sie von dem wunderbaren Licht seiner Träume umflossen gesehen hatte.
Im Wintersemester 1836 nahm sich Zacharias vor, ein kleineres Examen zu machen, das jeder ablegen mußte, der in den Genuß eines Universitätstipendiums gelangen wollte. Seine Mutter hatte wohl daheim auf Kuddnäs ihr gutes Auskommen, aber es fiel ihr immer schwer, bares Geld anzuschaffen, und sie jammerte darüber, daß Zacharias' Aufenthalt in Helsingfors schon ihr ganzes väterliches Erbe verschlungen hatte. Sie meinte, es würde nichts schaden, wenn er ihr einen Teil der Sorgen durch die Erlangung eines ordentlichen Stipendiums abnähme. Nun ja, das Examen, das dazu nötig war, glaubte Zacharias ohne größere Schwierigkeiten bestehen zu können.
Er war jetzt schon drei Jahre auf der Universität und hatte es an Fleiß und emsigem Studium wahrlich nicht fehlen lassen. Sechs, sieben, ja sogar acht Stunden verbrachte er täglich bei den Büchern; daran hielt er streng fest, und wenn er an einem Tag diese Stundenzahl nicht erreichte, wurde sie am nächsten eingeholt.
Schlag sieben Uhr stand er auf, genau wie einstmals, als er noch bei Runebergs wohnte, um neun Uhr frühstückte er, um halb zwei Uhr ging er fort, um bei Baron Rosenkampfs zu Mittag zu essen, was er, seitdem der Baron die Schwester seiner Mutter geheiratet hatte, immer durfte. Nach Tisch blieb er noch ein Weilchen dort, um mit der Tante zu plaudern, und gegen vier Uhr kehrte er zu seiner Arbeit zurück. Am Abend wurde ein Spaziergang gemacht, wenn er nicht eingeladen war. Schlag neun Uhr aß er zu Abend, und um halb elf ging er dann zu Bett.
Das war ein langer Arbeitstag; aber Zacharias brauchte auch viel Zeit, da er außer seinen Studien auch sein Tagebuch weiterführte, sich mit Charakterstudien und seinem kleinen Gedichtbüchlein beschäftigte, Romane las, zeichnete und Klavier spielte, sich im Fechten und Turnen übte, in ein Paar Gesangvereinen Mitglied und oft genug bei Rosenkampfs zu Gesellschaften eingeladen war, sowie ins Theater und zu Volksversammlungen ging.
Was die eigentlichen Studien betrifft, so hatte er sich genau wie in der Schule gleich auf die verschiedensten Fächer verlegt, obwohl er natürlich auch jetzt noch dem Lateinischen die meiste Zeit widmete.
Er schrieb für Runeberg Latein, besuchte das Seminar des außerordentlichen Professors Gyldin, hörte die Vorlesungen des glänzenden Redners, Professor Linsen, sowohl dessen Sondervorlesungen als auch die öffentlichen, und studierte außerdem auf eigene Faust den Ovid, Cicero, Seneca, einen nach dem andern. Auch an den lateinischen Wortgefechten beteiligte er sich, die in der Österbottnischen Abteilung vorgeschrieben waren, sowie an den öffentlichen in der Universität.
Ziemlich viel Zeit widmete er außerdem dem Griechischen. Auch in diesem Fach hörte er Sondervorlesungen und arbeitete sich durch die ganze Iliade hindurch. Ja, nachdem er sie unter der Anleitung des Professors durchgenommen hatte, begann er sie noch einmal auf eigene Faust zu lesen, um sich diese gewaltige Dichtung völlig anzueignen.
Neben diesen zwei Hauptfächern aber hatte er als zukünftiger Arzt unter Bonsdorffs Leitung mit großem Eifer im Laboratorium zu arbeiten angefangen, und bei Professor Sahlberg Botanik und Zoologie belegt.
Außerdem hatte er in diesen Jahren auch noch Zeit gefunden, Professor Tengström über Philosophie, Blomquist über Literaturgeschichte und Hällström über Physik zu hören, und ganz sicherlich hatte er eine Vorlesung des ausgezeichneten Historikers Professor Rein nur im seltensten Falle versäumt. Obwohl er sich sagen mußte, daß für einen künftigen Arzt größere geschichtliche Kenntnisse nicht nötig seien, konnte er nicht leugnen, daß diese Vorlesungen eine weit stärkere Anziehungskraft auf ihn ausübten, als alle andern. Ganz von Anfang an hatte er sich bestimmt vorgenommen, von Professor Rein cum laude im Examen zu bekommen.
Aber alle diese Fächer hatte Zacharias eigentlich sozusagen mehr um ihrer selbst willen studiert, als im Hinblick auf ein Examen. Die lateinische Grammatik freilich, sie entlockte ihm ab und zu ein spöttisches Lächeln, und doch, wie nützlich war ihm andererseits diese Sprache durch die Selbstzucht, der er sich dabei fortgesetzt unterwarf! Die klaren Regeln ihrer Stilistik wendete er auf die schwedische Sprache an, die Tugenden der herrischen Römer bestärkten ihn in seinem Streben, sich selbst zu überwinden, die Wortgefechte verhalfen ihm dazu, sich an ein sicheres öffentliches Auftreten zu gewöhnen, und die klassische Literatur diente ihm als glänzendes Vorbild in ästhetischer Beziehung.
Ebenso hatte er Geschichte und Naturkunde um ihrer selbst willen betrieben. Erstere gab seiner Phantasie Nahrung, letztere, von der er in der Schule nie etwas gehört hatte, eröffnete ihm neue Welten. Er warf sich auf sie mit derselben Wißbegier wie einst in Uleåborg auf das Romanlesen, als ihm dieses einen Einblick in die Schicksale und Ereignisse des menschlichen Lebens gab.
Jetzt aber handelte es sich plötzlich um etwas anderes. Er mußte nicht nur in seinen Lieblingsfächern, sondern auch im Französischen und Deutschen, in Geometrie, Arithmetik und Logik ein Examen machen, kurzum, in lauter Fächern, die er bisher nur oberflächlich studiert hatte.
Je näher das Examen heranrückte, desto unruhiger wurde Zacharias. Mit einem Male war es ihm klar geworden, daß er sich auf etwas sehr Schwieriges eingelassen hatte. Die Fächer, die er beherrschte, hatte er nicht so studiert, um mit ihnen bei einem Examen Lorbeeren zu ernten, und die, mit denen er sich nur flüchtig beschäftigt hatte, waren keineswegs so einfach, daß er das Versäumte in ein paar Wochen hätte nachholen können.
Jedoch er wollte nicht nachgeben, und so nahm er sich vor, von morgens drei Uhr bis Mitternacht zu studieren. Aber trotzdem richtete das Examenfieber in seinem armen Körper große Verheerungen an, und er fragte sich manchmal, ob er nicht krank sei.
Am Tag vor der ersten Vorprüfung gedachte er natürlich noch jede Minute auf sein Studium zu verwenden, aber gerade da meldete sich Hauptmann Thuneberg mit seiner Frau, Blanks einstige Herrschaft, zu Besuch an. Und Zacharias, der beiden für gar manche Einladung an Sonntagen zu Dank verpflichtet war, mußte selbstverständlich dem Freunde helfen, eine gute Bewirtung herbeizuschaffen und die Gäste zu unterhalten.
Erst nachdem diese am Abend abgereist waren, konnte Zacharias an sein Studium gehen und blieb bis halb ein Uhr auf. Dann warf er sich in seinen Kleidern aufs Bett und schlief bis drei Uhr, stand wieder auf, um Euklid zu lesen, bis es Zeit war, zur Vorprüfung zu gehen.
Einen solchen Tag hatte er noch nie erlebt. Von neun bis ein Uhr wurde er von einem ekligen Examinator im Französischen geprüft. Er war übernächtig, zu Tode erschöpft, fieberte und konnte sich nicht zusammennehmen, sondern fühlte, daß er unsichere Antworten gab; ach, es ging gewiß alles schief! In der Mittagspause, wo er sich hätte ausruhen sollen, las er einen Brief, der soeben von Kuddnäs gekommen war.
Zacharias' Mutter schrieb höchst besorgt wegen seines Examens. Sie habe geträumt, er sei ganz empört zu ihr gekommen und habe erzählt, die Herren Professoren hätten ihm nur einen Reichstaler als Stipendium gegeben.
Zacharias wünschte, er hätte sich nicht die Zeit genommen, den Brief zu lesen. In der gedrückten Stimmung, in der er sich ohnehin befand, hielt er die Worte der Mutter für eine Prophezeiung, daß er durchfallen werde. Als er Schlag drei Uhr zur Vorprüfung in Arithmetik und Geometrie erschien, fühlte er sich tatsächlich elend, und so fragte er, ob er nicht an einem andern Tag geprüft werden könnte. Aber der Professor schlug ihm seine Bitte ab, und er mußte bis neun Uhr abends aushalten.
Auch die übrigen Tage waren heiß genug, doch keiner so heiß wie dieser. Bei dem Geschichtsprofessor Rein ging es sogar ausgezeichnet.
Bis zum öffentlichen Examen hatte Zacharias seine Ruhe wieder erlangt, und nun ließ er sich von keinem der Examinatoren aus der Fassung bringen. Aber das Ergebnis war bescheiden genug. Er bekam eine niedere Nummer im Zeugnis und das kleinste Stipendium, das die Universität zu vergeben hatte: elf Reichstaler, fünf Schilling und vier Heller!
Es läßt sich denken, wie wenig das dem jungen Herrn behagte! In der Schule war er stets der Erste gewesen, mit fünfzehn Jahren hatte er ein gutes Abiturium gemacht und von einem Manne wie Runeberg recht gute Zeugnisse erhalten. In der Heimat war er wiederholt als Dichter für Namenstage und als Zeitungschreiber aufgetreten, und er stand in dem Rufe, hervorragend begabt zu sein. Und hier an der Universität konnte er mit knapper Not ein einfaches Stipendiatsexamen ablegen!
War er geistig zurückgegangen? Eignete er sich doch nicht zu einem studierten Berufe?
Wohl versuchte er sich damit zu trösten, daß das im Grunde genommen eine Kleinigkeit sei. Er war ja nicht durchgefallen. Worüber grämte er sich eigentlich?
Nein, er war nicht vom Examen zurückgewiesen worden, aber sein Selbstbewußtsein hatte einen kräftigen Stoß erhalten. Jetzt hieß es, den Kelch gekränkter Eigenliebe zu leeren! Das war ihm neu – er schmeckte sehr bitter.
Doch mitten in seiner großen Trostlosigkeit kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke; vielleicht hatte dies alles doch auch sein Gutes. Vielleicht bewahrte es ihn davor, das wirkliche Examen nicht zu bestehen. Wenn er sich die jetzt empfangene Lehre wirklich zu Herzen nahm, konnte sie ihn höchst segensreich aufrütteln.
In den letzten Jahren hatte sich all sein Denken um Mathilda gedreht. Um in ihrer Nähe zu sein, war er im vergangenen Herbst zu Hause geblieben. Auf diese Weise aber durfte man nicht studieren, wenn man vorwärtskommen wollte. Gab er diese Kindereien nicht auf, dann mußte er sich damit begnügen, ein Kleinstadtgenie zu werden.
Mathilda lieben! Gewiß, das durfte er, dagegen war nichts einzuwenden, aber er wollte Herr über seine Liebe sein. Sie durfte ihm kein Hemmschuh werden.
Mit diesen Gedanken reiste Zacharias heim, und das war der Grund, warum seine Weihnachtsferien anders verliefen als frühere. Gewiß, er ging an einem Sonntag um elf Uhr zu Lithéns und blieb bis neun Uhr abends dort. Er fühlte sich da so wohl wie immer. Da konnte er natürlich sein, alle Altklugheit abstreifen. Bei diesen guten Menschen wurde er selber besser und zufriedener mit sich selbst.
Aber bald begann er auch in Nykarleby ein Junggesellenleben zu führen. Am Neujahrstag spielte er sogar bis drei Uhr nachts bei Dyhr Karten. Mathilda fand das entsetzlich und machte ihm deshalb Vorwürfe. Aber er besserte sich nicht, sondern zeigte seine Selbständigkeit dadurch, daß er kurz darauf einen Junggesellenabend mitmachte, der bis sechs Uhr morgens dauerte. Danach währte es mehrere Tage, bis Mathilda sich besänftigen ließ.
Als Zacharias nach dem Sommersemester 1837 zurückkehrte, war seine Jugendliebe auf ganz merkwürdige Weise erloschen, verschwunden, einfach aus seinem Herzen weggewischt. Wohl hatte er Mathilda gern; aber eins konnte er sich nicht verhehlen, sie kam ihm jetzt etwas unbedeutend vor, sie war rückständig. Er war ihr entwachsen.
Der ganze Lustgarten von Alörn war verwelkt. Die Rosen waren verschwunden, in ihm und um ihn her war es öde und kalt. Der Sommer war da, aber er konnte nicht die kleinste Knospe zum Leben erwecken. Die Insel der Seligen, die Romantik, war im Meer versunken.