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Das Jahr auf der zweiten Stube flog dahin wie ein süßer Traum.
Im Sommer schwelgte man freiheitstrunken draußen in Montravail und berauschte sich an Homer und Horaz, oder man folgte dem hehren Beispiel des Epikuräers und Sonnenschwärmers Spurinna, dessen Dasein Plinius der Jüngere so verlockend geschildert.
Im Herbst legte man unter Bruder Lieberkühns sachlicher Leitung (er hatte als Pionier gedient) auf einer Pädagogiumswiese einen künstlichen Teich an, dessen Vollendung H. C. mit einem festlichen Teeabend feierte.
Im Winter weigerte sich dann freilich der neue Teich vorschriftmäßig zu funktionieren und gleichmäßig einzufrieren, so daß man schließlich den Eisabend doch wieder auf dem zwar fernen, dafür um so lieblicheren Waldteich feiern mußte.
Nöke und Gottfried gingen für gewöhnlich weder auf den neuen Versuchsteich noch auf den lieblichen Waldteich sondern auf den kleinen, bisher stets verachteten Ortsteich. Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten.
412 Dort erschienen bisweilen zwei niedliche Schwestern in reizenden Eiskostümen, denen die Schlittschuhe an- und abzuschnallen das höchste aller irdischen Glücksgefühle bei dem Freundespaar auslöste. Bei diesem Ritterdienst, der dankbar und errötend angenommen wurde, fand sich wohl auch Gelegenheit, eine schüchtern stockende Unterhaltung zu führen; nur von dem, was die Herzen fühlten, sprach keiner und keine von ihnen. Miteinander zu fahren wagte man vollends nicht. Und doch war man trunken vor Seligkeit, einander ungestört nahe sein zu dürfen.
Da – ein tückischer »Tauwind schnob von Mittag her, er schnob durch Welschland trüb und feucht«, und – das Glück war vorüber, es schmolz das Eis.
Die Liebe schmolz freilich nicht mit dahin, sie ward nur stärker und fester, vollends als nun gar der Frühling lachend durchs Land geschritten kam und die Welt so schön, die Augen so hell, die Herzen so warm zu zaubern verstand. Es war eine Zeit unsagbaren Hochgefühls! Nöke war trunken vor Stimmungen und ungeschriebenen Gedichten, Gottfried lechzte nach Taten; ihn drückte zum ersten Male das leidige Bewußtsein, mit siebzehn Jahren noch die Schulbank drücken zu müssen.
In den Weihnachtferien hatte er Matthes getroffen, der war schon »lediger Bruder« und verdiente Geld. Fast gönnerhaft sah er auf Gottfrieds blaue Schülermütze herab und bot ihm dann lächelnd eine Zigarre an. Gottfried ärgerte sich über den dummen Matthes, obwohl oder richtiger weil er ihm heimlich imponierte. Wenn er selbst wenigstens erst Primaner wäre, aber so ein Sekundaner – das war weder Fisch noch Fleisch. Noch ein paar Wochen gingen dahin, und er wanderte abermals die gewohnte Chaussee auf Löbau zu, aber leichteren Herzens und stolz erhobenen Hauptes!
Er war versetzt, nach Ostern zog er ein in den Olymp des Hauses, in die heilige Prima.
413 Es war in der Tat ein großer, ein stolzer Moment im Leben Gottfrieds, als Bruder Schordan ihn mit den Kolonnengenossen abholte, als sich die Tür auftat, und er eintrat in den weiten Raum, den rechtmäßig zu bewohnen das Ziel seiner dreijährigen Sehnsucht gewesen war.
Während Bruder Schordan in ciceronischem Latein eine geistvolle, horazisch angehauchte Rede an die alten und neuen Primaner hielt, sah sich Gottfried staunend in der Prima um.
An den Wänden hingen Dutzende ehrwürdiger Kolonnenbilder. Aus manchen dieser jugendlichen Gestalten waren längst bekannte, ja hervorragende Männer geworden; nur wenige hatten Schiffbruch gelitten im Leben. Hier stand Schleiermachers Büste, auch ein Girdeiner, dort leuchteten zwei große Gemälde von der Wand, beides Jugendarbeiten eines bekannten Malers, der ebenfalls hier Primaner gewesen war. Über der Tür hing sein drittes, sein schönstes Bild »Και εγω εν Αρκαδια«, das der Redner eben erwähnt hatte.
Gottfried nahm sich heimlich vor, die arkadische Freiheit des Primalebens gründlich zu genießen, aber dafür auch dieser historischen Prima wert zu werden. Auf dem Bilde der Kolonne 80 sollte man ihn dereinst mit Stolz kommenden Primagenerationen zeigen.
Entschlossen hob er den Kopf und blickte begeistert zu den imposanten Kolossalbüsten der drei großen Griechen auf, die ihm zu Häupten standen. Die drei sollten ihm Schwurzeugen sein! Homer, der blinde Seher, schien jedoch skeptisch in die Weite zu starren, auch des Sophokles regelmäßig schöne Züge schienen ernste Zweifel zu verraten, und der weise Plato, den der noch weisere Bruder Riedel für einen Dionysos erklärt hatte, lächelte gar wie verstohlen. Gottfried fochts wenig an. Er wußte jetzt, was er sich schuldig war, seit er die stolze Inge liebte.
414 Selbstbewußt bot er den neuen Kameraden die Hand zum Gruß und schloß sich dann ausgelassen dem ersten »Platzpendel«, dem offiziellen Bummel, an, bewaffnet mit einem der lächerlich abenteuerlichen, aber historischen Primaknüttel.
An der Ecke der via sacra stieß Gottfried plötzlich auf die beiden Deltas, sie erkannten ihn trotz der verwogenen Miene, trotz des gewaltigen Knittels, trotz der übermütigen Gesellschaft, in der er sich befand. Gottfried stutzte. Konnte er jetzt grüßen? Die Oberprimaner würden ihn zum besten haben oder auch die Mädchen anulken, nein, nein, nicht grüßen! Dieses Mal ging es wirklich nicht. Rasch ging er vorbei – als habe er die beiden Mädchen gar nicht bemerkt.
Walburg stieß die ältere Schwester verwundert an, doch diese schritt – wie die personifizierte Hoheit – ruhig vorüber.
Gottfried fiel sofort ein, daß bald hinter ihm ja Nöke und Zehwen kommen mußten, er sah sich um. Teufel! Die grüßten wirklich beide – nun ja, Zehwen, warum nicht? Auch wenn er Bodo längst keine Stunden mehr gab, grüßen durfte er schon; aber Nöke!
Gottfried schämte sich plötzlich wie ein Pudel; er war feig gewesen! Mit seiner Ausgelassenheit war es schnell vorbei.
Während die andern Primaner ins Pädagogium zurückkehrten, wartete er auf Nöke und bat ihn, noch einen zweiten Pendel mitzumachen.
Nöke ließ sich nicht nötigen, auch ihm war das Herz übervoll. Beim ersten Primanerbummel auf die Geliebte stoßen – konnte es ein glücklicheres Vorzeichen geben für die kommende Primanerzeit? Er war selig und stolz zugleich. Ein Primaner! Das war doch etwas – einen Primaner konnte am Ende auch eine Walburg lieben! 415 Gottfried bestätigte das mit Emphase, obwohl er sich recht bedrückt in seinem Innern fühlte.
Da – ein freudiger Schreck überkam ihn jäh, wieder an derselben Ecke sah er Inge, die von der Schule zurückkehrte, auf den Platz einbiegen – diesmal allein. Gott sei Dank! Nun konnte er sein Unrecht wenigstens wieder gut machen. Er schritt rascher, um Inge abzuschneiden, und dann grüßte er, so tief und freudig zugleich, wie er noch nie gegrüßt hatte. Plötzlich ward er totenbleich – Inge hielt schroff inne, strafte die Grüßenden mit impertinenter Nichtachtung und schritt dann trotzig hinter den beiden Primanern vorbei.
Nöke bestürmte den Freund sofort:
»Was ist denn der in die Krone gefahren, vorhin noch haben sie beide mich so reizend gegrüßt und jetzt? Die Königin von Saba könnte nicht großartiger tun! Da ist meine Kleine doch wirklich ein besseres Menschenkind, die hätte das nie fertig gekriegt. Hast du denn der großen Delta was getan? Nee, ich kann mir nicht helfen. Das war doch wirklich affig. Nicht?«
Gottfried schwieg eine Zeitlang, endlich sagte er sehr kleinlaut:
»Nöke, sie hat ganz recht, daß sie mich eben verleugnete, ich habe es vorhin auch getan. Aber weh tuts doch! Freilich – verfluchtig, schuftig, lumpenfeige war ich. Ich verdien sie gar nicht, ist mir schon recht. Himmelsakra – aber lieb hab ich sie nun erst recht! Nöke, war sie nicht wundervoll in ihrem verletzten Stolz? Wie eine Brunhild grausam-schön!«
»Na – Gott – mein Geschmack wärs ja nicht gerade – mein blondes Busselchen ist mir zehnmal lieber, doch für dich mag sie schon die Rechte sein. Es fragt sich halt nur, ob du den Gunther oder den Siegfried dazu spielen willst.«
416 »Den Siegfried natürlich!«
»Versteht sich. Wie ein geräucherter Schinken an den Deckenbalken gehangen zu werden gleich Gunthern, ist weder angenehm noch romantisch, aber beim schönsten Durst so meuchlings abgemurkst zu werden wie Siegfried, ist auch kein besonderes Vergnügen.«
»Mensch – du willst ein Dichter sein? Prosaisch bist du wie eine lateinische Grammatik. Gibt es denn etwas Schöneres in der Welt, als für ein solches Weib zu sterben?«
»Aus Liebe für Liebe, ja – aber so nur um der schönen Augen willen, noch dazu, wenn sie so grimmig dreinblicken – nee – mein Lieber –«
»Grade, grade – sich die Achtung, die Bewunderung solcher Augen erzwingen – das wäre schon ein Leben wert! Und paß auf, ich werde nicht mehr ruhen, bis ich diese Achtung wieder hab, ich muß sie haben, unbedingt!«
Unterdessen waren beide oben vor der Prima angelangt, über deren Tür in Marmor gemeißelt stand: Της αρητης ιδρωτα ϑεοι προπαροιϑεν εϑηκαν (Vor die Tugend setzten die Götter den Schweiß).
Zum ersten Male las Gottfried die Inschrift mit Verständnis, dann ballte er verstohlen die Faust, während Nöke noch immer skeptisch das lockige Haupt schüttelte.
Nach Tische war großer Bundeskaffee auf der vorderen Turmstube.
Die Turmstuben waren zwei über der großen Prima gelegene Mansarden, die durch ihre herrliche Aussicht besonders romantisch, durch ihre Niedrigkeit und Kleinheit besonders gemütlich erschienen und daher ganz eigentlich zum Schauplatz des intimen Primalebens wurden. Hier waren 417 die Tee- und Selbstleseabende, hier hielt vor allem der Studienverein allwöchentlich seine gelehrten Sitzungen ab.
Soeben teilte der Senior der Prima, eine gewichtige Person im Pädagogiumsleben, der kluge Wangerog, in seiner Begrüßungsrede mit: daß er vom Vertrauen seiner Kameraden zum Vorsitzenden des Studienvereins berufen worden sei; er wolle zusehen, daß die Pflichten dieses wichtigen Amtes neben seinen Seniorpflichten nicht zu kurz kämen.
»Zum Vorturner«, fuhr Wangerog launig fort, »bin ich niederträchtiger Weise nicht gewählt worden, sondern Brunken.«
Schallendes Gelächter folgte, denn jeder Zuhörer wußte, daß der urgelehrte Wangerog einer der schwächsten Turner des Hauses war, der nur propter barbam – so hieß die etwas ehrenrührige traditionelle Begründung – in eine der höheren Turnriegen gelangt war. Brunken dagegen galt schon seit Jahren nächst dem eben abgegangenen Landolph als der beste Turner des Hauses.
Mit gleichem Humor und fröhlicher Selbstironie erklärte Wangerog dann weiterhin: »Trotz meiner hervorragenden Leistungen im Waldteufelgeheul und Beckenschlag beim letzten Schattentheater ist mir auch der ersehnte Ehrenposten als Symphonieleiter nicht zuerkannt worden, sondern dem jämmerlichen Kolophoniumschaber Leutrodt!«
Wieder erklang fröhliches Gelächter, denn Leutrodt war der beste Geiger, nebenbei ein angehender Komponist.
Der Redner ulkte weiter: »Ja selbst die fette Pfründe des Leiters des Missionsvereins ist mir sicherlich durch eine niederträchtige Intrige entgangen, und damit ist Ehrwürden Lucken beehrt worden. Natürlich lasse ich mir das nicht gefallen, sondern werde mich als gestrenger Senior und grimmiger Präsident des Studienvereins dafür zu rächen wissen. Gnade euch Gott, ihr Ärmsten, namentlich ihr Neuen, wenn ihr mir meine viereckigen Doppelsohlen nicht 418 jede Woche wenigstens einmal demütig küßt. Mit diesen Drohungen begrüße ich die neue, gottselige Primahorde und bitte die vor mir stehende Kiste edelster Stinkadores auf das Wohl und Wehe meines drakonischen Regimentes zu verknällern. Wohlan denn, lasset alle die de- und wehmütigen Rauchopfer steigen, damit sie meiner großen Nase wohlgefallen und mein edles Denkerhaupt, das von zahllosen Studienvereinthematen schwillt, lieblich umwölken. Wir singen als erstes Bundeslied: Sind wir vereint zur guten Stunde.«
Lustig scholl der Gesang durch den niederen Raum und drang mit den Rauchwölkchen zu den offenen Fenstern hinaus in den lachenden Frühling. Und bald wußte jeder, der über den Girdeiner Platz lustwandelte: auf Prima ist man guter Dinge.
Und man war es in der Tat, und jeden Tag nahm das Wohlbehagen zu.
Ober- und Unterprima schienen sich dieses Jahr zu verstehen, und das war nicht immer der Fall. Die Schuld an einem etwaigen Mißverständnisse trugen zumeist die Oberprimaner, die leicht in den neuen Kameraden unliebsame Störenfriede oder gar Parvenüs sahen und sie dann bisweilen wie Rekruten behandelten. Die Kolonne 79 war jedoch durchaus nicht von dieser Art, schon seit der 3. Stube hatte sie sich mit der Kolonne 80 gut gestanden. Zu einem »Anschuß« war es nur zweimal gekommen, und beidemale war Minckwitz, ein Gegenstück zu Zehwen, der »anschießende« Strafrichter gewesen. Doch das war vorbei. Auch Minckwitz, der ob seiner geliebten Kalauer oft »Stinkwitz« gerufen ward, gab sich jetzt freundlich wie die andern, wenn auch seine Freundlichkeit etwas gesucht Holdseliges an sich trug.
Interessant war, daß sich Minckwitz gerade mit Zehwen anfreundete. »Schöne Seelen finden sich«, meinte Nöke mit kecker Zunge. Doch sie fanden sich auch sonst. Wangerog, 419 der große Denker, und Hoffmann, der Leiter des Selbstlesevereins und angehender Literat, schienen sich besonders zu Nöke und Gottfried hingezogen zu fühlen. Brunken und Leutrodt schlossen sich bald an Dachs und Drax an, während Bull und Rodbeck mit Ehrwürden Lucken ein frommes Triumvirat eingingen. Ganz seine eigenen Wege ging nur Thomas Wernike, der ungläubige Thomas genannt, ein etwas schweigsamer, aber liebenswürdiger Gesell, der im Rufe stand, ein großer Skeptiker zu sein, sicherlich aber ein sehr gewandter, im Studienverein mit Recht gefürchteter Dialektiker war.
Als der einzige, der ihm in dieser Beziehung gewachsen war, galt eben Wangerog. Darum hatte ihn gerade die Oberprima mit gutem Bedacht zum Vorsitzenden des Vereins gewählt. Und es war wirklich ein Vergnügen, Wangerog präsidieren zu sehen. Über jedes Thema war er gründlich orientiert, und doch suchte er nie seine persönliche Meinung zur Geltung zu bringen, sondern leitete die Debatten über die Vorträge des Referenten und Korreferenten mit der vornehmen Unparteilichkeit des Schiedsrichters, der sich selber vor allem unterrichtet hat.
Gottfried begann mehr und mehr für seinen neuen Senior zu schwärmen. Mit einem ungeahnten Eifer widmete er sich der Vorbereitung auf die Vorträge, bekam auch bald ein Referat, dann ein Korreferat. Bei dem letzteren erlebte er die glänzende Genugtuung, daß fast der ganze Verein, schließlich auch Nöke, der Referent selbst, seinen Anschauungen beipflichtete. Nur Minckwitz blieb hartnäckig. Doch das hatte wenig zu besagen, »für Stinkwitz gibt es keine Gesetze der Logik!« pflegte der ungläubige Thomas mit stoischem Gleichmut festzustellen.
In Gottfried flammte der Ehrgeiz immer mächtiger empor, je gleichgültiger ihn Inge behandelte. Wenn er mit Nöke zusammen den Deltas begegnete, so grüßte Inge 420 wohl mit gemessener Hoheit, begegnete er ihnen allein, so grüßte ihn jedoch nur die immer freundliche Walburg wieder. Und einmal, als er auf Inge allein zugehen wollte, wich sie ihm ostentativ aus.
Gottfried verzweifelte nicht, er wurde auch nicht sentimental. Er wollte sich Inges Achtung durch Leistungen wieder erobern, er wollte im nächsten Jahre Primavorturner und womöglich Leiter des Studienvereins werden. Auf diese beiden anscheinend grundverschiedenen Ziele arbeitete er nun mit aller Kraft los.
Und dann fiel ihm ein Drittes ein. Er wollte ein guter, womöglich der beste Redner des Pädagogiums werden. Er rechnete dabei ganz kaltblütig. Im nächsten actus oratorius, zu dem gewöhnlich Postmeisters (und mit ihnen dieses Mal wohl auch Inge) geladen wurden, bekam er sicherlich eine Rede zu halten. Wenn diese Rede Inge imponieren würde, müßte er damit auch ihre Achtung sich erzwingen.
Im nächsten Jahre war ferner öffentliches Turnfest, auch dabei würde Inge mit ihren Eltern unter den geladenen Honoratioren des Ortes sicherlich nicht fehlen. Da wollte er als Vorturner der Prima mit Bruder Schordan die Honneurs des Hauses machen, wollte die Geliebte selbst empfangen und ihr dann vor allen Leuten zeigen, was er konnte. Und so turnte er an den stillen Frühlings- und Sommerabenden mit Brunken, Leutrodt, Taylor und Dachs um die Wette. Es war ein heißes Ringen, denn die beiden letzteren hatten es augenscheinlich auch auf den Rang des künftigen Primavorturners abgesehen.
Öfters stieg Gottfried auf die einsame Sternwarte des Pädagogiums hinauf und bildete sich hier mit der Energie des Demosthenes zum Redner aus, bis ihn schließlich das Gespött der Kameraden zu den einsamsten Stellen des weiten Heidewaldes hinaus trieb. Dort predigte er den Steinen, 421 d. h. den erratischen Blöcken, die reichlich in der Heide verstreut lagen.
Die Redekunst war im Girdeiner Pädagogium populär wie kaum eine andere Kunst. Schon auf der vierten Stube mußten die Schüler sich im öffentlichen Reden systematisch bilden; dann kamen die Schulferien, die beiden actus und die Leseabende, endlich der Studienverein der Prima, der besonders die Schlagfertigkeit des Debattierens schulen sollte. In dieser Beziehung haperte es bei Gottfried, er war einmal kein Stegreifredner, darin waren ihm Zehwen und Nöke bei weitem über, von Wernike und Wangerog gar nicht zu reden. Aber in der wohlvorbereiteten Schulrede brachte es der ehrgeizige Kämpfer unter Bruder Schordans geschickter Anleitung bald zu einer gewissen formellen Vollendung. Und doch genügte er sich nicht. Er fühlte immer klarer die alte Wahrheit »pectus facit oratorem«, und das ließ sich nicht erlernen, geschweige denn erzwingen.
War er bis dahin ein eifriger Verehrer der Eloquenz Bruder Schordans gewesen, so änderte sich nun sein Geschmack mehr und mehr. Er wurde nicht eigentlich Hacëist, aber er bewunderte immer mehr die aus dem Innern elementar hervorquellende, natürliche Beredsamkeit Bruder H. C. Nielsens, und er begeisterte sich geradezu an den wuchtigen Prophetenpredigten Bruder Helmerdings, der übrigens zu Gottfrieds größter Freude den Religionsunterricht auf Prima erteilte.
Das religiöse Empfinden war freilich bei Gottfried im Laufe der Pädagogiumsjahre allmählich immer schwächer geworden; künstlerische, wissenschaftliche und auch sittliche Ideale hatten seine Entwicklung weit stärker beeinflußt als gerade religiöse. Und streng genommen wirkte auch jetzt mehr der alte Zauber von Bruder Helmerdings großer und ehrwürdiger Persönlichkeit auf den jungen Primaner als die Anziehungskraft der von ihm vertretenen Heilswahrheiten. 422 Gottfried fühlte sich in erster Linie noch immer als Germane, in zweiter als Grieche, und dann erst regte sich der Christ in ihm.
Auch unter den Primanern fehlte es nicht an ehrlichen, bekenntnismutigen Christen wie Brunken, Leutrodt, Taylor und Rodbeck, aber sie spielten keine führende Rolle im Primaleben, sie galten für zuverlässige Charaktere, jedoch auch für die schwächsten Schüler. Gottfried wollte es daher bisweilen scheinen, als gehöre zur Frömmigkeit eine gewisse Portion Beschränktheit, die allerdings dem stupiden Weltkinde Minckwitz erst recht eigen war. Recht klug ward Gottfried nicht über das Verhältnis von geistiger und religiöser Veranlagung, von Klugheit und Gottesfurcht, er mochte noch so viel darüber grübeln.
Vergeblich zapfte er einige Kameraden in vertrauten Gesprächen an. Nöke, der Originelle, meinte lachend:
»Wie der Kerl, so auch sein Christentum. Der alte Fritz glaubte wenig, und Dr. Martinus glaubte viel; aber Schafsköpfe waren sie doch beide nicht.«
Leutrodt erklärte: Plato und Sokrates wären sicherlich kluge Leute gewesen, aber ob sie je selig geworden seien, wäre trotz Christi Höllenfahrt zum mindesten fraglich.
Der ungläubige Thomas bewies Gottfried in langer Rede, daß die fünf Bücher Mose sicherlich nicht von Mose selber geschrieben seien, zumal im fünften doch sein eigener Tod stehe. Auch viele angebliche Psalmen Davids seien unmöglich von David selber. Was das Glauben sonst anlange, so sei das ja Privatsache. Nicht zu glauben und doch trotz aller Zweifel ein anständiger Kerl zu bleiben, sei jedenfalls auch nicht ganz einfach.
Wangerog endlich lächelte fein über Gottfrieds undiplomatische Anfrage und sagte unter weisem Schütteln seines mächtigen Hauptes: »Was wir im Augenblick für richtig halten, ist sicherlich ebenso subjektiv und unzuverlässig wie 423 das, was wir später für richtiger als dieses halten, und was vielleicht noch unrichtiger ist als das erste. Aber auf die absolute Richtigkeit kommt es gar nicht an, sondern lediglich auf die Kraft des Glaubens an eine irgendwie für richtig erkannte Tatsache.«
Gottfried machte zu dieser Pythiaweisheit ein ziemlich einfältiges Gesicht und war nach alledem so klug wie zuvor. Mit Gewalt schüttelte er alle grüblerischen Gedanken von sich und zwang sich, nur an seine großen Ziele zu denken. In der Tat arbeitete er rastlos darauf los und brachte sich so um manche liebliche Gegenwartsstunde, weil er gar zu ausschließlich auf die Zukunft sein Sinnen und Trachten richtete. So beeinträchtigte er sich selbst den Genuß des einst so heiß ersehnten olympischen Primanerglücks.
Eines Morgens rief ihn Bruder H. C. Nielsen zum Privatspaziergang, der im Pädagogium an Stelle des »Sprechens« in der Anstalt trat.
Der Direktor ging mit ihm hinaus in den herrlichen Sommermorgen. Anstatt Gottfried gute Lehren zu predigen, setzte er ihm mit Klopstockischer Begeisterung die zahllosen Schönheiten der Natur auseinander und wollte darin die Größe und Güte Gottes erkannt wissen. Diese letzte Schlußfolgerung ärgerte den jetzt überkritischen Gottfried, und er meinte fast ironisch:
»Kann eine solche Naturauffassung nicht gar leicht zum pantheistischen Gefühlsdusel führen?«
H. C. lachte ein wenig, belustigt über diese scheinbare Zurechtweisung, und erwiderte rasch: »Gewiß, mein Herr Allesbesserwisser! Wer sich eben nur an die Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten der tausendfachen Naturerscheinungen hält, der begreift die Größe der dahinter stehenden 424 Schöpferpersönlichkeit nie, aber wer erst diese voll erfaßt hat und so den umgekehrten Weg einschlägt, wird auch im taufrischen Netz des kunstfertigen Spinnleins da vor uns sich Gott offenbaren sehen.«
»Ich bitte um Verzeihung, Bruder Nielsen. Können Sie mir nicht dann auch sagen, wie man die Persönlichkeit Gottes am einfachsten erfassen und seine Offenbarung auf sich wirken lassen kann.«
»Ja, Gottfried, das Rezept kann ich dir leider nicht so eins, zwei, drei aufschreiben und mitgeben.«
»Und warum eigentlich nicht?«
»Weil Gott mit jedem Menschen seine besonderen Absichten und auch seine besonderen Wege hat. Er behandelt uns nicht nach einer Schablone und will in seinen Offenbarungen auch von uns nicht so behandelt sein.«
»Ja, wenn ich nur wüßte, wie man ihm denn wirklich nahe kommen kann; gerade wenn man ihn doch ehrlich suchen und lieben möchte. Ich habe jetzt so oft darüber nachgedacht und nachgefragt, aber kein Mensch kann mir eine befriedigende Auskunft darüber geben.«
»Glaub ich wohl, Gottfried, und es ist auch gut so. Was eben den einen Menschen zum ersehnten Ziele führt, kann für den andern oft gar keinen Wert haben. Ein jeder von uns muß sich seinen Gott und seinen Seelenfrieden selbst erkämpfen, mein lieber Junge. Und wie ich dich, Gottfried, beurteile, wird bei dir dieser Kampf recht lange dauern; nicht umsonst sollst du also deinen Namen führen. Aber verlier nur den Mut nicht, und laß dir den ernsten Willen zur Wahrheit nicht verleiden. Denn darauf kommt alles an. Sieh mal: Ich kenne die Primaner- und Studentenjahre auch recht gut. Da regen sich bei allen stark denkenden Naturen die ersten großen Zweifel, mit denen eben der Kampf um die Welt- und Gottesanschauung einzusetzen pflegt. Nur ruhig Blut! Mir und tausend 425 andern ist es ebenso gegangen, und denken wir nur an Augustinus und Luther. Ohne Kampf ist einmal keine Krone – also kämpfe, Gottfried, aber kämpfe ehrlich! Kämpfe wie Jakob mit deinem Gott und deinem Gewissen, aber lache nie über sie oder verspotte sie etwa gar leichtsinnig. Sonst bist du verloren. Kämpfe ernsthaft! Versprich mir das, Gottfried!«
Langsam reichte der Primaner seinem Direktor die Hand und schaute ihm dabei verwundert ins Angesicht. Es war ihm zum ersten Male, als habe er aus Bruder Nielsens Worten den Ton besorgter Liebe klingen hören; doch die stahlgrauen, fast harten Augen des Direktors verrieten davon nichts. Sollte er sich getäuscht haben? Etwas mühsam spann sich das Gespräch auf dem Heimweg weiter.
Plötzlich blieb der große H. C. nach seiner Gewohnheit abermals ruckweise stehen und fragte fast schroff: »Sag mal, Gottfried, wie denkst du dir eigentlich deine Zukunft? Deine Zweifel von vorhin haben ja damit nichts zu tun; doch will es mir manchmal scheinen, als hieltest du nicht allzuviel von dem Dienst in der Brüdergemeine.«
»Darüber habe ich noch nie so bestimmt nachgedacht.«
»Mag sein, aber gerade darum möchte ich dich jetzt einmal darauf aufmerksam machen. Deine Schulzeit nähert sich langsam ihrem Ende. Du mußt dich prüfen und dir darüber klar werden, was du eigentlich willst im Leben.«
»Das weiß ich schon, ich will etwas leisten.«
»Aha – wohl ein berühmter Mann werden, na ja – das wollte ich auch, als ich auf Prima war – das gibt sich dann später. Tut aber nichts, steck dir nur immer deine Ziele möglichst hoch, das Leben streicht schon allmählich ab. Also auf welchem Gebiete denkst du dir denn deine ersehnten Leistungen?«
»Am liebsten würde ich ein großer Redner wie Sie oder Bruder Helmerding werden.«
426 Bruder Nielsen lachte herzlich, dann ging er eine Zeitlang schweigend seinem Schüler voran, das Haupt gesenkt und die Hände auf dem Rücken. Seine Gedanken arbeiteten augenscheinlich.
Und wieder blieb er stehen, trat auf sein etwas verwirrtes Gegenüber zu, faßte es freundlich bei seiner Jacke und sagte:
»Du, Gottfried, – übrigens da fehlt dir ja ein Knopf, den lasse dir mal bei Schwester Gerting annähen oder nähe ihn dir selber an, das ist noch besser! Ja, was ich sagen wollte, ich freue mich ja, daß dir gefällt, was ich predige, aber ein Urteil darüber wirst du erst haben, wenn du andere und bessere Prediger gehört haben wirst. Doch das nebenbei. Auf dein Kompliment möchte ich dir fast mit einer Grobheit antworten. Nein – Spaß bei Seite – was mich ein bißchen an dir beunruhigt, Gottfried, das ist dein nackter Ehrgeiz! Du läufst geradezu auf einige Liebhabereien, die für deine Zukunft schließlich nebensächlich sind, und in manchen Hauptfächern hapert es dafür. Denke nur an die Mathematik. Das geht nicht so weiter. Das Wesen unserer Erziehung war von alters her und soll noch immer sein: eine möglichst harmonische Ausbildung aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten unserer Zöglinge. Du dagegen strebst jetzt danach, in ein paar Spezialitäten zu glänzen und womöglich Aufsehen zu erregen. Warum, weiß ich nicht recht; für sonderlich eitel hielt ich dich bisher nicht. Jedenfalls muß ich, als dein Erzieher, dir sagen: Das ist unvornehm und für den Charakter gefährlich! Du könntest dabei eine unwahre Scheinnatur werden, und das täte mir sehr leid. Was in uns steckt, soll dereinst heraus, gewiß, es soll wirken auf der Erde; nicht aber, was uns draußen lockt und blendet, soll in uns hinein, nein, das gibt stets eine unwahre, unechte Persönlichkeit. Denke nur an deinen Vater, Gottfried, und werde wie er, schlicht und innerlich.«
427 Unterdessen waren die beiden am Pädagogium angelangt und trennten sich mit sehr verschiedenen Empfindungen.
Der Direktor fühlte etwas wie Vaterliebe für seinen Zögling; dieser dagegen war ärgerlich über seinen Erzieher, der ihm so klar in die Karten geschaut hatte. Zunächst bäumte sich natürlich der alte Trotz in ihm auf, dann grollte er mit sich selbst darüber, daß er sich offenbar solche Blößen gegeben hatte, endlich erboste er sich über Inge, die den Trieb sich auszuzeichnen in ihm erweckt hatte. Er faßte den heldenhaften Entschluß, auf Ehrgeiz und Liebe nun völlig verzichten zu wollen.
Als ihm Dachs jedoch erzählte, Leutrodt habe gestern Abend den Riesenschwung mit graden Armen wirklich fertig gebracht, mußte er notgedrungen am Tage darauf schon wieder am Freiturnen teilnehmen und ruhte auch nicht eher, bis er den Riesenschwung ebenfalls mit graden Armen herausbrachte. Und als er zwei Tage später auf die Deltas stieß, und die holde Inge ihr dunkellockiges Haupt auch nur um einen Zentimeter tiefer neigte als bisher, da gestand er sich glückselig: der Gewalt seiner Liebesleidenschaft gegenüber ohnmächtig zu sein.
Verschämt beichtete er Nöke seine Schwachheit; der klatschte sich nach seiner Gewohnheit schallend auf den Schenkel und meinte schadenfroh:
»Na warte nur, mein Jungchen, das kommt noch ganz anders. Bald krümmst du dich wie ein Wurm. Notabene, H. C. hat ganz recht, du bist ein Streber, Fridolin, und in der lausigen Mathematik leisten wir alle beide nischt, aber auch nicht die Bohne. Schauderhaft. Gott bessers.«
Im Herbstaktus hielt Gottfried Kämpfer eine Rede über den tragischen Grundzug der Ilias.
428 Der Redner konnte mit dem Erfolg seiner Leistung zufrieden sein, aber er war es nicht, da ihm die eine Zuhörerin fehlte, vor der er so gern geredet hätte. Die alten Postmeisters waren allerdings gekommen, aber was nützten ihm die?
Dann kamen die Michaelisferien und brachten ein paar herrliche, sonnenwarme Herbsttage.
Zum ersten Male bat Gottfried die Eltern, in Girdein bleiben zu dürfen, und zwar aus zweierlei Gründen: erstlich wolle er Nöke, der so oft in den Ferien dableiben müsse, dieses Mal Gesellschaft leisten, zweitens habe er sich vorgenommen, die »Orestie« des Äschylus fertig zu lesen, denn dazu sei er in der Schulzeit nicht gekommen. Die Mathematik sei gar zu grausam schwer gewesen. Über einen dritten Grund, nämlich um seiner Inge recht oft und ungestört zu begegnen, schwieg er wohlweislich.
In einem freundlichen Briefe der Mutter hieß es schalkhaft: Man sei daheim über die guten Vorsätze Gottfrieds so erstaunt und erbaut, daß man gar nichts dagegen einzuwenden habe. Für den Fall jedoch, daß der gelehrte Herr filius trotzdem einmal einen Spaziergang machen sollte, lege der Vater ein paar Taler bei.
Gottfried freute sich darüber und las die ersten Ferientage oben auf der behaglichen Turmstube wirklich eifrigst im Äschylus. Nur wenn die Deltas über den Platz gewandelt kamen, dann alarmierte er Freund Nöke, und sie stürzten eilends die Treppen hinunter, um irgendwo die Wege mit dem geliebten Mädchen zu kreuzen.
Die grimmige Inge schien einigermaßen ausgesöhnt, wenigstens grüßte sie neuerdings wieder huldvoller. Vielleicht, so schmeichelte sich Gottfried, hatte Inge wenigstens durch die Eltern von seiner Rede gehört und ihm darum verziehen. Sicherheit war leider nicht zu erlangen; denn gesprochen wurde bei den Begegnungen niemals ein Wort.
429 Sobald die Lektüre der »Orestie« beendet war, machten die Freunde eine größere Freudenwanderung zu den Götzenköpfen, den einzigen namhaften Bergen in der Umgegend. Ihren Namen trugen sie nach allerlei Spuren angeblich wendischen Opferdienstes, z. B. in den Granitfelsen gehauenen Becken und Löchern. Während Nöke sorgsam und ehrfürchtig alle diese Zeichen und Reste heidnischer Vorzeit betrachtete und mit romantisch phantastischer Verzückung dem Opfertode geweihte Jungfrauen trauernd vor sich sah, erkletterte Gottfried verwegen eine Granitzinne nach der andern.
Vergeblich lockte er den Freund, ihm nachzueifern; turnerischer Ehrgeiz schlummerte jedoch nicht in Nökes gefühlvoller Poetenbrust. Er träumte wohl gern von Heldentaten – so hatte er eben noch im Geiste mit seiner germanischen Gefolgschaft eine besonders schöne Wendenjungfrau vom Tode gerettet – aber er wußte nur zu genau, daß er körperlich nichts weniger als ein Held war. Erst in den letzten Sommerferien war er zu Hause wieder einmal recht krank gewesen. Indessen je zarter seine Konstitution schien, umso lebendiger betätigte sich sein Geist. Mit Gottfried zusammen schwelgte er jetzt in der Poesie des alten Hellas. Das Leben und Verstehen genügte ihm jedoch längst nicht mehr, er wollte übersetzend nachschaffen. So hatte er schon zahlreiche Oden von Horaz und Pindar frei nachgedichtet und übersetzte nun die »Elektra« des Sophokles in freien Rhythmen. Daneben berauschte er sich an Klopstocks Oden und den ersten Gesängen seiner »Messiade«. Walburg nannte er jetzt bald Fanny, bald Meta. Und Abadonna, der gefallene und nach Erlösung schmachtende Engel, war ihm schließlich so ans Herz gewachsen, daß er über ihn einen langen, liebevollen Aufsatz ausgearbeitet und sich damit übrigens die fast uneingeschränkte Anerkennung Bruder H. C. Nielsens – eine Seltenheit bei dem strengen Richter – erworben hatte.
430 Gottfried bewunderte im stillen oftmals des Freundes spielende Leichtigkeit in der Auffassung, die unermüdliche Schaffenslust (Nöke dichtete bei alledem noch eigene Liedchen zu Dutzenden) und seinen nie versiegenden Schwabenhumor. Nöke war eigentlich niemals mit sich und auch selten mit andern unzufrieden. Innere Kämpfe schien er gar nicht zu kennen, auch die Zukunft schien ihm keine Sorgen zu machen, und doch leistete er sicherlich mehr als Gottfried, mehr als die meisten der Kameraden. Er zeichnete sich nicht irgendwie auffallend aus, galt jedoch auf der Stube, im Hause, bei der Lehrerschaft und Bruder Nielsen als der weitaus beliebteste Primaner.
Gottfried war auf den geliebten Freund keineswegs neidisch, eher noch stolz, aber gerade in diesen letzten Wochen und Monden, in denen er ernstlich versucht hatte, sich nach Bruder Nielsens Rat zu ändern, hatte er sich oftmals heimlich gefragt: wie macht Nöke das alles so leicht, was ich mit aller Mühe nicht erzwingen kann. Ob Nöke vielleicht ein geborner Lebenskünstler war wie Goethe, er dagegen ein mühsamer Lebensringer wie Schiller? So hatte es ihm bisweilen scheinen wollen, wenn er den tiefgründigen Literaturvorträgen H. C.'s über die Weimaraner nachdenklich gefolgt war.
Auch hier oben auf den Götzenköpfen zeigte sich das gewohnte Bild wieder. Er hatte sich höchst unnötigerweise mit den steilen Granitfelsen mühsam abgequält, nun schlug er sich mit trübseligen Gedanken herum; während Nöke erst die historischen und nun die landschaftlichen Reize der Landschaft behaglich auskostete.
Da drüben saß er auf einer leicht ersteigbaren Felsenkuppe und genoß, versunken in träumerische Beschaulichkeit, die ärmlichen Schönheiten der schlichten Heidegegend, über die der freundliche Strahl der sinkenden Sonne verklärend seinen goldigen Zauber ausgoß. Und siehe, da zog der 431 bukolisch gestimmte Nöke sein Notizbuch heraus und schrieb wohl wieder ein Liedchen nieder, um sich den fliehenden Reiz der erhebenden Stunde in das Reich fester Erinnerung zu retten. Glücklicher!
Und warum war er wohl so mühelos glücklich? Ja warum? Gottfrieds Gedanken verwirrten sich, ohne dem Zusammenhang ergründend nahe zu kommen. Das eine nur blieb ihm klar: er gönnte Nöke sein sonniges Glück aus tiefstem Herzen, und er liebte ihn darum nur um so inniger. Ein leiser Abglanz von des Freundes harmonischer Art fiel ja auch auf ihn zurück. Und schon dafür wollte er dankbar sein.
Schweigend schritten die Wanderer zu Tal, stundenlang durch einen ernsten Fichtenwald, durch dessen rote Stämme die letzten Lichter der müden Sonne neckisch blinzelten. Dann begannen die weißen Lämmerwölkchen des Himmels ihr abendliches Farbenspiel, vom mosigen Waldboden kam es kühler und feuchter herauf, die Silhouetten der Nadelbäume rissen sich immer schärfer und schwärzer vom leuchtenden Äther ab, die Dämmerung wallte leise und feuchtkalt vom Tale herauf.
Als die Freunde aus dem Walde traten, lagen in schier endlosen, schimmernden Flächen die Gellersdorfer Teiche vor ihnen.
Mond und Abendstern waren schon aufgezogen, doch bleich und schüchtern hob sich ihr Licht kaum von dem duftigen Firmament ab; hie und da zündete auch schon ein eifriges Fixsternchen sein Nachtlämpchen an. Eine eherne Ruhe lag über den Wassern, ein paar vorsichtige Haubentaucher ruderten lautlos ins hohe Schilf, während die Wanderer leisen Fußes über den hohen Querdamm zwischen beiden Teichen dahinschritten.
Nöke brach endlich das Schweigen.
»Weißt du«, fing er fröhlich schmunzelnd an, »als 432 wir noch mit dem seligen Choas vor drei Jahren dort drüben am Ufer standen und so übermütig waren trotz des märchenhaften Mondscheins? Da ergrimmte der Brave über unsern Stimmungsmangel und rief uns zürnend zu: Warum schwärmt ihr denn nicht – schwärmt doch! Gott, es war so unendlich komisch!«
»Er hat es vielleicht ehrlich gemeint, Nöke.«
»Sicherlich! Und unvergessen soll er mir bleiben, der böhmische Taps.«
»Er ist tot, Nöke.«
»Gewiß, warum siehst du mich so vorwurfsvoll an? Klopstocks, des Göttlichen, ›frühe Gräber‹ passen nicht auf ihn, zu den ›Edleren‹ zählte er nicht, und wir sind jetzt sicherlich glücklicher als damals, als wir noch mit ihm ›sich röten sahen den Tag, schimmern die Nacht‹, und so grüß ich ›den silbernen Mond, den Gedankenfreund,‹ ohne Wehmut.«
»Sind wir wirklich glücklicher, Nöke?«
»Natürlich sind wirs, denn dazumal waren wir unfreier, rüder, und dann – wir liebten noch nicht!«
»Mir schuf die Liebe mehr Qual als Seligkeit –«
»Schafskopp, das sagt man wohl mal in Gedichten, da klingt das ganz famos, aber tatsächlich ists Mumpitz. Freust du dich nicht auch jeden Tag, wenn du Delta siehst, gerade wie sie selbst, auch wenn sie möglichst wenig davon verrät, vielleicht weil sie weiß, daß der Stolz ihr gut zu Gesichte steht.«
»Ich wünschte, Nöke, ich könnte auch alles so leicht und heiter nehmen wie du. Wie machst du das eigentlich?«
Nöke lachte hell auf, und lustig klangs durch den stillen Abend, dann sagte er rasch:
»Wie ich das mache – Gottfried? Du Narr, grüble doch gleich darüber nach, warum die Lerche tirili singt und nicht rab rab krächzt, warum die Schmetterlinge fliegen und 433 Blütenstaub kosten und der Regenwurm kriecht und Erde frißt? Du denkst zu viel, mein Alterle, und denken macht traurig und unfruchtbar. Schaffen dagegen macht fröhlich, darum schaffe! Was man schafft – das ist schließlich ganz schnuppe – nur schaffen, glaub mirs – das macht glücklich und lebensfroh.«
»Schaffen? Ja, das ist ganz schön gesagt; aber ich kann eben nicht dichten wie du.«
»Na, vielleicht sind deine Verse in der Tat noch schlechter als meine, aber das ist ziemlich piepe hierbei; man schafft doch nicht bloß in Versen – Gott sei Dank, nein, alles was man tut, kann man als fröhlich Schaffender tun, aber die meisten ziehn eben vor, statt dessen zu schuften, zu ochsen, zu büffeln – na ja – dann macht die Sache keinen Spaß. Ich tu halt gern, was ich schließlich auch ungern tun müßte, und da schmeckts besser. Das ist die ganze Hexerei. Und schmeckt mal was gar nicht, wie die verruchte Mathematik oder der lateinische Aufsatz, den der Herrgott und der deutsche Schulmeister zusammen im Zorn erfunden haben, na da denk ich an das – was nachher kommt und freu mich darauf, und dann gehts vorüber – noch einmal so fix!«
»Und das Pflichtgefühl?«
»Danke, das brauche ich nicht, es gibt auch Gäule, die ohne Sporen und Peitsche laufen, wenigstens so lang sie jung sind, und ich glaube: ich bin so einer – aber nur aus Klugheit, verstehst du, nicht aus Bravheit – i Gott bewahre!«
Gottfried schüttelte den Kopf, er kannte den Freund zu lange und wußte, daß er sich gern schlechter gab, als er war.
Ungern rissen sich die Freunde los von der lieblichen Seelandschaft und wanderten bei Mondenschein durch den schweigenden Unkendorfer Park dem geliebten Girdein zu. Gesprochen wurde nicht mehr viel zwischen ihnen.
434 Nöke gab sich völlig dem Rausch der zauberischen Mondnacht hin und zitierte nur dann und wann wie verzückt ein paar Zeilen Klopstocks, und Gottfried dachte langsam über des Freundes glückliche Weltanschauung nach. Dann drängte es ihn doch, noch einige Fragen an Nöke zu richten, und er begann:
,.Willst du auch wie die andern nach dem Abitur in Gotteshaag Theologie studieren?«
»Warum nicht, ich freue mich auf Gotteshaag, wie ich mich auf Girdein gefreut habe.«
»Na, und der Gemeindienst? Was meinst denn du dazu?«
»Leben ist Leben, was man erlebt, ist oft sehr wurscht. Es kommt mehr darauf an, wie mans erlebt. Lieber wäre ich schon Landpastor wie mein Alter, aber so schnell wird man das auch nicht, weder in noch außer der Gemeine.«
»Ja, ja – aber das Pastorwerden ist nur leider ne Glaubenssache, und wenn man da nicht mitkann nach seiner Überzeugung, dann sitzt man da. Glaubst du denn? Ich meine: kannst du so richtig feste glauben?«
»Warum denn nur nicht, Gottfried? Du glaubst ja auch, nur möchtest du dir manchmal einreden, du zweifeltest, weil du siehst, daß Thomas so interessant zweifelt und Wangerog so fein über das Wesen Gottes philosophiert.«
»Nein, das nicht – aber sage: Betest du?«
»Wenn ich muß, ja, sonst nicht. Ich halte Gott für so groß, für so viel beschäftigt, daß ich, der dem ›Tropfen am Eimer‹ gleicht, nicht glaube, ihn oft belästigen zu dürfen. Schließlich macht das jeder nach seinem Gutdünken; denn zum Glück ist jeder nur für sich verantwortlich. Die Hauptsache bleibt meiner Meinung nach für uns, als Geschöpfe, unsern Schöpfer zu loben, das heißt, das richtig und tüchtig zu brauchen, was er uns gegeben hat.«
»Nöke, dann müßtest du eigentlich Dichter werden.«
435 »Bin ich ja schon – ich dichte für dreie. Willst du noch mehr?«
»Na, du verstehst mich schon, einen großen Dichter von Ruf meine ich.«
»Wer groß werden will, fängt klein an, und der Dichterberuf, der ist doch nur innen zu spüren. Was man äußerlich im Leben vorstellt, ist dabei Nebensache. In einer armen Schwarzwaldpfarre sitzen, am Sonntag den Bauern, in der Woche den Musen dienen – ich glaube, da hätte der liebe Gott auch seine Freude dran, schlecht fahren würde er dabei nicht.«
Gottfried lachte.
Nöke fuhr mit komischer Entrüstung los: »Da lachst du nun wieder über meine Antwort. Frag lieber nicht so dumm! Überhaupt du – du denkst wohl – ich merke nicht, daß du eigentlich dich selber mit all den Fragen quälst, die du mir eben wie Knüppel zwischen die Beine geworfen hast. Gelt, es stimmt?«
»Da hast du recht – leider ja. Seit H. C. mit mir gesprochen hat, ist mir so Verschiedenes aufgegangen oder richtiger gesagt nicht aufgegangen – nein, es tanzt plötzlich alles in meinem Innern. Ich weiß nicht mehr, was ich kann, nicht mehr, was ich will. H. C. meint, ich soll allerlei aus mir raus holen – ja zum Teufel, wenn aber nischt drinne steckt! Früher hab ich immer gedacht: Primaner sein – etwas Herrlicheres gibts nicht. Und jetzt? Wenn ich nicht die Schulaufgaben und die Privatlektüre hätte, ich glaube, ich wüßte überhaupt nicht mehr, was ich auf der Erde sollte?«
»Παντα ρειAlles ist im Fluß., sagte der weise Heraklit und lachte. Gottfried, du mußt nicht auf jeden Leim kriechen, den man dir hinschmiert. H. C. ist nämlich ganz schlau. Nebenbei ein 436 bischen Streber warst du wirklich, und das hat ihn, den harmonischen Griechen, geärgert. Schwupp! Da setzt er dir diesen Floh ins Ohr, und nun tust du ihm gleich den Gefallen und verlierst möglichst schnell die Seelenbalance und machst noch die schöne Primazeit schlecht. Wozu denn? Gerade du hast das doch gar nicht nötig. Du bist ein ganz famoser Knopp, ich wünschte oft, ich krumme Nudel wäre so ein forscher Kerl, so ein Simson wie du! Donnerstag und Freitag! Da sollte die Walburg aber gucken! Na – aber so bin ich schließlich auch zufrieden, sie guckt ja, Gott sei Dank, auch so noch manchmal, freilich mehr freundlich als bewundernd. Jedenfalls, Alterle, bange machen gilt nicht. Es gibt für uns alle gewisse Stunden, in denen uns die Haut eines andern weit besser gefällt als die eigne, aber rausfahren kann man darum doch nicht. Glaubst du, ich hätte nicht auch meine trüben Stunden? Ihr merkts nur nicht, da lese ich Klopstocks mächtige Ode über die Melancholei – weißt du, die ›An Ebert‹, die H. C. so wundervoll las – das hilft – dann lassen ›die finsteren Gedanken wirklich ab in die Seele zu donnern‹, und ich ringe mich durch zur Siegeshoffnung der ›Frühlingsfeier‹ da heißt es so köstlich: Du wirst die Zweifel alle mir enthüllen, o du, der mich durch das dunkle Tal des Todes führen wird – Schließlich kommt Jehova im stillen Säuseln.«
»Nöke, ich kenne dich nicht wieder.«
»Ja, mein Alterle, davon rede ich auch nicht gern – aber vielleicht tröstet es dich heute. Und nun noch eins, ganz im Vertrauen: Bei uns hier, – ich glaube, in der Brüdergemeine überhaupt, – hält man sehr darauf, daß ein guter Christ stets ein bischen madiges Gewissen haben muß, damit ihm ja nicht zu wohl wird. Mein lieber Alter meinte einmal zu mir: Klaus, vor Gott sind wir allzumal Sünder, aber mein Junge, vor den Menschen halte auf honetten Respekt, vor allem wahre dir deine Selbstachtung, 437 die ist manchmal der einzige Zopf, an dem man sich nach des alten Münchhausen Rezept selbst aus dem Sumpfe ziehen kann. Also meine ich: Zähne aufeinander und niemand nischt merken lassen, wenn man im Innern mal Räumetag hat«.
»Ist auch wahr, hast recht, Nöke. Ich danke dir. Bei mir ists freilich schlimmer, das ist nicht mehr Räumetag, das ist schon Scheuerwoche.«
»Tut nichts, immer räume und scheure drauf los – nachher ists dafür um so reiner. Und nun singen wir eins! Die Mondnacht ist gar zu fein – ganz Eichendorffisch – los! Es schienen so golden die Sterne!«
Mit seinem weichen, melodischen Organ stimmte Nöke an, und kräftig fiel Gottfried ein.
Feierlich schallte der Gesang durch den schweigenden Kiefernwald zu beiden Seiten der Straße. Taktmäßig klang der rüstige Gleichschritt der wandernden Sänger dazwischen.
Das Weihnachtfest rückte heran und mit ihm das übliche Schelmengericht des Jahres, das die hohe Prima im sogenannten Schattentheater über die Stuben, vor allem auch über die Lehrerschaft abzuhalten pflegte; ja selbst die geheiligten Personen des Direktors und seiner Gattin wurden von den Witzen und Spitzen der Primazensur nicht völlig verschont.
Seit Wochen herrschte auf dem Olymp der Prima ein geschäftiges Treiben, insonderheit bei den Unterprimanern, da die Oberprimaner schon fleißig für das in drei Monaten bevorstehende Abiturium zu tun hatten.
Nöke war aufgeräumter denn je und natürlich ganz bei seinem Fach – er redete und antwortete oft minutenlang nur in Knittelversen, Jamben oder Hexametern.
Auch Gottfried hatte allgemach den alten Kämpfertrotz 438 und damit den Lebensmut wiedergefunden, namentlich seit jenem unvergeßlichen Abend, da er die stolze Inge persönlich im Pädagogium hatte willkommen heißen dürfen.
Bei einem der üblichen Hauskonzerte, zu denen die Honoratioren des Ortes eingeladen zu werden pflegten, war ihm dieses unverhoffte Glück zuteil geworden. Als einer der wenigen unmusikalischen Primaner hatte Gottfried die Empfanghonneurs für Leutrodt, den Leiter des Symphonievereins, machen dürfen, und plötzlich stand Inge mit ihren Eltern leibhaftig vor ihm. Gottfried war so überrascht, daß er kein Sterbenswort herausbringen und nur mit drei tiefen Verlegenheitsverbeugungen die Erregung seines Innern andeuten konnte. Nachher ärgerte er sich natürlich darüber, und zu spät fielen ihm die schönsten Worte ein, die er alle hätte sagen können. – Nun war es vorbei. – Doch vielleicht ein ander Mal. Er würde von heute an stets die Empfanghonneurs machen.
Im Gegensatz zu den halböffentlichen Symphoniekonzerten war das Schattentheater eine ganz intime Hausfestlichkeit, schon wegen der zahlreichen Spitzen, die dabei ausgeteilt wurden. Auch sie brauchten Vorbereitung und Studium.
Seit Wochen, ja Monaten sammelte man auf Prima Material dafür, ließ sich gern von den andern Stuben durch etwaige Brüder, Vettern, Bekannten allerlei berichten. Man mußte z. B. wissen: wer auf Stube 2 verliebt war oder grobe Anschüsse hielt, wer auf 3 stutzerte oder zu kurze Hosen trug, wer auf 4 beim Baden für wasserscheu galt oder die Krankenstube gar zu schnell aufsuchte. Vor allem kam es aber darauf an, einige Schwächen und Menschlichkeiten der Lehrer festzunageln, neue lächerliche Lieblingsausdrücke und Gewohnheiten zu erforschen und zu verwerten. Harmloses und doch Lustiges kam dabei zur Genüge ans Licht. Bruder Reicher, der Ornithologe, nannte neuerdings die Schlafmützen seiner Klasse nicht mehr Ohr- und 439 Schleiereulen sondern Nachtschwalben. Bruder Lieberkühn sprach von Kaffern und Oberkaffern; der sonst stets geschniegelte Bruder Leßmann war einmal ohne Schlips in die Schule gekommen; Bruder Riedel gab neuerdings Spitznamen nach homerischen Helden und hieß infolgedessen selber Hekuba. Bruder Schordan mußte aufgemutzt werden, daß er, der so unendlich oft den Schlafsaal auf Langschläfer revidierte, kürzlich selbst einmal den Morgensegen verschlafen hatte. Bruder Nielsen verwechselte mit Vorliebe die Namen seiner eigenen Kinder, kam wohl auch mit dem Goethe bewaffnet in die griechische Stunde, mit dem Demosthenes dagegen in die deutsche Literaturgeschichte. Kurz, die Primazensoren ruhten nicht eher, bis ein jeder bekam, was er verdiente; selbst die Dienstboten des Hauses, die besonders neugierig dem Schattentheater beiwohnten, gingen nicht leer aus.
Dann wurde in feierlicher Turmstubenberatung aus dem traditionellen Repertoire ein wohlbewährtes Stück gewählt (für dieses Jahr der »Erasmus Montanus« von Holberg), die Rollen und der Spitzenvorrat verteilt. Wer an Spitzen zu wenig hatte, suchte sich eifrigst neue hinzu. Stück und Rollen wurden möglichst sensationell bearbeitet, und der satirischen Laune und Komödienfreiheit dabei keine engen Schranken gesetzt.
Zur literarischen Vorarbeit kam die musikalische, und Leutrodt und Dachs mußten zeigen, daß sie in komischer Musik nicht minderes leisteten als in der ernsten. Hilfskräfte wurden herangezogen, wie vor einem Jahre bei Aufführung der lustigen Kindersymphonie, bei welcher der große Wangerog ein wirkungsvolles, wenn freilich in der Partitur unauffindbares Waldteufelsolo gegeben hatte. Diesmal übernahm der taktfeste Taylor den unheimlichen Waldteufel; Zehwen schlug die gewaltigen Becken, Nöke das zierliche Triangel mit viel Gefühl und auch ein wenig Phantasie, Gottfried endlich drehte die Knarre und schlug die 440 Trommel; Drax, der Zeichner, entwarf noch ein geniales Plakat, Ehren-Lucken dichtete ein paar Knittelverse hinzu, und am letzten Schultage während des üblichen Schlußexamens ward das Kunstwerk im Treppenhause angeschlagen. Staunend umstanden es bald Neugierige zu Haufen, auch einige Freibeuter aus der Anstalt wagten sich unter der Vorspiegelung eines Vetternbesuches herüber.
Nachmittags hielten die Primaner mit Bruder Schordan nach alter Sitte ihren großen Gänseschmaus ab. Gottfried erinnerte sich, noch als Vierter gehört zu haben, daß dabei der Wein angeblich in Strömen fließen sollte. Jetzt mußte er lachen, als er sich mit Nöke zusammen ein solides Moselblümchen zu 1,20 M. leistete. Andere tranken wohl mehr, aber Trunkenheit war im Interesse des folgenden Schattentheaters schlechthin verpönt. Freilich lustig und laut ging es zu, und nach dem großen Göttermahle fand die animierte Stimmung in einem phantastischen Platzpendel ihren gebührenden Ausdruck. Man wußte das in Girdein, und jede ledige Schwester tat gut, den pendelnden Primanern an diesem Tage flüchtend auszuweichen, denn auch die Polizei schlief heute fester als sonst.
Auf den lustigen Mummenschanz folgte nun stramme Arbeit, nämlich die große musikalische und dramatische Generalprobe, die manchen neugierigen Horcher auf Treppe und Gang schon mit allerlei süßen Ahnungen erfüllte. Natürlich klappte nichts, und Leutrodt bekam wie gewöhnlich einen roten Kopf, doch er tröstete sich. Um so besser ging es dann zumeist bei der Vorstellung.
Nach dem Abendessen schlägt endlich die große Stunde. Schul- und Schlafsaalglocken läuten Sturm, dazwischen bimmelt Harlekin Wangerog mit dem Präsidentenglöcklein des Studienvereins.
Der Weg zur Prima ist nicht ohne Abenteuer. In greulichen Untierverkleidungen lagern Hoffmann, Minckwitz, 441 Wernike und Rodbeck drohend unten an der Treppe, wetzen die Tatzen und grunzen, fauchen und heulen in gräßlichen Tönen den Theaterbesuchern entgegen. Brunken und Lucken, als Bär und Elefant vermummt, brummen weiter oben, wild und unheimlich. Taylor, als Esel, schlägt dröhnend die Becken, Zehwen, als Teufel, die große Pauke des Symphonievereins, Gottfried und Nöke liegen zischend wie Schlangen am Boden, greifen und kneifen besonders zagende Erstlingsbesucher von der 4. Stube in die Beine. Dachs und Drax blasen in wilder Dissonanz auf den geborgten Posaunen des Ortsbläserkorps wie die Engel des jüngsten Gerichts, und selbst der musikalische Leutrodt stößt in edler Selbstverleugnung entsetzliche Jammertöne aus einem verbeulten, längst pensionierten Bombardon.
Sobald ein Lehrer die Stufen heraufkommt, wird der Lärm geradezu infernalisch, und die Dienstboten des Hauses werden sogar zweimal die Treppe wieder hinuntergeblasen. Erst beim dritten Anlauf schlagen sie sich zur Prima durch. Voran das gewandte Gummimännchen; zum Schluß der Nickelfritze, der trotz aller Anfechtung seelenruhig weiter nickt und dazu »nee, nee« sagt. Da nahen als letzte Gäste die beiden Direktoren mit ihren Frauen – und der Höllenlärm verstummt plötzlich.
Die Scheusale neigen sich liebevoll, die Musikanten schluchzen und winseln von Ehrfurcht, und lächelnd weist Harlekin Wangerog mit abgezogener Maske grüßend den Weg zur Primatür.
Zischelnd und flüsternd setzt und stellt sich drin das Auditorium im Halbdunkel auf Stühlen und Tischen zurecht, während es hinter dem Vorhang in der Primakammer gewaltig und verheißungsvoll rumort.
Leutrodts ordnende Stimme wird leicht erkannt und mit Zuruf begrüßt. Ein Lachen antwortet, dann wird es still, und die alte, allen bekannte Biedermeier-Ouverture, das 442 geniale Werk eines ehemaligen Primaners, setzt ein – erst gesucht melancholisch und umständlich – dann plötzlich frech und ausgelassen toll. Beim Schlußgalopp dudelt fast das halbe Auditorium übermütig mit. Die Stimmung ist da, als ein gebieterischer Paukenschlag der Musik plötzlich ein jähes Ende bereitet, und der Vorhang sich teilt.
Aus dem dunklen Rahmen der Kammertür blendet plötzlich die lichte Fläche eines straff gespannten Pergamentes entgegen, auf dessen unterem Rande die gebeugte Jammergestalt eines Kontrabassisten mühsam heranhumpelt. Er steht! Sein Bogen bewegt sich taktmäßig – genau wie drinnen die Baßgeige streicht, stakkatiert oder tremoliert zu der ebenfalls wohlbekannten Melodie des Prologs, in dem nun Brunkens Heldentenor laut Nökes lustiger Verschronik die Ereignisse des vergangenen Jahres besingt. Mit schallendem Gelächter und Beifall wird Pointe auf Pointe begrüßt, allen voran klatscht H. C., namentlich wenn er selbst eins ausgewischt erhält.
Nach dem Prolog erscheint an Stelle des Baßgeigers der durchlöcherte Geist des dänischen Freiherrn von Holberg, um im abrupten Stile Bruder Riedels eine kurze philosophisch-historische Einleitung zu seinem »Erasmus Montanus« zu geben. Man glaubt ihm lachend, daß das alte Stück ebenso geflickt werden mußte wie sein löcheriger Geist. Mit der Bitte, ihn milder und ausführlicher zu beurteilen, als H. C. die Aufsätze der Primaner beurteilt, verschwindet Holberg unter donnernder Akklamation, um den Personen seines Stückes Platz zu machen.
Köstliche Schattenrisse, z. T. von uralter Primaherkunft, tauchen da am Pergament auf. Mit kurzen Kraftworten, sehr oft aus Lehrermund entlehnt, stellt jede Person sich vor, und schnell flüstern die findigen Zuhörer sich Hypothesen zu: welchem Primaner die verstellten Stimmen wohl angehören mögen. Wernike gibt den übergelehrten Montanus, 443 Wangerog seinen Vater Jeppe, Zehwen den Küster Peter, Nöke fistelt die Braut Lisbeth, die eine Nichte der Pädagogiumsköchin sein will, Gottfried mimt in hartem Schlesisch den bauernschlauen Jakob usw. Die letzte Person, den Korporal, gibt ebenfalls Zehwen; er führt sich mit dem Wort ein, mit dem Bruder Leßmann oft genug seine Algebrastunden beginnt: »Nämlich wir setzen x gleich Niels, Niels aber gleich Korporal. Ergo heißt die unbekannte Größe: Korporal Niels. Der Sohn nämlich würde ja Nielsen heißen, aber als Korporal habe ich keinen. Verstanden! Himmelschockschwerbrett! – Ich habe wirklich keinen! Rührt euch!«
Tobender Beifall folgt diesen Worten, auch H. C. ruft wieder laut Bravo, bis die Zwischenaktmusik mit der Variation eines fröhlichen Gassenhauers einsetzt. Dann beginnt das Stück.
Die Fabel ist freilich Nebensache, die Hauptsache sind eben hier Darstellung, die oft an recht bekannte Hausvorbilder erinnert, und die Spitzen, über die vom Publikum fast immer prompt durch jubelnden Beifall quittiert wird. Auch die Musik steigert die ausgelassene Stimmung mit jedem Zwischenakt, der Boccacciomarsch wird einmal von der ganzen Prima gepfiffen. Nach dem vierten Akt kommt schließlich auch die alte, berühmte und beliebte Variation von »Ach du lieber Augustin«, die von Dur allmählich in Moll, vom Galopp langsam ins Adagio übergeht.
Und dann geht das frohe Spiel zu Ende. Der hochmütige Montanus gibt aus Angst vor dem eisernen Ladestock klein bei; er verzichtet auf die kopernikanische Weltweisheit und erhält dafür seine Lisbeth. Schwiegervater Jeronimus-Lucken, der im weinerlichen Tonfall eines Girdeiner Bierstuben-Wirts redet, schließt mit den Worten:
»Itze kimmt, mer wulln uns wieder vertroan wie de Dritten mit den Vierten nach'm grußen Anschuß von Rittnern. 444 Und gesuffen muß ok dadruf wärn – das wees Nitzsche (ein Zweiter) vom letzten Brüderfest – nu allemal – s' is ok ne anderscher! Aber ok ne gar zu viel – wie Nitzschen etwa – nun nee – suste verschlafen mersch wie Bruder Schordan seinen Murgensägen – nu nee – ja nich – kimt ok – adjüs!«
Unter tobendem Applaus fällt der Vorhang zum letzten Mal. Die alte Prima hallt dröhnend wieder vom Jubelsturme der Hörer, die griechischen Weisen auf ihren Konsolen scheinen in der Dämmerung zu schwanken, auch sie haben wohl mit gefeiert, denn Sophokles trägt noch einen zerdrücklichen Zylinder auf dem wohl frisierten Haupte und Homer eine Zipfelmütze.
Zum Kehraus spielt die Kapelle Leutrodt »Muß i denn«, die Honoratioren vorn an der Bühne erheben sich und gehen.
Dann verläuft sich auch der übrige Schwarm. Nur die Zweiten räumen nach alter Sitte unter des Seniors Führung die Prima auf – tragen die Stühle und Bänke zur Aula zurück, während die Schauspieler in der engen Kammer Ordnung schaffen, vor allem die kostbaren, alten Pappfiguren wieder im Theaterarchiv bergen. Auch der Prolog wird sorgsam ad acta gelegt zur Freude und Stärkung kommender Geschlechter.
Und dann wird geschwatzt, endlos geschwatzt – über die Wirkung der Spitzen, das Benehmen der Getroffenen, über die Musik – bis tief in die Nacht. – Endlich diskutiert man sich ins Bett, denn – richtig, morgen früh gehts in die Ferien.
Gottfried und Nöke fahren diesmal zusammen nach Bertelsburg – Nöke zum ersten Male als Gast des Kämpferschen Hauses, welch eine Weihnachtsfreude für Gottfried! Und er dankt sie der Mutter und will sie ihr nie vergessen.
445 Allzuschnell flogen die schönen Ferientage dahin. Mit Stolz und Freude spielte Gottfried den Gastgeber, und Nöke dankte ihm und dem ganzen Hause mit sprudelnder Laune.
Sein liebenswürdiges, offenes Wesen eroberte ihm rasch die sonst schwer zugänglichen Herzen der Kämpferschen Familie. Jettchen fand ihn sehr nett und aufmerksam, Agnes schwärmte geradezu für ihn, und er huldigte ihnen beiden dafür so unbefangen und ehrlich, als gäbe es keine Walburg und kein Girdein.
Lachend neckte ihn Gottfried mit seiner Untreue, doch Nöke erwiderte schlagfertig: Wenn der Mond nicht scheine, schaue man mit Recht nach den Sternen.
Und doch erschraken Nöke und auch Gottfried nicht wenig, als eines schönen Abends die beiden Deltas leibhaftig im Schloßsälchen zur Liturgie erschienen. Sie waren ganz unerwartet erst zu Tante Klothilde und nun auch zu ihrem Onkel Groote auf Besuch gekommen und blieben ein paar Tage.
Die Freunde gerieten in die höchste Aufregung über ein so glückliches Zusammentreffen, und noch am selben Abend wurde, sobald Guido schlief, ein großer Kriegsplan abgehalten. Man zischelte geheimnisvoll bis nach Mitternacht, denn ganz einfach lag die Sache nicht. Eine längere Zusammenkunft mußte unbedingt herbeigeführt werden – aber wie? Mit Krocketspielen war jetzt im Winter nichts, Eisbahn und Rutschbahn gab es leider auch nicht. Guter Rat war teuer. Endlich ward man einig: Gottfrieds Schwestern sollten die Grootemädchen zum Kaffee einladen, und mit ihnen mußten die Deltas ins Schloß kommen.
Auf Gottfrieds brüderliche Anregungen wollten jedoch die Schwestern anfangs nicht eingehen. Erst, als der kluge Gastfreund sich ins Mittel legte und erklärte: er kenne die beiden Fräuleins von Delmenhorst sehr gut von Girdein her und würde sie gern hier begrüßen, da machten sich Jettchen und Agnes sofort ein Vergnügen daraus, »die 446 Konkurrenz« einzuladen, wie Gottfried boshaft bemerkte. Und sie kamen wirklich, mitsamt den zwei Grootemädchen.
Gottfried ward es ein bischen ungemütlich zumute, er brummte: »Auf jeden Kavalier (Guido eingerechnet) kämen je zwei Damen.«
»Genau sogar 2⅓, meinte Nöke belustigt, »aber es macht gar nichts – um so mehr Spielraum haben wir. Es wird so schon hapern, mit unsern süßen Mädelchens ein traulich Wörtlein zu reden. Warts ab!«
Der kluge Nöke hatte richtig prophezeit. Man begrüßte sich feierlich, wobei man gehörig errötete; man trank sittsam Kaffee und redete sehr weise von den ärmlichen Reizen der Girdeiner, den reichen Schönheiten der Herrnhuter Landschaft, von den Unterschieden der Herrnhuter und Girdeiner Mädchenanstalt; dann spielte man ein lustiges »Glocke und Hammer«, bei dem der findige Nöke ein Kompagniegeschäft mit Klein Walburg gründete, das schnell florierte. Endlich kamen die unumgänglichen Pfänderspiele, doch sogar bei ihnen war keine Möglichkeit zu ergattern, auch nur ein Sterbenswörtlein unter vier Augen zu reden.
Gottfried ward immer aufgeregter und flehte Nöke heimlich an, Mittel und Wege zu finden eine solche Gelegenheit herbeizuführen.
»Kann man denn nicht in den Garten gehen und dort ›Begegnen‹ spielen?« fragte er zuletzt voller Verzweiflung, als ihn der Freund zum Raten vom Gange hereinholte.
Nöke erwiderte lächelnd: »Sei doch vernünftig, Fridolin, erstens ists kalt im Garten, zweitens ists dunkel.«
»Ach was, trauriger Verstandesprotz! Erstens kann sich Mäntel anziehn, wer trotz seiner heißen Liebe friert; zweitens scheint der Mond, drittens gibt es Laternen, und viertens bin ich halb wahnsinnig. Inge ist zu schön – so schön wie nie zuvor! Ich muß ihr sagen, daß ich sie liebe – noch heute oder –.«
447 »Du, Gottfried, mach keine Dummheiten! Man sagt so etwas nie eher, als bis man auch ungefähr weiß, daß man wieder geliebt wird. Und dann bedenke eins: als Primaner kannst du dich leider Gottes nicht verheiraten.«
Zornig wollte Gottfried dem Freunde antworten, doch schon kam Agnes aus dem Zimmer herausgeschossen mit dem Vorwurfe: die Primaner mogelten zusammen, das sei nicht erlaubt. Mit diplomatischer Geistesgegenwart antwortete Nöke:
»O bitte sehr, Männer mogeln überhaupt nicht; am allerwenigsten aber Girdeiner Primaner. Nein, wir fanden nur eine kleine Abwechselung für angebracht. Wie wärs, jetzt unten im Garten Begegnen zu spielen, es ist wundervoller Mondschein. Das wäre doch einmal etwas Besonderes und Poetisches.«
»Aha, der Dichter«, neckte Agnes, stimmte aber begeistert dem Vorschlage zu, und auch die anderen Dämchen fanden ihn einfach himmlisch, nur Guido sah nicht ein, warum er da hinunter in die Kälte solle.
Ein brüderlicher Rippenstoß und ein paar Schmeichelnamen Gottfrieds bekehrten den Eigensinnigen erst recht nicht, jedoch schnell erklärte Nöke: das mache nichts, im Gegenteil, Guido solle nur ruhig oben bleiben, sonst gäbe es keine ungerade Zahl von Teilnehmern, und das sei nötig.
Rasch zog man sich an und stürmte hinunter in den weiten Schloßgarten, den das spärliche Licht eines knappen Halbmondes nur sehr notdürftig erhellte.
Die Deltas fanden sich anfangs schwer zurecht, und sofort spielte der galante Nöke den freundlichen Führer, um dann gleich die kleine Walburg für sich zu behalten. Inge schloß sich rasch an eines der Grootemädchen an, da sie merkte, daß Gottfried es auf sie abgesehen habe.
Ärgerlich erklärte dieser daraufhin: er wolle lediger Bruder bleiben, und zwar so lang wie möglich. Mit 448 überlegener Taktik und Terrainkenntnis wußte er jedoch Inge mit ihrer Freundin mehrfach zu stellen, aber immer wieder riet er das falsche Nennwort. Der Verdacht, daß Inge und ihre Genossin absichtlich mogelten, um sich über ihn lustig zu machen, quälte ihn von Minute zu Minute mehr. Aber Gottfried gab nicht nach, auch er mogelte jetzt, um keine andere nehmen zu müssen, bis er aus Versehen doch Agnes bekam und sie nur mit Mühe wieder los wurde gegen eines der Grootemädchen.
Endlich war Inge allein. Gottfried drängte ihr entgegen, und richtig, sie riet recht; sie mußte ihn nehmen.
Während Agnes davon schoß, um Nöke zu suchen, der mit seiner Walburg scheinbar spurlos im Dämmer untergetaucht war, bot Gottfried Inge verlegen den Arm. Wie eine glühend heiße Welle überflutete es ihn von Kopf bis zu Fuß, als er zum erstenmale den leise bebenden Arm der Geliebten an dem seinen fühlte. Ein Glück noch, daß es dunkel war, – so tröstete er sich – denn er fühlte deutlich, daß er rot sein müsse wie ein gekochter Krebs. Zugleich war ihm zumute, als sei ihm die Kehle fest zugeschnürt, gerade jetzt, da er reden wollte. Überhaupt diese dumme Verwirrung, nein, wirklich zu dumm! Wie oft hatte er sich diesen Moment in seiner Phantasie ausgemalt, die schönsten Worte ausgedacht, und nun fiel ihm auch gar nichts ein, alles drehte sich in seinem Kopf.
Eilig und ärgerlich zog er Inge nach einem entlegeneren Teile des Gartens. Dabei merkte er, wie Inge leise widerstrebte. Das brachte Gottfried zur Besinnung; sein Groll entlud sich, und so brach er endlich los:
»Sie Böse! Sie sind mir immerfort ausgewichen? Absichtlich, nicht wahr?«
»Aber warum denn nur?« kam es mit scheinheiliger Unschuld zurück.
»Weil es Ihnen Freude macht, mich zu quälen.«
449 »Halten Sie mich für so grausam?«
»Ja Inge, das sind Sie, grausam und stolz und das –«
»Bst, da kommt Erna Groote, und wir haben noch keine Stichworte gewählt.«
»So drehen wir schnell um, kommen Sie, fix!«
Entschlossen riß Gottfried die Geliebte herum, lachend folgte sie, sein wildes Temperament gefiel ihr; trotzdem machte sie ihm Vorwürfe:
»Herr Kämpfer, das ist gegen die Spielregel –«
»Bitte, sagen Sie doch Gottfried; nur einmal möchte ich den Namen aus Ihrem Munde hören!«
»Gott, sind Sie närrisch! Also Herr Gottfried, wie taufen wir uns? Schnell, wir müssen doch Namen haben!«
»Bitte schlagen Sie vor, Ihre Lieblingsblumen vielleicht.«
»Gut. Brennessel und Hederich.«
»Aha, dann sind Sie jedenfalls die Brennessel.«
»Natürlich – aber Unkräuter sind wir alle beide.«
»Kennen Sie Brennesseln, an denen man sich auch das Herz verbrennen kann?«
»Ach, was Sie sagen? Nein, aber Botanik war eben nie meine starke Seite.«
In diesem Augenblick trat ihnen Erna Groote plötzlich in den Weg, sie hatte still an der Wegecke hinter einem Strauch gelauert, um diesmal eine Umkehr unmöglich zu machen.
»Halt, wer da?« rief sie schnell.
»Brennessel und Wegerich«, kam es ebenso schnell von Gottfried zurück.
»Wegerich bist du, Gottfried.«
»Falsch geraten, Wegerich bin ich nicht. Bitte adieu!«
Ärgerlich stürzte Erna davon, und das Paar schritt lächelnd den schmalen, mit Buchsbaum eingefaßten Weg zurück.
450 »Das war eigentlich Schmuh!« erklärte Inge nach einer Pause.
»Ja und nein – Wegerich bin ich doch tatsächlich nicht, sondern Hederich; und dann, warum soll ich nicht ein wenig mogeln, um dafür mit Ihnen noch etwas plaudern zu können. Ich würde auch Schlimmeres Ihnen zuliebe tun, Inge – ich könnte stehlen und morden für Sie!«
»Das ist ja sehr freundlich, aber ich bedaure gar keine Verwendung für solche Liebesdienste zu haben.«
»Wie kalt und grausam Sie das wieder gesagt haben – Inge –«
»Bscht, nicht so laut, dort hinten geht Wanda Groote und Ihre Schwester.«
»Was Sie für scharfe Augen haben!«
»Danke ja, ich sehe sogar, wenn man mich absichtlich nicht sehen will.«
»Aha, ich verstehe, Sie haben mir noch immer nicht verziehen – Inge – ich habe es so bitter bereut, glauben Sie es mir.«
»Ich war böse auf Sie – nicht des Grußes wegen – nein, sondern weil Sie mich damals enttäuscht haben. Gerade weil ich Sie seit unserer Schneeschlacht für einen mutigen, ja besonders mutigen –«
»Inge«, schrie Gottfried gequält auf, »halten Sie mich, für was Sie wollen, nur nicht für einen Feigling! Nur das nicht – bitte – bitte nicht – verlangen Sie eine Probe – alles, alles will ich tun.«
»Aber sprechen Sie doch nicht so laut – man hört uns ja –«
»Ich fürchte niemanden weder hier noch sonst wo! Vor alle Leute könnte ich hintreten und sagen, ja ins Gesicht schmeißen könnte ichs der ganzen Prima –«
»Um Gotteswillen bscht, bscht!«
Agnes kam den Weg rasch heraufgetänzelt und bat um die Namen.
451 »Borscht und Besen?« fragte Inge entschlossen.
»Borscht ist natürlich Gottfried!«
»Stimmt!« kicherte Inge ausgelassen, löste rasch ihren Arm aus dem ihres leise widerstrebenden Kavaliers und hüpfte lächelnd davon, während der völlig verdutzte Gottfried mürrisch nach dem Arm der Schwester griff und sagte: »Eigentlich war es Schmuh, aber der Teufel binde mit euch Weibern an, falsch und durchtrieben seid ihr durch die Bank.«
»So? Na weißt du, und ihr Mannsleut seid um kein Haar besser, sogar noch viel schlechter! Nimm nur deinen Freund Nöke! Eben noch hat er mir die Cour geschnitten, und jetzt ist er schon wieder wie toll hinter der kleinen blonden Hexe her. Na, der soll mir nur nachher kommen, dem werd ichs schon zeigen, was ich von ihm halte, und überhaupt, was er an der finden kann! Es ist doch die reinste Gans, nicht ein gescheutes Wort bringt sie heraus. Nur mit den Augen klappern, wie Guido so schön sagt, das kann sie mächtig!«
»Aha, du bist eifersüchtig«, entgegnete Gottfried einigermaßen befriedigt, daß er nicht allein Liebesqualen litt. »Ja weißt du, Kleine«, fuhr er überlegen fort, »die Delmenhorsts sind eben die hübschesten Mädel von Girdein, und da könnt ihr Bertelsburger Pflanzen freilich nicht mit, das mag ja bitter sein, aber es ist wahr!«
»Was, die sollen hübsch sein, die mit ihren weißen Larven! Als ob die Wanda Groote nicht zehnmal hübscher wäre, und dann die Grete Reicher. Aber du bist nur selber verschossen in die Schwarze, hast sie heute immer angeglotzt wie ein Götzenbild, aber viel Chancen scheinst du nicht zu haben, mon cher frère!«
»Kröte, was verstehst du davon.«
»Ja, nun bin ich ne Kröte, und heute morgen, als ich die Grooteschen mit ihrem Besuch einladen sollte, da war 452 ich dein süßes Schwesterchen, dein Mauseschwänzchen und Zuckerschnäuzchen, und ich weiß nicht was alles! Na, du sollst mir nur noch mal kommen, und dein braver Nöke erst recht –«
Jäh verstummte der grimmen Agnes Redestrom, denn Nöke kam in höchsteigener Person auf das Paar zu.
»Namen schnell!« stieß Agnes aufgeregt hervor, doch schon stand Nöke vor den Geschwistern und bat um die Parolen.
»Mauseschwänzchen und Zuckerschnäuzchen«, erklärte Gottfried launig.
»s'ist ja nicht wahr!« zischte Agnes empört dazwischen.
»Das süßeste aller Zuckerschnäuzchen können doch nur Sie sein, Fräulein Agnes!« gestand Nöke schelmisch mit galanter Verbeugung.
»Stimmt auffallend, sehr süß!« gab Gottfried sofort zu und trat mit auffallender Bereitwilligkeit sein Schwesterchen ab.
»Viel Vergnügen«, rief er boshaft dem neuen Paar noch zu, und fort stürmte er.
Noch einmal wollte er Inge erobern, es mochte kosten, was es wolle. Endlich hatte er die Geliebte erspäht, mit ihrer Schwester wandelte sie drüben an den Waschpfählen entlang; der Mondschein, der wohlgefällig auf den goldblonden Locken Walburgs spielte, hatte den Verräter gespielt. Verschlagen pirschte sich Gottfried heran und trat den Deltas unvermutet in den Weg. Als er nach den Namen fragte, meinte Inge etwas schnippisch: sie hätten sich noch keine gewählt.
Gottfried ließ sich jedoch nicht einschüchtern, diktatorisch erklärte er: »Gut, dann gebe ich Ihnen welche: Antigone und Ismene, Sie, Inge, sind natürlich Antigone, also bitte! Und Fräulein Walburg, Klaus ist oben bei den Gartenhäuschen mit meiner kleinen Schwester, er sehnt sich sehr nach Ihnen.«
453 »Wirklich!« fragte die kleine Delta naiv und doch glücklich zurück, dann tänzelte sie mit zierlichen Schritten davon.
Gottfried hatte nur Augen für Inge, doch diese schien wenig einverstanden zu sein mit dem Vorgehen ihres stürmischen Liebhabers.
»Sie sind ja gewalttätig wie ein Sultan!« begann sie blitzenden Auges.
»Wenn ich es bin, so hat Ihre Grausamkeit mich dazu gereizt, und nun bitte ich um Ihren Arm, aber ich bitte ganz demütig.«
»Dann meinetwegen, aber auch nur dann! Abzwingen lasse ich mir nämlich nichts.«
»O nein, ich kenne ja Ihren Stolz. Wenn Sie einen Unglücklichen damit recht quälen können, dann tun Sie es gar zu gern.«
»Mit einem Wort, ich bin in Ihren Augen ein vollendetes Scheusal, Sie ein Tiefgebeugter – es ist rührend.«
»Nun spotten Sie auch noch, nur immer zu – ich glaube, ich könnte Sie hassen, wenn, wenn –«
Gottfried hielt erschrocken inne, des Freundes Warnung fiel ihm plötzlich ein.
»Warum schweigen Sie denn?« fragte Inge neugierig.
»Weil ich eine Dummheit sagen wollte.«
»So, so«, bemerkte die große Delta mit impertinenter Kühle, offenbar ärgerlich, um eine interessante Erklärung gekommen zu sein.
Gottfried fühlte unwillkürlich, es stand viel auf dem Spiele, und so lenkte er ein: »Inge, ich wollte sagen, weil Sie so schön sind, daß man Ihnen gar nicht zürnen kann.«
»Ach, wollten Sie das wirklich sagen? Da haben Sie allerdings recht: das wäre eine recht überflüssige Bemerkung gewesen.«
»Inge, bitte nicht den Ton! Haben Sie doch Mitleid mit mir! Können Sie mir denn nicht ein ganz klein wenig gut sein?«
454 Da tönte laut Jettchens Stimme gebieterisch durch den Garten: »Aus, aus! alle herkommen, Schwester Groote läßt zum Abendbrot bitten.«
»Kommen Sie!« flüsterte Inge hastig und drängte fort.
Krampfhaft hielt Gottfried jedoch ihren Arm fest und stieß flehentlich hervor: »Nein, Inge, nein, ich lasse Sie nicht fort, bis Sie mir Antwort auf meine Frage gegeben haben.«
»Also wieder Gewalt?«
»Nein, nein, ich bitte Sie ja nur, Inge, ich lasse Sie auch los, alles – nur bitte, antworten Sie!«
Und er gab ihren Arm frei.
»Kommen Sie, wir fallen auf«, wich Inge abermals aus.
»Eine Antwort – Inge – bitte – bitte!«
»Sollen Sie haben, Sie Ungeduld, kommen Sie nur erst!«
Und sie schritten langsam der Haustür zu.
Gottfried glühte vor Aufregung und bat abermals: »Inge – bitte – ich fürchte – Sie wollen mich täuschen.«
»Nein, Gottfried, dieses Mal nicht; aber es gibt gewisse Dinge, die sagt man nicht, weil man sie nur fühlen sollte.«
»Inge, so darf ich hoffen?«
»Was Sie fühlen!«
Mit diesen Rätselworten eilte Inge auf die Grooteschen und Kämpferschen Mädchen zu, während Gottfried, in Gedanken versunken, langsam nachfolgte.
Als letzte trafen Nöke und Walburg an der Sammelstelle ein, sie schienen sich sehr gut unterhalten zu haben. Die kleine Walburg lachte noch immer vergnügt übers ganze Gesicht. Gottfried und Agnes sahen es mit Neid.
Schnell geleiteten Kämpfers ihre Gäste noch bis zu Grootes Garten, dann nahm man scherzend Abschied. Nur Gottfried sah seine Inge mit schwermütig ernsten Blicken an, während er ihre Hand fest drückte.
455 Inge zog sie schnell zurück und sagte neckisch: »Au – ich weiß leider genauer als Sie, was ich fühle! Gute Nacht, Sie Grausamer.«
Damit schieden sie.
Kopfschüttelnd ging Gottfried nach Hause. Nöke gesellte sich zu ihm. Die Schwestern hüpften voraus und verschwanden bald im Schloße. Die Freunde wandelten noch eine Weile im Garten auf und ab.
Nöke war übermütiger denn je, er schlang in zärtlicher Anwandlung seinen Arm um Gottfrieds Hals und jubelte: »Alter, lieber Fridolin – was bin ich glücklich, so glücklich! Ich glaube – es war der schönste Tag meines Lebens!«
»Hast du dich denn erklärt?«
»I wo – ist doch gar nicht nötig.«
»Und hat sie dir denn gestanden, daß sie dich liebt?«
»Mensch, Frosch, Philister, wozu denn nur? Das alles brauchen wir uns doch gar nicht zu sagen, das wissen wir doch alle beide.«
»So. Merkwürdig! Ungefähr dasselbe hat mir eben Inge gesagt, als ich um eine Erklärung bat.«
»Recht so – also hast du meinen Rat scheinbar nicht beachtet?«
»Doch – ich war vorsichtig. Wirklich!«
»Und dann batest du um eine Erklärung! Ja, sag mal, bist du denn ganz und gar des Deubels! Du bittest eine Dame, sich dir auszuliefern, noch dazu, ehe du ihr irgend einen Beweis deiner Liebe gegeben hast! Das ist mehr als dreist, das ist frech, verstehst du! Das ist einfach schnöde! Hättest du nur einen ordentlichen Korb gekriegt. Verdient hättest du ihn zehnmal!«
Traurig schüttelte Gottfried den Kopf, dann sagte er langsam: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich kanns noch so ehrlich meinen, immer kommt ne Dummheit heraus. Wie hast du es denn mit Walburg gehalten?«
456 »Mein Lieber, das werde ich dir gerade auf die Nase binden! Nur so viel will ich dir gütigst verraten: ich bin der glücklichste Mensch, und sie ist das goldigste Geschöpf unter der Sonne oder jetzt unter dem Monde. Genügt dir das?«
»Danke, bei mir ist leider das Gegenteil zu konstatieren: ich bin unglücklich, und sie ist grausam.«
»Mein aufrichtigstes Beileid!«
Mit komischem Pathos streckte Nöke dem Freunde die Hand hin, doch dieser lehnte sie mit einer ärgerlichen Verbeugung ab. Dann gingen sie langsam ins Schloß zurück.
In dieser mondhellen Nacht fand Gottfried spät den ersehnten Schlaf. Noch einmal ging er ernstlich mit sich zu Rate, ob er nicht der Liebe, die ihn so elend mache, dauernd entsagen wolle; aber er wußte nur zu gut, wie kläglich seine früheren Entschlüsse in dieser Hinsicht gescheitert waren. Und so fügte er sich lieber ins Unvermeidliche und tröstete sich mit dem schönen Spruche Geibels, den ihm Nöke erst kürzlich ins Turnliederbuch geschrieben hatte:
Wenns etwas gibt, gewaltger als das Schicksal,
So ists der Mut, ders unerschüttert trägt.
Ja, er wollte es tragen wie ein Mann.
Am nächsten Tage dampften die Delmenhorstschen Mädchen zum großen Leidwesen der Freunde wieder ab, jedoch eine Woche später spielte man wiederum eifrigst Begegnen, und zwar in den einsamen Straßen Girdeins, nur ohne Rätselnamen zu wechseln.
Dafür wechselte man vielsagende Blicke, und dem noch immer tiefgebeugten Gottfried wollte es scheinen, als spräche aus denen Inges mehr Wärme und Entgegenkommen als früher Neue Hoffnung zog in sein gequältes Gemüt.
457 Das Leben auf der heiligen Prima zeigte in den Wochen der Abituriumsvorbereitungen ein völlig verändertes Gepräge.
Die Olympier schieden sich zum erstenmale sichtbar in Superi und Inferi, in Oberprimaner, die auf der Turmstube tagaus, tagein büffelten, und in Unterprimaner, die sich in dem weiten Raum der eigentlichen Prima recht verloren vorkamen. Auch sonst traten gewisse Unterschiede zutage, die vorher nicht vorhanden gewesen oder nicht empfunden worden waren. So wurden den vielgeplagten Abiturienten allerlei Vergünstigungen gewährt, z. B. in bezug auf Kaffee- und Teegenuß. Wollten die Inferi bei ihnen nassauern, so wurden sie hinausgesteckt, da sie zugleich Unfug trieben und also die Arbeit störten.
Nöke erklärte das zwar für ungemein heilsam und notwendig, weil die Superi sonst ohne Gnade dem Stumpfsinn verfallen würden, aber auch seine Beredsamkeit verhallte ungehört vor den Toren der geschlossenen Turmstube. Und – doch hatte er wirklich recht. Die Superi verblödeten geradezu vor Übereifer und Ehrgeiz, selbst der große Wangerog wurde stumpfsinnig, wie er schließlich offen zugab, indem er unter eine seiner Photographien ironisch schrieb: Homo vere stupidus!
Die alte behagliche Geselligkeit schwand mehr und mehr; man saß nur noch an den Teeabenden und Bundeskaffees auf der Turmstube beisammen, doch auch hierbei war es schwer mit den abgearbeiteten Superi ein vernünftiges Gespräch zu führen. Einige wie Brunken und Leutrodt qualmten wie toll, andere wie Lucken und Minckwitz trällerten blöde Weisen, wie »Europa hat Frieden, Europa hat Ruh« oder »Laurentia, liebe Laurentia mein«, bis zur Bewußtlosigkeit vor sich hin.
Je mehr die Oberprima versagte, um so selbständiger ward die Unterprima. Selbstbewußt hielt sie Heerschau 458 unter ihren Mannen und verteilte bereits keck die Reiche der Zukunft unter sich.
Taylor ward natürlich zum Senior omnium gewählt, Dachs zum ersten Vorturner und Dirigenten des Symphonievereins, Rodbeck zum Vorsitzenden des Missionsvereins, Nöke zu dem des Vorlesevereins, Gottfried endlich, der seit den Ferien recht still geworden war, ward zu seiner größten Freude und Genugtuung zum zweiten Vorturner und zum Präsidenten des Studienvereins destiniert. So blieben nur Drax und Zehwen ohne Amt und Würden, was ihnen übrigens sehr gleichgültig zu sein schien. War doch ihr Ansehen bei den Kolonnengenossen durch allerlei Vorgänge der letzten Zeit ein wenig gesunken.
Drax und Zehwen waren neuerdings Freunde geworden, und zwar hatten sich ihre etwas nüchternen Seelen bei einem gemeinsamen Pessimismus gefunden. Drax, der große Philosoph, war in den letzten Ferien über Schopenhauer geraten, während Zehwen, der Vertreter des paradoxen Widerspruchs, sich für Euripides begeistert und noch unlängst dessen philosophisch sophistischen Geistreichtum zum großen Gaudium des Studienvereins für die »höchste Potenz antiker Genialität« erklärt hatte. Damals war Drax dem hartnäckigen Zehwen als einziger Eideshelfer gegen den siegreichen Nöke beigesprungen, und das hatte den Bund besiegelt.
Bald ward er auf eine schwere Probe gestellt.
Die neuen Freunde machten unter anderem gewaltig Propaganda für prinzipielle Frauenverachtung. Drax stützte sich auf Schopenhauers Frauenhaß und sprach gern von der Ästhetik des Häßlichen, Zehwen teilte des Euripides Meinung über die geistige und sittliche Minderwertigkeit des Weibes. Beide Misogynen kämpften vor allem gegen den romantischen Troubadur Nöke, der sich mit Spottversen und Witzworten munter seiner Haut wehrte.
459 Da wollte es der tückische Zufall, daß gerade in diesen verführerischen Tagen der siegreichen Februarsonne eine bildschöne junge Amerikanerin, namens Mabel Elliot, des öfteren den beiden strengen Misogynen die Wege kreuzte.
Je mehr der Schnee schmolz, je länger die köstlichen Vorfrühlingstage wurden, um so öfter sah man Drax und Zehwen einer bestimmten Mädchenstubengesellschaft begegnen, ja mitunter wagten sie es, allem guten Herkommen zum Trotz die verpönte via sacra hinabzuwandeln und dort Fensterparade zu machen. Sogar der Gottesdienst ward zum geheimen Minnedienst, wenigstens konnte der in solchen Dingen ungemein sachverständige Nöke feststellen, daß die Misogynen wie ihr amerikanischer Abgott es mit verschmitzter Technik so einzurichten wußten, daß sie in der Kirche zumeist an die Spitzen der Brüder- und Schwesternbänke zu sitzen und somit möglichst nahe zueinander kamen.
Nöke, der kluge, schwieg. Eines freien Nachmittags kam er in der Primanerkammer dazu, wie sich die philosophischen Freunde, in den Händen zwei Operngucker, weidlich in die Haare gerieten über der Doktorfrage: wem die rechte und wem die linke Wange der angebeteten Mabel zukäme für den Fall eines Kusses in Ehren. Die Überraschung der Misogyne war grenzenlos, zumal Nöke freundlich lächelnd erklärte:
»Das ist jedenfalls der dritte hypothetische Fall: also si mit dem conjunctivus plusquamperfecti zu setzen – denn es ist glatt unmöglich, daß sich eine Dame von zwei Herren küssen läßt. Selbst eine Mabel läßt sich nicht so vermöbeln.«
Daraufhin stürzten sich die Verratenen auf Nöke und sperrten den unangenehmen Witzbold zur Rache in einen Kleiderschrank. Dort fand Gottfried nach einigen Minuten den bereits vermißten Freund und erlöste ihn aus seiner unwürdigen Haft.
460 Mehrere Tage hindurch erwarteten nun die Misogynen von Nöke vor der ganzen Prima blamiert zu werden und waren recht kleinlaut; doch Nöke war über Erwarten edel und schwieg.
Zehwen imponierte dieses Benehmen so gewaltig, daß er eines Abends, als man, wie gewöhnlich um den Ofen geschart, einander durchhechelte, öffentlich erklärte: Nöke habe zwar ein verdammt spitzes Maul, aber ein Kavalier sei er doch vom Scheitel bis zur Sohle. Gottfried staunte über eine so ungewohnte Anerkennung und erzählte es dem Freunde wieder.
Nöke schmunzelte geheimnisvoll und sagte nicht minder geheimnisvoll: »Leuten wie Zehwen imponiert das immer, wenn jemand anständiger ist als sie. Im übrigen warten wir ab, ob er nicht selber schwatzen wird.«
Und in der Tat, Nöke behielt recht. Es war eines stillen Sonntagabends, kurz vor dem Abiturientenexamen, da stürmte Zehwen wie rasend zur Primatür herein, riß den nichts ahnenden Drax an der Schulter empor und schleuderte ihm die empörten Worte entgegen:
»Mensch, denke dir, sie hat genascht!«
»Wer?« gab Drax verwirrt zurück.
»Na sie – Una – sie die Schneidige, Elegante – Mabel!«
»Mabel? Die Amerikanerin? Du bist wohl verrückt?«
»Ich wollte, ich wärs – aber es ist wahr, scheußlich wahr! Meine Cousine im Ort hat mirs eben haarklein berichtet. Unglaublich – aber wahr! Sie nascht – aus Passion! Jetzt hat man sie erwischt und bestraft. O diese Weiber – keine taugt etwas! Euripides hat recht – glänzend gerechtfertigt ist er wieder mal!«
»Und Schopenhauer leider auch«, setzte Drax elegisch hinzu.
Dann folgte die lange »Arbeitzeit« hindurch, trotz des heftigen Zischens von seiten des gestrengen Seniors, eine 461 gewaltige Aussprache und ein eingehendes Ketzergericht über die ruchlose Amerikanerin, an dem außer dem pflichtgetreuen Bull die ganze Kolonne mit lebhaftestem Interesse teilnahm.
Nöke machte den beredten Advocatus diabolae und zog trotz des grimmigen Wetterns der getäuschten Misogynen die Majorität schnell auf seine Seite. Auch die abgearbeiteten, apathischen Oberprimaner, die in der zehnten Stunde von der Turmstube herniederstiegen, nahmen nach Nökes genialem Plaidoyer geschlossen die Partei der »Nichtvermabelten«, und so war die Niederlage von Drax und Zehwen schließlich ganz ausgemacht.
Punkt 10 Uhr erlaubte dann auch der Diensteid Mister Bull, der bis dahin nur lüstern die Ohren gespitzt hatte zu reden, und mit seinem trockenen Humor meinte er zu den Besiegten:
»Eigentlich müßtet ihr euch bei der Amerikanerin noch bedanken, denn sie hat euch dazu verholfen, endlich aus Überzeugung Weiberhasser zu werden.«
Lachend zog dann alles zum Schlafsaal.
Nur einer lachte an diesem Abend nicht recht mit, und das war Gottfried. Er hatte in den letzten Wochen ernstlich über das Wesen der Liebe nachgesonnen.
Seit Inges diplomatischen Rätselworten und Nökes temperamentvollem Verweis war er in seinem Innern nicht wieder zur Ruhe gekommen. Langsam und leise dämmerte die Ahnung in ihm auf, daß die wahre Liebe doch etwas ganz anderes sein müsse als das, was er bisher dafür gehalten und als solche empfunden hatte. Gewichtige Bedenken stiegen in ihm auf, ob er Inge und vor allem ob Inge ihn wirklich liebe. Selbst an Nökes bisher so unbestrittener Autorität in allen Liebesfragen begann Gottfried nach und nach zu zweifeln. Er wußte längst, daß berühmte Männer später über ihre Primanerliebe gelacht und sie als Jugendeseleien launig verspottet hatten. Sollte die erste 462 Liebe stets nur eine romantische Schwärmerei, ein unfruchtbarer Rausch sein? An diesem Abend wollte es ihm in der Tat so scheinen.
Vor wenigen Wochen hatte er heimlich frohlockt, daß die allmächtige Liebe auch so nüchterne Naturen wie Zehwen und Drax schließlich bezwungen hatte. Jetzt wußte er, daß der angebliche Leidenschaftsbrand ein jämmerliches Strohfeuer gewesen war, das ein einziger Tropfen Spott gelöscht hatte. Ihm ekelte vor solcher Leichtfertigkeit, solchem frevlen Spielen mit dem erhabensten Gefühl, dessen das Menschenherz fähig ist. Aber war er schließlich besser? Hatte nicht auch er einst Inge verleugnet? Spielten Nöke und er nicht täglich Komödie, nur um sich nicht zu verraten, ja logen sie nicht beide mitunter aus erbärmlicher Feigheit? Tief empört, in ehrlichem Zorn über sich selbst ging Gottfried als letzter zu Bett.
Mit dem Entschluß schlief er ein, von nun an mit rücksichtloser Wahrheit an sein Fühlen, Denken und Handeln heranzutreten. Und schon am nächsten Morgen vernichtete er mit fanatischer Konsequenz den größten Teil seiner Gedichte an Inge, weil sie ihm unwahr erschienen.
Nöke sagte er kein Wort davon; nicht weil er seinen Einspruch oder seine verführerische Überzeugungsgabe fürchtete, sondern weil er glaubte, von nun an allein mit sich selber fertig werden zu müssen.
Bei weiterer Selbstkritik fand er sogar, daß seine Dichterei überhaupt keinen Zweck mehr habe; einmal kostete sie Zeit, da ihm die Verse nicht so leicht zuflogen wie Nöke, und dann wollte es ihm scheinen, als verführe das Dichten zur Unwahrheit. Dafür wollte er von nun an ein Promemoria beginnen; aber das sollte keine wohlgefällige Selbstbespiegelung enthalten, es sollte ein Tagebuch voll rücksichtloser Offenheit sein, schonungslos, ja grausam wie Rousseaus »Konfessionen«.
463 Er wollte sich nichts mehr schenken, wollte sich auch nichts mehr vorlügen von unechten religiösen Stimmungen, von falschen Gefühlen, Augenblicksanwandlungen und scheinbaren Leistungen, an denen sein Ehrgeiz sich bisher gelabt hatte. Ja, er empfand es bisweilen wie eine Genugtuung, sich mit Vorwürfen zu quälen und sich so verächtlich wie möglich zu werden. Er fühlte, wie weh es tat, aber er hoffte zuversichtlich, auf diesem Wege am ehesten zu dem ersehnten Ziele zu gelangen: ein Mann zu werden. 464