Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Neuntes Kapitel

»Nun ade, du mein lieb Heimatland!«

Als Gottfried am Nachmittag wieder zur Schule kam, staunte er gewaltig über das veränderte Benehmen seiner Kameraden.

Ob der Direktor oder einer der Lehrer unterdessen etwas gesagt haben mochten, ob die Dritten heimlich untereinander vereinbart hatten, den bisherigen Bann aufzuheben – Gottfried wußte es nicht, er sah nur: man sprach wieder mit ihm und den anderen Ausreißern, ganz wie früher. Ja, es wollte Gottfried fast bedünken, als sollte er plötzlich wieder auf die hohe Stufe seines früheren Ansehens gehoben werden.

Alles drängte sich fröhlich heran, man riß sich förmlich um ihn, und selbst einige Zweite und Erste schienen ihm ihr Wohlwollen und ihr Interesse absichtlich bekunden zu wollen.

Nun, das alles hatte allerdings seine Gründe. Einmal hatte Bruder Thierbach nach einer eingehenden Unterredung mit Bruder Friesen und Bruder Kämpfer, bei Gelegenheit des heutigen Morgensegens etwas verlauten lassen von brüderlicher Liebe, die dem gefallenen Bruder nie durch 148 falsche pharisäerhafte Abkehr das Aufstehen erschweren dürfe. Ein zweiter, triftiger Grund lag tiefer. Eine Bibelentheiligung war in den Augen dieser meist moravischen Schulkinder etwas höchst Unehrenhaftes und daher auch Widerwärtiges. Das Ausreißen war dagegen ein populärer Streich, dem in den Augen jedes tapferen Buben durchaus nichts Ehrenrühriges anhaftete, vollends bei solcher Energie! – Waren doch die drei bis über die Grenze gekommen, der unbändige Gottfried sollte sogar ernstlich versucht haben, dem Gendarm noch zu entwischen! Kurz und gut: die ehemaligen Bibelschänder waren jetzt als Ausreißer glänzend rehabilitiert, waren mit einem Male die Löwen des Tages, vor allem Gottfried, von dessen strenger Bestrafung man allerlei Grausiges im Orte munkelte.

Als nun Gottfried auch noch mitteilen konnte, daß er wahrscheinlich schon im Herbst nach Girdein kommen werde, da kannte die Hochachtung, namentlich der Dritten, keine Grenzen mehr. Nach Girdein aufs Gymnasium zu kommen, war ja der stille Wunsch der meisten Schüler, aber nur sehr wenigen wurde er erfüllt. Es erging ihnen ähnlich wie den Offizieren mit der Kriegsakademie. Aus den unteren Klassen war überhaupt noch nie einer nach Girdein gekommen, höchstens einmal aus der zweiten oder ersten ein besonders Begabter oder Begüterter. Und nun dieser Gottfried Kämpfer, so frischweg aus der dritten Klasse und direkt nach dem Ausreißen! Es war unerhört!

Einige Dummköpfe bekamen ordentlich Lust, ebenfalls auszureißen, weil sie meinten, daraufhin kämen sie dann vielleicht auch nach Girdein.

Unter den obwaltenden Umständen hätte es Gottfried sehr leicht gehabt, in die alten, verhängnisvollen Bahnen seines Räuberhauptmanndaseins wieder einzulenken, und manchmal lockte es ihn in der Tat gewaltig; aber er hatte Besserung gelobt und wollte sein Versprechen halten.

149 Die Ferien standen unmittelbar vor der Tür, und so galt es mit allen Kräften zu arbeiten, um noch einzuholen, was möglich war. Es gelang nur teilweise.

Am 20. Juli war die letzte Reihensetzung. Gottfried rückte sechs Plätze herauf; er war freilich erst der Achte in der Klasse, aber er war doch unter denen, die noch ziemlich sicher auf eine Versetzung zu Michaelis rechnen durften. – Girdein war also in Sicht!

Mit strahlendem Antlitz und innerer Befriedigung wanderte Gottfried, das Monatszeugnis in der Tasche, nach Hause. Mit stolzer Sicherheit trat er vor den Vater, der gerade im Büro die Zeitung las. Als er ihm die Nachricht mitgeteilt und hinzugefügt hatte: Nach den Ferien soll es noch viel besser werden, aber jetzt habe er nur knapp drei Wochen Zeit gehabt, da gab ihm der Vater freundlich die Hand und sagte mit wohlwollendem Tone:

»Brav, mein Junge, und nun fest dabei geblieben, dann wirds auch gehen!«

Helle Freude leuchtete aus den Augen Gottfrieds, denn es war die erste Anerkennung, die er während seines Herrenfelder Schullebens vom Vater erhalten hatte.

Darauf fuhr der Vorsteher schalkhaft lächelnd fort: »Weißt du, was ich eben hier lese? Dein geliebter General Gurko hat den Schipkapaß genommen und vorgestern überschritten. Du siehst also, es ist auch ohne euch drei gegangen. Damit du aber trotzdem nach Böhmen hineinkommst, sollst du mit Henriette und mir eine kleine Reise machen. Am Montag gehts fort, wieder zur Grenze, aber diesmal in allen Ehren! So und nun geh zur Großmutter und frage sie, ob du nach unserer Reise bis zum Ende der Ferien wieder bei ihr schlafen darfst. Nur nachher, in der Schulzeit, kommst du wieder zu uns. Wir wollen doch auch noch etwas von unserem künftigen Girdeiner haben!«

150 Gottfrieds Augen waren bei diesen Worten immer größer und größer geworden vor freudigem Erstaunen, dann flog er plötzlich dem Vater jubelnd an die Brust, küßte das bisher so gefürchtete Antlitz zärtlich, als sei es das der Großmutter, und flüsterte leise, überselig vor Freude:

»Danke, danke tausendmal, das hab ich nicht verdient.«

An diesem Tage hörte der Vorsteher von seiner Schwiegermutter, Frau Bürglin, wieder das erste freundliche, ja herzliche Wort; es war zugleich ein Wort der Entschuldigung. Bis dahin hatte die stolze Baslerin es für unter ihrer Würde gehalten, mit ihrem Schwiegersohn, den sie im Zorn einen preußischen Korporal, einen zweiten Friedrich Wilhelm I., genannt hatte, eine wirkliche Versöhnung anzubahnen. Ihren erst gefaßten Vorsatz, Herrenfeld ganz zu verlassen, hatte sie nicht durchgeführt, da sie abwarten wollte, zu welchem Fiasko die traurige Prügelerziehung des Vorstehers noch führen würde. Vielleicht konnte sie das Allerschlimmste verhüten.

Nun war alles ganz anders gekommen, als sie vermutet. Gottfried schien braver, bescheidener und glücklicher zu sein als je zuvor. Die strenge Zucht und Aufsicht des Vaters allein konnten nicht ausschlaggebend sein, obwohl sie für die unbändige Art des Jungen vielleicht heilsam waren. Die Reue, vor allem die Aussicht der Verletzung nach Girdein hatten sicherlich viel dazu beigetragen den Sinn des Knaben zu ändern. Daneben ward es jedoch der alten, scharfsichtigen Frau Bürglin immer klarer, namentlich heute, als sie Gottfried zum ersten Male mit Begeisterung vom Vater, von dem er früher fast nie gesprochen hatte, reden hörte, daß der Vorsteher es nun doch verstanden hatte, den Weg zum Herzen seines schwer zugänglichen Sohnes zu finden.

Darum trieb es die gerechte Frau, ihrem Schwiegersohne gegenüber das jetzt freudig anzuerkennen und ihm einiges 151 frühere abzubitten. Allerdings fügte sie gleichsam erklärend hinzu: Gottfried sei doch wohl mehr eine Kämpfersche als eine Bürglinsche Natur.

Ob das eine Schmeichelei oder eine versteckte Bosheit sein sollte, wußte der Vorsteher zunächst nicht; aber er gab die Tatsache selbst zu, denn er hatte jetzt, seitdem er sich eingehender mit seinem Sohne beschäftigt hatte, mancherlei Kämpfersche Familienzüge an ihm bemerkt.

Irgend welche kleinliche Eifersucht lag einer im Grunde so vornehmen Natur, wie der Frau Bürglins, völlig fern; und doch empfand sie unwillkürlich ein geheimes Weh darüber, daß sie die Liebe und das Vertrauen ihres Gottfried nicht mehr so ausschließlich besaß wie früher, denn auch mit ihrer Tochter mußte sie jetzt teilen. Sie wollte ihn darum in den letzten Wochen seines Herrenfelder Aufenthalts mit doppelter Liebe umgeben.

Vielleicht vergaß er dann auch im fernen Girdein seine alte Großmutter nicht.

 

Am nächsten Montag ging es wirklich mit dem Gasthofsgespann, das dem Vorsteher wie dem Gemeinhelfer nach altem Herrenfelder Herkommen je einmal des Sommers und des Winters unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, auf die Reise.

Es war die erste Reise, die der Vorsteher mit seinen beiden ältesten Kindern machte. In seinen Jugendjahren war er wohl manches Mal rüstig, mit dem Ränzel auf dem Rücken, durchs Land gewandert, aber seit seiner Verheiratung war er nie wieder zum Reisen gekommen. Das Amt nahm ihn, den anfangs Übereifrigen, gar zu stark in Anspruch, und später, als es eher anging, glaubte er manchmal eingerostet zu sein.

152 Jetzt war es ihm plötzlich, als könne er mit seinen Kindern wieder jung werden, und so beschloß er mit Henriette und Gottfried weiterhin zu Fuß durch die Falkenberge und hinüber nach dem Raditzer Schneeberg zu wandern.

Jedes hatte einen festen Stock mit, auch Jettchen, die sich ganz amazonenhaft damit vorkam; jedes hatte auch ein Ränzel, Gottfried sogar ein funkelnagelneues, das ihm die Großmutter zur Belohnung für seine letzte Schulleistung geschenkt hatte.

Gegen Mittag langte man zunächst in Tannewitz an und wurde, wie immer, aufs liebenswürdigste aufgenommen. Zumal der alte Oberst freute sich außerordentlich, schickte sofort das Gasthofgeschirr nach Hause und erklärte, jetzt müsse man ihm gehorchen: erstens äße man gemeinsam im Schloß zu Mittag; zweitens wandere man zusammen durch seinen schönen Lampertigrund nach Raudten; drittens genehmige man dort eine feierliche Abschiedsvesper mit kalter Küche und Erdbeerbowle; und viertens würden Kämpfers mit seinem Wagen, den er um 6 Uhr nach Raudten bestellen werde, hinauf nach Kupferstein fahren, damit sie ja nicht um den Anblick des Sonnenunterganges auf der Festung kämen.

Das liebenswürdige Anerbieten des in hübschen Ausflugsplänen stets erfindungsreichen Gutsherrn wurde dankend Punkt für Punkt angenommen und ausgeführt.

Gottfried, der seine unliebsamen Erinnerungen an die zerbrochene Elle, und was sonst drum und dran hing, so ziemlich vergessen hatte, feierte ein vergnügtes Wiedersehen mit Wolf und Wichart. Daß Guido diesmal fehlte, war kein Unglück, denn seine noch allzukindliche, etwas mädchenhafte Art paßte einmal nicht zu der des derben Kleeblattes, Wolf, Wichart und Gottfried.

Wieder wurden zuerst die russischen Rappen im Pferdestall besucht, und Gottfried gestand den Junkern dabei 153 heimlich, daß er die Rappen erst kürzlich wiedergesehen habe, nämlich in jener Nacht, in der er mit Ibikus und dem Pastormatthes ausgerissen war. Die ganze Geschichte, von der die jungen Barone bisher nur dunkle Gerüchte gehört hatten, mußte Gottfried nun selbstverständlich zum besten geben, und er tat es auch mit dem ganzen Stolz und nicht ohne die übertreibende Phantasie eines weitgereisten Abenteurers.

In den Augen Wolfs und Wicharts stieg er ganz bedeutend durch diese Tat; nur, daß ein Vorstehersohn mit einem Totengräberjungen befreundet sein könne, das erschien den Junkern ganz unfaßlich. Gottfried setzte schnell hinzu:

»Das ist auch vorbei, Vater hats mir verboten, außerdem ist Ibikus wirklich falsch, er hat den guten Matthes neulich beim Markentauschen furchtbar beschummelt.«

Darauf erzählte Gottfried begeistert von Girdein und seiner großen Anstalt, da sei ein Regiment, und es würde dort überhaupt mächtig viel geturnt und gespielt. Damit imponierte er Wolf und Wichart freilich weniger, als er gehofft hatte, da diesen der moravische Patriotismus Herrenfelder Schuljungen völlig abging. Wolf meinte sogar ziemlich hochfahrend:

»Na weißt du, wir kommen nächste Ostern auf die Ritterakademie nach Liegnitz, da tragen wir sogar immer Uniform, blau und gelb, fein, was, Wichart?«

Und Wichart bestätigte diese Feinheit mit energischem Kopfnicken.

Gleich nach dem Essen ging es zu Fuß in den wundervollen Lampertiwald, zunächst noch ohne die Ränzel, die der Wagen später mitbrachte; nur die Bergstöcke wurden bereits eingeweiht.

Jettchen und Elfriede, die sich seit Gottfrieds Ellenabenteuer, das ihm damals den Verlust der Hoffähigkeit 154 eingetragen hatte, öfters gesehen hatten und bereits Freundinnen geworden waren, hatten Puppen mitgenommen und spielten bald Mama, bald Kindermädchen.

Frau von Karpnitz und ihre Schwester suchten eifrigst Pilze fürs Abendbrot, während der Oberst sich beim Vorsteher eingehend nach den Zustand der gekappten Linden erkundigte. Ein wenig ironisch meinte Bruder Kämpfer:

»Den Linden ist das Experiment ganz gut bekommen, mir dagegen weniger.«

»Wieso?« fragte der Oberst besorgt.

»Nun, das war ja vorauszusehen,« erwiderte der Gefragte sehr ruhig, »daß sich Berufene und Unberufene darüber aufhalten würden. Wer am Wege haut, hat viele Meister.«

Der Oberst lachte und nickte bestätigend, während der Vorsteher in seiner trockenen Art fortfuhr:

»Ich habe ein ziemlich dickes Fell gegenüber heimlichen Verleumdungen, an die sich jeder öffentliche Beamte gewöhnen muß, auch in unseren Kreisen, in denen man oft glaubt, die Bruderliebe ganz eigens gepachtet zu haben. Dieses Mal hat man jedoch auch versucht, mir öffentlich den Prozeß zu machen.«

»Nanu,« warf der Oberst erstaunt dazwischen.

»Ja, man berief eine Gemeinversammlung, um gegen meine Willkür zu protestieren. Natürlich erschien ich auch selbst, während viele unserer Ältesten mich im Stich ließen. Ich vertrat also meine Sache, die übrigens mehr Zustimmung fand, als ich erwartete. Klugerweise spielte man nun von Seiten der Gegner die ganze Frage auf das Gebiet der Kommunalpolitik hinüber und eiferte grimmig gegen falsche Prinzipien, alte überlebte Traditionen usw.; na Sie wissen ja, Herr Oberst, den Sack schlägt man, und den Esel meint man.«

Wieder lachte der Oberst und fragte: »Und wie ging denn die Sache aus?«

155 »Nun, natürlich wie das Hornberger Schießen. Ich tat ihnen den Gefallen nicht, wegzugehen, und da der Mut nicht gerade die stärkste Seite vieler Brüder ist, so baute man mir zuletzt goldene Brücken, aber ich floh trotzdem nicht. So habe ich denn einstweilen meine Position behauptet, aber wie lange, Herr Oberst? Ich sehe nicht sonderlich vergnügt in die Zukunft.«

Mit freundlicher Teilnahme beruhigte Oberst von Karpnitz den ihm lieb gewordenen Vorsteher.

Unterdessen hatten die drei Buben, – der Hauslehrer war gerade in den Ferien – die Gelegenheit benutzt, sich gehörig zu jagen und sich dann eine langwierige Tannenzapfenschlacht zu liefern, bei der allerdings das Geschrei größer war als die Treffleistungen.

Kurz vor Raudten wurde dann vor einer anmutigen Waldhütte Halt gemacht. Eine gedeckte Tafel und zwei Diener traf man bereits an. In vergnügter Fröhlichkeit wurde das Mahl eingenommen, und auch Gottfried, der jetzt schon mehr Sicherheit im Essen erlangt hatte, speiste mit sichtlichem Appetit, ja er trank – weil Mama nicht mit war – drei stattliche Gläser Erdbeerbowle und kam darüber in eine so rosige Stimmung, daß ihm der Abschied von den kleinen Baronen doppelt schwer fiel. Jedenfalls war es gut, daß es zu Wagen weiter ging, denn die Beine dünkten dem kleinen Vorsteher noch schwerer zu sein als der Kopf.

Die Fahrt nach Kupferstein hinauf durch die milde, Landschaft des windstillen Sommernachmittages war herrlich. Überall merkte man bereits an der Vegetation, daß man ins Gebirge kam, obwohl die Steigung nicht allzu stark war, und die russischen Rappen noch immer einen guten Trab halten konnten. Schon waren allerlei Spuren der nahen österreichischen Grenze zu bemerken, so grüßte man in Raudten zum ersten Male den Böhmen 156 heiligen Nepomuk, der die Züge des Johann Huß zu tragen pflegt und meist wehleidig von einer Brücke herabschaut; so las man ferner an den Ladenschildern der Handwerker schon das sonderbare deutsch-böhmische Wort Erzeuger für das einheimische Macher oder Fabrikant, z. B. Wursterzeuger, Handschuherzeuger usw.

Namentlich der Vorsteher sah das alles mit Interesse und machte in seiner etwas didaktischen Art auch seine Tochter aufmerksam, um ihr Beobachtungstalent anzuregen. Bei Gottfried war das zurzeit nicht gut möglich, er war auf seinem Rücksitz sanft entschlummert.

Der Karpnitzische Kutscher fuhr gut. Punkt 6 Uhr ward das Tor von Kupferstein passiert, und nun wachte auch Gottfried wieder auf und rieb sich verdutzt die Augen, als er sich plötzlich in den engen, steilen Gassen der alten Bergveste wiederfand. Lachend begrüßten ihn der Vater und Jettchen, und er selbst lachte fröhlich mit. Vorm »Prinzen Heinrich« ward ausgestiegen, Nachtquartier genommen und die Karpnitzische Kutsche mit besten Empfehlungen zurückgeschickt.

Dann sollte es noch vorm Abendessen zu Fuß auf die Bastionen der alten Festung hinaufgehen, die im Sonnenglanze glitzerten und gleißten wie lichtes Gold.

Kupferstein, ursprünglich ein armseliges Bergwerksstädtchen, hatte seine kurze Blüte und seine schnell vorübergehende historische Bedeutung dem größten deutschen Kulturträger für Schlesien, dem unermüdlichen alten Fritz, zu verdanken, der hier auf steiler Höhe ein zweites Königstein zum Schutz der Falkenpässe gegen Österreich erbaut hatte. Jungfräulich spröde, wie erst gegen die Österreicher, blieb das kleine Kupferstein auch später gegen die Franzosen 1806 auf 7 und half damals mit anderen schlesischen Festungen die Ehre des preußischen Namens in der jüngsten preußischen Provinz retten. Seitdem hatte sich freilich 157 keine feindliche Granate mehr auf die schmucken, aber immer unmoderner werdenden Bastionen Kupfersteins verirrt. Dafür waren umsomehr unglückliche Festungsgefangene hinaufgebracht worden, darunter auch Fritz Reuter, dessen Zelle nun mit zu den wenigen Sehenswürdigkeiten der Veste gehörte. Nach dem glücklichen Kriege mit Österreich ward Kupferstein, das nur unnötig Geld und Soldaten kostete, auf allerhöchsten Befehl geräumt, nachdem seine letzten Kanonen noch dem jungen deutschen Kaiserreiche ihren donnernden Salut hatten bringen dürfen. Kupferstein hatte seinen Dienst für den preußischen Staat getan.

Die Festung schleifen zu lassen, hätte wenig Wert gehabt und doch viel Kosten verursacht, und so blieb sie stehen, ein stummes, aber gewaltiges Zeugnis von dem Glanz der friederizianischen Zeit. Die Stadtkasernen wurden einem unternehmenden Fabrikanten billig überlassen, als Festungskommandant wurde ein ausgedienter Artilleriefeldwebel eingesetzt, der zugleich den Fremdenführer machen durfte, und dessen ganzer militärischer Dienst nur noch darin bestand, an Königs Geburtstag und am Sedantage die Reichsfahne aufzuziehen und drei Böllerschüsse zu Ehren des Tages zu lösen. Im Städtchen, in dem ehedem die schweren Schritte schleppfüßiger Kanoniere so wuchtig gedröhnt, die blanken Sporen eleganter Offiziere so lustig geklirrt hatten, wards nun wieder so ruhig und still wie zuvor; das einzige, was darin tickte und klapperte, waren die vielen Messingrädchen und Pendel einer großen Uhrenfabrik oder die unermüdlichen Webstühle armer Weber.

Wahrlich, wer jetzt durch Kupfersteins Straßen dahinschritt, wer die vielen, hohen Häuser, von denen ein großer Teil unbewohnt war, betrachtete, – wer dann auf die stattlichen Türme der zwei Garnisonkirchen, die reichgeschmückten Portale der Kommandantur, der Intendantur und sonstiger militärischer Monumentalbauten sah, wer darüber zu den 158 himmelanstrebenden Glacismauern der beiden Hauptwerke, der Heuhaube und des Donjons, hinaufschaute, dem mußte unwillkürlich wehmütig werden bei diesen letzten, schweigenden Zeugen verschwundener Pracht.

Auch Kämpfers wandelten wie ergriffen vom Schauer einer großen Vergangenheit still durch das malerisch am Berghang gelegene Städtchen hinauf zu den Festungswerken, um von dort aus den Sonnenuntergang zu genießen.

Es war ein herrliches Bild, das sich ihnen dort oben bot. In jäher, fast senkrechter Steilheit fielen die Riesenmauern dicht vor ihren Füßen ab, so daß Jettchen zuerst einen Anfall von Schwindel überwinden mußte, ehe sie es wagen konnte, an das schützende Geländer zu treten.

In dunkelgrüner, unermeßlicher Tiefe lagen vor den erstaunten Blicken der Schauenden die waldigen, leise rauschenden Falkentäler, in deren äußerste Schluchten und Winkel die ermattende Sonne schon nicht mehr hineinleuchten konnte. Dicht gegenüber trotzte zur linken die zackige Spitze des Hohensteins herüber, des einzigen, querköpfigen Sonderlings unter den sonst gutmütig-runden Kuppen des Falkengebirges. Und zur rechten ragte die stolze Heuhaube mit ihren geradlinigen Sturmschanzen noch ungebeugt empor, recht wie das Idealbild einer uneinnehmbaren Bergveste, wie ein letzter, treuer Wachtposten in der langen Reihe der gutpreußischen Falkenberge. Daneben schimmerte so lieblich und behaglich von der Abendsonne verschönt das nahe Österreich, als wäre es immer ein lachendes Bruderland und nie ein Land grimmiger Gegner gewesen.

Damit war die Aussicht noch lange nicht zu Ende, sie ging rundum. Nach Süden zu erlaubte sie einen weiten, köstlichen Einblick in das eigenartige, weltabgeschlossene Bergländchen der Markgrafschaft Raditz, die sich wie eine hartkantige preußische Redoute ins milde Österreich 159 hinausschiebt und in ihrem Menschenschlag wie in ihrer Bodengestalt viel Ähnlichkeit mit der Schweiz hat.

Im Norden lag das weite, blühende Schlesierland in seiner bunten Felderpracht, mit seinen lang hingestreckten Dörfern, seinen zahllosen Hügelwellen, zwischen denen sich die Bäche und Flüsse wie silberne Mariengarnfäden spannen. Das war das stolze Paradies eines bodensessigen, schollenfrohen Volkes, das sich diese Erde erst im Laufe eines langen, stillen, aber zähen Kampfes errungen und nachher in rastloser Kulturarbeit erarbeitet hatte, so daß sie nun sein doppeltes Eigentum geworden war. Und darüber her ragte, mitten aus den gesegneten Fluren des Flachlandes, wie ein unbezwinglicher, steingewordener Riese der Vorzeit der majestätische Zobten, der Liebling des großen Friedrich, das »einzige Juwel aus der schlesischen Herzogskrone,« das sich der genügsame König persönlich zu eigen genommen hatte.

Sinnend und tief versunken in das herrliche Bild vor ihnen, sahen der Vorsteher und seine Kinder ringsum zur Tiefe hinab. Endlich unterbrach der Vater das lange Schweigen und sagte zu Gottfried:

»Na, Junge, guck dirs noch einmal gründlich an, das liebe, stolze Heimatland! In der Girdeiner Heide wirst du vergeblich den Hals recken nach solchen Bergen, solchen Tälern, solchen Wäldern und Feldern, dann heißts Sand und Kiefern, Kiefern und wieder Sand!«

Und Gottfried nahm sichs zu Herzen, ein erster, leiser Schauer von Abschiedsweh kam plötzlich über ihn, aber trotzdem hätte er auf die Girdeiner Zukunft nie und nimmer verzichten mögen.

Nachdem sich die drei Herrenfelder schließlich noch den winzigen Kunkelberg und das noch winzigere grüne Türmchen ihres schlichten Gemeinkirchleins von dem Feldwebel hatten zeigen lassen, weiter die Hauptwache, den 14 m tiefen 160 Festungsbrunnen und Reuters Zelle flüchtig besichtigt hatten, stiegen sie bei sinkender Sonne wieder zum Städtchen hinab. Diese Nacht schliefen sie im »Prinzen Heinrich« 800 und einige Meter hoch, wie Jettchen beim Gutenachtsagen überglücklich feststellte.

Am anderen Morgen ging es dann ins jenseitige Tal hinab nach Armenberg zu, wo die großen Arsenikbergwerke besucht und darauf die Grenze überschritten wurde, an einer anderen Stelle, als es Gottfried getan hatte. Im Lugaus, einer altberühmten österreich-schlesischen Wein- und Speisewirtschaft, wurde das nächste Nachtquartier bezogen. Von hier aus ging es über den lieblichen Wallfahrtsort Mariahuld, ein reizendes Schmuckstück der an allerlei idyllischen Schönheiten überreichen Raditzer Grafschaft zu dem berühmten Wildfall, von dem Gottfried und Jettchen schon in der Heimatkunde so viel gehört hatten.

Auf diesem für die kleinen Fußgänger ziemlich anstrengenden Marsche schlossen die beiden so verschiedenen Geschwister eine merkwürdig plötzliche Freundschaft.

Henriette, kaum anderthalb Jahr älter als Gottfried, besaß ein auffallend gesetztes, mitunter altkluges Wesen, das gegen die wilde, derbe Natur ihres Bruders oft seltsam abstach. Sie war Vaters Tochter in ihrer etwas kühlen Art und zugleich in der eigentümlichen Vorliebe für didaktische Nutzanwendungen, von denen natürlich der selbstherrliche Gottfried kein großer Freund war. Er nannte das hofmeistern und ließ oft den belehrenden Auseinandersetzungen der Schwester Tätlichkeiten folgen. So mied ihn Jettchen meist, da sie keine Freundin des Streitens, geschweige denn des Raufens war.

Jetzt waren die beiden freilich aufeinander angewiesen. Gottfried war überdies durch die vorangegangenen Erfahrungen etwas zahmer, Jettchen durch die Freuden der Fußwanderungen frischer und liebenswürdiger geworden, und jeder 161 Zank war durch die stete Anwesenheit des Vaters schlechthin ausgeschlossen.

Man unterhielt sich auch ganz gut. Die männlich scharfe Auffassungsgabe und das treffende Urteil des Bruders waren Jettchen nicht minder neu und sympathisch wie dem Knaben die weiblich sinnige Bewertung aller Eindrücke. Für jedes war es eben die erste Seele des anderen Geschlechtes, die sich hier ehrlich und rückhaltlos erschloß, eine Ergänzung ergab sich von selber. Doch das Eis der bisherigen Sprödigkeit konnte das alles noch nicht schmelzen, erst als ein innerliches Erlebnis dazu kam, taute es vor der warmen Sonne echter Geschwisterliebe.

Es war heute ein schwüler Tag, und beide stiegen mühsam den steilen Wallfahrtspfad von Mariahuld hinauf, der rüstige Vater war ihnen schon weit voraus. Beiden rann der Schweiß in Tropfen über das glühendrote Gesicht, aber die Kräfte des geübteren und kräftigeren Gottfried waren weit weniger mitgenommen als die der zarten Henriette, die immer lauter keuchte und immer weiter zurückblieb.

Gottfried fühlte endlich, nachdem er mehrfach auf Jettchen gewartet hatte, ein menschliches Rühren. Erst nahm er ihr die Tasche ab, dann bot er ihr an, sie zu führen. Sie versuchten es, aber Henriette konnte zuletzt auch so nicht mehr mit. Dem Vater, vor dem man sich nicht blamieren wollte, mochten beide nichts sagen; von dauerndem Zurückbleiben und Ausruhen, – wofür auch der Schatten gefehlt hätte, – konnte erst recht nicht die Rede sein. Da kam Gottfried ein ebenso praktischer wie aufopferungsvoller Gedanke: er nahm die beiden Bergstöcke, legte sie mit den Krücken und Zwingen zusammen, setzte die Krücken, die er Jettchen in die rückwärts gereichte Hand gab, an deren Taillenrücken, faßte die Stöcke fest an den Zwingen und begann nun, die Schwester sacht und sanft den Berg hinaufzuschieben.

162 Ein leichtes Stück Arbeit war es für den doppelt bepackten Knaben sicherlich nicht, denn der Berg war steil und die Sonne gar warm, aber er fühlte sich hier bei der Ehre gefaßt, und das machte ihn doppelt stark. Er sah sich mit einem Male als Helfer, als Beschützer Jettchens; romantische Bilder aus Kreuzfahrergeschichten zogen ihm durch die Seele, und er fühlte jetzt deutlich eine wirkliche Zuneigung in seiner Brust zu dem niedlichen Geschöpf da vor ihm, das sich so anmutig den Berg hinaufschieben ließ, und das er seine Schwester nannte.

Ganz ähnliche Gedanken schienen Jettchen zu beschäftigen, während sie sich nun fast mühelos dem schlanken, minarettartigen Kirchturm von Mariahuld näherte, wenigstens wandte sie das zierliche Köpfchen des öfteren teilnahmsvoll um zu ihrem Helfer, der bald wie eine kleine Dampfmaschine stampfte und prustete.

Endlich kam die letzte kleine Höhe, von der aus der Vater schon mit verwundertem Lächeln die eigentümliche Schiebetechnik seines Sohnes musterte. Kaum war der Gipfel, zuletzt fast im Sturmschritt, von dem siegenden Gottfried genommen, als auch das sonst so reservierte Jettchen sich umkehrte, die Stöcke fallen ließ und dem vor Schweiß triefenden Bruder um den Hals fiel, ihn dankbar und innig küßte und ein paar Mal wiederholte: »Du bist doch ein lieber, guter Kerl! Ich danke dir tausendmal.«

Der verdutzte Gottfried erwiderte diese Zärtlichkeiten nur zaudernd; sie waren ihm gar zu ungewohnt. Und der Vorsteher sah der improvisierten Liebesszene seiner Kinder mit fröhlichem Behagen zu und meinte mit trockenem Humor: »Freßt euch nur nicht ganz auf, Kinder, sonst bring ich der Mutter am Ende nichts mehr von euch nach Hause als die Schuhsohlen.«

Seit diesem Tage von Mariahuld waren Jettchen und Gottfried gute Freunde und blieben es auch, als die 163 Ferienreise nach einigen Tagen endigte, und sie beide mit frohem Mute und braunroten Wangen wieder in Herrenfeld anlangten.

 

Gleich die erste Nacht nach der Rückkehr von der herrlichen Reise, die Gottfried in eine solche Naturbegeisterung versetzt hatte, daß er allen Leuten von Kupferstein, Mariahuld und vom Schneeberg vorschwärmte, schlief er wieder in seinem alten Bettchen bei der Großmutter, die ganz beglückt war, ihren Friedel abermals bei sich zu haben. Am nächsten Morgen tranken beide zusammen unten in der Gartenlaube gemütlich ihren Kaffee, dann erst – nachdem sie sich unendlich viel erzählt hatten, gleich als ob sie sich Jahre lang nicht gesehen – gingen sie zum Vorsteherhäuschen.

Dort arbeitete Gottfried von nun an jeden Morgen, um die vorhandenen Lücken auszufüllen. Im übrigen benutzte er die Ferien, um eine möglichst romantische Reisebeschreibung anzufertigen, die er dann sauber abschrieb und dem Vater zum Danke für die wunderschöne Reise schenkte; das Konzept bekam die minder kritische Henriette, die sich übrigens so darüber freute, daß sie einige Stellen davon auswendig lernte, worauf Gottfried nicht wenig stolz war. Der Vorsteher las dieses erste opus seines Söhnchens ebenfalls aufmerksam durch, korrigierte es sodann und schenkte ihm als Belohnung für seinen Fleiß einen Siegestaler in die Sparkasse, die seit dem Fluchtversuch an unheimlicher Öde litt.

Ferner begann Gottfried sich mit Eifer im Turnen zu üben und vor allem schwimmen zu lernen, beides im Hinblick auf Girdein, wo man doch jedenfalls ein tüchtiger Kerl sein mußte. Jeden Tag ging er in die Schwimmschule, 164 manche Tage sogar zweimal, so daß der Schwimmster, wie die Knaben den Lehrer nannten, seine helle Freude an dem kleinen Vorsteher hatte. Gottfried gab sich wirklich die erdenklichste Mühe, machte alle Tempi mit der größten Genauigkeit, doch so bald er nach der Lektion die Sache im Bassin drinnen probieren wollte, gings nicht. Gottfried ärgerte sich umsomehr, als Matthes sich schon längst freigeschwommen hatte, während der schlaue Ibikus, mit dem er einmal zufällig hier zusammentraf, es angeblich überhaupt ohne jede Schule konnte, er pudelte nämlich. Gottfried wußte, es fehlte ihm nur der Mut, denn gelernt hatte er genug, und gerade das wurmte ihn.

Eines Tages sprang er grimmig, – unmittelbar nach einer Lektion, in der ihn der Schwimmster besonders gelobt hatte, – ganz hinten ins Bassin, wo es mindestens drei Meter tief sein sollte. Viel hätte nicht gefehlt, so wäre Gottfried ertrunken, denn er mußte lange wie ein Verzweifelter kämpfen, bis er überhaupt wieder an die Luft und an die Seitenlatten kam. Dann aber, als er zu Atem gekommen und sich abermals ins tiefe Wasser hineingestoßen hatte, war auch der Sieg endlich errungen, nach drei Stößen schon trug ihn das Wasser. Alles übrige war Übungssache und wurde im Sturmschritt nachgeholt; eine Woche darauf schwamm er sich unter dem Jubel einiger Kameraden frei und besiegelte schließlich die Erreichung des ersehnten Ziels durch einen tadellosen Kopfsprung von der großen Barriere herab.

 

Als die Schule wieder anfing, begann Gottfried mit wahrem Feuereifer zu lernen, nicht allein, um die Versetzung zu erlangen, deren war er ziemlich sicher, nein, er wollte noch einmal Primus werden. An den gemeinsamen Klassenunternehmungen und Spielen beteiligte er sich fast gar nicht 165 mehr, so daß die Rede ging, er sei stolz geworden, seit er Aussicht habe, nach Girdein zu kommen. Gottfried focht das wenig an. Als er tatsächlich am Tage vorm Sedanfeste Primus ward, sagte er triumphierend zu den ihm gratulierenden Dritten:

»Na seht ihr, ihr dummen Kerle, ich wollte nur erst Primus werden, und stolz bin ich kein bissel, morgen spiel ich wieder mit.«

Als Gottfried darauf nach Hause geeilt war, erhielt er einen zweiten Taler, – es war ein Krönungstaler – zur Belohnung von der Großmutter, die vor Freuden abends die ganze Vorsteherfamilie zu sich einlud.

Am Sedanfeste wurde nach neuerem Schulgebrauche französisch-deutscher Krieg gespielt, und zwar auf dem Schoberberge. Es war freilich nur eine etwas organisierte Abart des gewöhnlichen Räuber- und Gendarmspiels, nur daß hierbei ein bloß an zwei Stellen überschreitbarer Fluß, den ein Weg markierte, die Gebiete der beiden Parteien voneinander trennte. Es war immer eine gewisse Spannung, wer siegen würde, die Deutschen oder die Franzosen. Meistens siegten natürlich die Deutschen, weil sie für diesen patriotischen Zweck von vornherein stets etwas stärker bedacht wurden.

Bei den Ersten, Zweiten und Vierten siegten sie auch vorschriftsmäßig. Bei den Dritten dagegen siegten zur großen Betrübnis des Vaterlandes die Franzmänner, an deren Spitze kein anderer als Ibikus stand. Die Mehrzahl der Deutschen war eben von dem klugen Odysseus der dritten Klasse in einen Hinterhalt gelockt und überrumpelt worden, die übrigen wurden dann einzeln durch die Übermacht überwältigt, darunter als letzter der bisher fast unbesiegbare Gottfried Kämpfer.

Wie ein Berserker hatte sich der frühere Räuberhauptmann gewehrt, aber alle Tapferkeit war heute umsonst. 166 Er stand einer gegen alle und wurde zuletzt schmählich gefesselt vor den Totengräbersohn geschleppt.

General Ibikus Napoleon übte keine Gnade, er ließ Gottfried an einen Baum binden und mit kleinen Spielpistolen durch seine Scharfschützen standrechtlich erschießen. Das war der Triumph des Totengräbersohnes über den ehemaligen Freund und Gebieter, der ihn in der letzten Zeit behandelt hatte, als wäre er Luft für ihn.

Gottfried empfand diese öffentliche Demütigung tief; verärgert, innerlich kochend vor grimmer Wut trollte er sofort nach Hause. Am nächsten Morgen, schon in der Frühstückzeit, suchte er absichtlich mit Ibikus Händel, nannte den Mann der Deckung, der ihm vorsichtig auswich, laut schallend einen feigen Hund, und als sich nun der alte Kampfgenosse das doch empört verbat, – schlug er ihn mit der harten Faust ins Gesicht, warf ihn zu Boden und würgte ihn so rasend, als wollte er ihn am liebsten umbringen. Erst als der aufsichtführende Lehrer herzusprang und ihn sofort »in Strafe tat,« ließ er von seinem Gegner ab.

Damit war jede Spur von Freundschaft zwischen dem Totengräber- und dem Vorstehersohne getilgt; ein stiller Haß trat an die Stelle.

Seinem Ansehen hatte Gottfried damit notdürftig wieder aufgeholfen, das heißt, die ganze Klasse fürchtete ihn von neuem. Nur Matthes erklärte dem Freunde beim Nachhausegehen in gewohnter Ehrlichkeit:

»Du, dein plötzlicher Überfall auf Ibikus war eigentlich eine furchtbare Gemeinheit!«

Gottfried sah Matthes von oben bis unten an und fragte ihn dann drohend:

»Willst du vielleicht auch eine rein haben?« worauf Matthes sich sofort furchtlos in Kampfespositur setzte.

Gottfried wollte sich jedoch nicht auch den letzten Freund verscherzen. Er drehte kurz um und ging allein nach Hause, 167 nicht ohne in Gedanken dem dummen Matthes eigentlich recht zu geben. Es war gemeine Rachsucht gewesen, er schämte sich innerlich. Aber schließlich was tats? In vier Wochen gings ja doch nach Girdein.

Und dann – dann wollte er pfeifen auf die ganzen Dritten, auf Matthes und auf Ibikus erst recht.

 

Der Abreisetermin rückte näher und näher heran.

Schon war die Ausstattung Gottfrieds fertig gezeichnet und gewaschen, schon waren die zwei neuen Anzüge, – darunter ein von Großmutter geschenkter violetter Samtanzug – anprobiert und zurecht gelegt, schon hatte er sich bei einem flüchtigen Besuch in Tannewitz von den Karpnitzen, besonders von Wolf und Wichart, und auch von den russischen Rappen verabschiedet, aber noch immer war die Hauptentscheidung nicht gefallen. Endlich kam der letzte Schultag.

Zu Mittag versammelte sich die ganze Schule im Chorsale, und nach dem Gesange des Verses: »Der du mich in der Zeit gewollt, auf daß ich dir hier dienen sollt,« las Bruder Thierbach unter atemloser Spannung seiner Zuhörer die Namen der Versetzten.

Gottfried kam als Sechster von Vierzehn in die zweite Klasse. Er hatte kaum etwas Besseres gehofft, denn er wußte wohl, daß ein faules, halbes Jahr der letzten besseren Zeit voraufgegangen war und sich jetzt wie ein Bleigewicht an die Gesamtzensur hing. Eine besondere Befriedigung konnte er nicht unterdrücken, als er hörte, daß Ibikus sitzen geblieben war, während Matthes gerade noch als Dreizehnter mit hinüber in die neue Klasse hinkte.

»Na, versetzt bin ich nun jedenfalls,« sprach sich Gottfried aus, »alles übrige kann mir ja schnuppe sein.«

168 Aber es wurmte ihn doch gewaltig, als in der schwarzen Reihe – d. h. unter denjenigen, deren Betragen in dem vergangenen Jahre zu besonderen Klagen Veranlassung gegeben hatte – auch sein Name nebst denen des Matthes und des Ibikus genannt wurde.

Das war das erste Mal, seit er die Herrenfelder Schule besuchte, aber Gott sei Dank auch das letzte Mal. Am kommenden Montag ging es nach Girdein.

Und nun galt es Abschied zu nehmen, zunächst von der Schule, das ging schnell. Bruder Thierbach und die Lehrer gaben Gottfried noch einige Vermahnungen mit auf den Weg: er solle ehrlich bleiben wie bisher, dagegen seinen schlimmen Trotz bekämpfen. Die Kameraden wünschten ihm Glück, die meisten mit einem stillen Gefühl des Neides; große Rührung waltete nicht vor, nur dem gutmütigen Matthes, der sich nun vereinsamt vorkommen wollte, ging es wirklich nahe. Von Ibikus verabschiedete sich Gottfried überhaupt nicht; ein feindlicher Blick war das letzte, was die ehemaligen Freunde miteinander tauschten.

Dann kam der Abschied von den Bekannten, insbesondere von den sogenannten Konferenzgeschwistern. Zu ihnen gehörten die Unitätsbeamten und deren Frauen, – Gemeinhelfer, Vorsteher, Direktoren, die Brüderarbeiter und Schwesterarbeiterinnen. Dieser Kreis, der neben dem beschließenden Ältestenrat eine Art beratende Behörde bildete, war auch gesellschaftlich in den meisten Gemeinen eine besondere Gruppe. Bei ihren Mitgliedern hatte sich darum Gottfried nach Brauch und Herkommen zu verabschieden und tat im Sonntaganzug feierlich den Rundgang, seine erste gesellschaftliche Leistung, das erste Opfer vor den Götzen des guten Tons.

Natürlich wurde hierbei der kleine Vorsteher noch einmal gehörig kritisiert, besonders von den Schwestern, die ihn aber trotz seines schlechten Rufes für einen ganz manierlichen, kleinen Patron erklärten. Eine etwas süßliche und 169 tantenhafte Schwesterarbeiterin konnte es nicht unterlassen, ihm zum Abschied eine »Gemeinstunde zu halten,« oder wie man anderwärts sagt »auf der Seele zu knien;« da sie jedoch die Predigt mit einer Tafel Schokolade und einer Düte »Schwesternküsse« (Zuckerschaumbonbons) schloß, so war Gottfried mit dieser Art Abschiedsvisite schließlich ganz einverstanden.

Sehr herzlich war der Pastor, Bruder Friesen, der zwar auch nicht ganz ohne geistliche Ermahnung auskommen konnte, aber zugleich als alter und noch immer begeisterter Girdeiner dem Scheidenden das Herz mit so seliger Hoffnung auf die Zukunft erfüllte, daß Gottfrieds Sehnsucht, fortzukommen, noch mehr wuchs. Zugleich stellte ihm Bruder Friesen in Aussicht, daß zu Ostern vielleicht Matthes, der jetzt im Lateinischen leider zu schwach sei, nachkommen würde, worüber sich Gottfried von Herren freute. Mit einem väterlichen Kuß entließ ihn dann der Pastor und rief ihm noch in der Tür zu: »Vergiß nur deinen Heiland nicht, Gottfried!«

Von den Bürgern Herrenfelds verabschiedete sich der Vorstehersohn nicht, weil er, vielleicht mit Ausnahme des dem Vater unterstellten Ortspolizisten und des Nachtwächters, des Herrn seines geliebten Knurps, niemanden recht mochte. Seit seinen letzten Streichen galt er vielen Geschwistern als ein schwarzes Schaf, ein verlorener Sohn, über den man traurig oder ärgerlich den Kopf schüttelte, und Gottfried wußte das wohl. Viel gute Worte hätte er bei einer Abschiedstour jedenfalls nicht vernommen, daher unterließ er sie, obwohl die Mutter ihm nahelegte, wenigstens einige nachbarliche Häuser aufzusuchen. In älterer Zeit war es nämlich in der Gemeine Sitte gewesen, daß der Abreisende sich von Haus zu Haus verabschiedete, und so ward Gottfrieds Zurückhaltung einigen unzufriedenen Bürgern wieder ein erwünschter Anlaß, über die »verflixte Hochnäsigkeit« der ganzen Vorstehersippe heimlich zu schimpfen.

170 Einen sehr ausführlichen Abschied nahm Gottfried dafür von Großmutters Haus und seinen Bewohnern. Die alte Waschfrau im Parterre wischte sich erst die rosaroten Hände an der blauen Schürze ab, wischte sich weiter die Nase, dann noch einige Krokodilstränen aus den Augen, holte schließlich ein Stückchen feinste Glyzerinseife aus dem Schranke und repetierte unaufhörlich: »Winsch ock alles Gutte, junger Herr!« Fräulein Meyer, genannt Wehmeyer, weinte ebenfalls die üblichen Tränen der Rührung und schenkte auch die übliche Schokolade; während die Nachtwächtersleute nur Tränen, die lustige, bucklige Stine aber nur Schokolade für ihren »Goldsohn« hatte.

Auch Knurps schien das Trennungsweh tief mit zu empfinden, denn er sah recht kummervoll und triefäugig drein und reagierte nicht einmal auf einen mitgebrachten Wurstzipfel, der ihm den Abschied erleichtern und versüßen sollte.

Die Großmutter endlich, die ihrem Jungen doch die helle Freude, ins Neue, ins Ungekannte hinauszukommen, vom Gesichte las und sie als vernünftige Frau auch keineswegs stören wollte, schloß ihren schluchzenden Friedel nur noch einmal stürmisch in die Arme, küßte ihn lange und sagte leise, indem sie ihn mit ihren guten, grauen Augen fest ansah:

»Mach mir keine Schande, Junge, und vergiß deine alte Großmutter nie!«

Als Gottfried dann das stille Haus, das ungetrübte Paradies seiner Jugend, verlassen hatte, ging die alte Baslerin mit wankenden Knien in ihr Kämmerlein, betete mit heißer Inbrunst zu Gott dem Herrn, daß er ihren Liebling auf dem rechten Wege erhalten möge, und weinte bitterlich.

Die letzte Nacht im elterlichen Hause schlief Gottfried ebensowenig wie einst in der Nacht vor dem Fluchtversuch.

Noch einmal ließ er im Halbtraum die letzten zweieinhalb Jahre seines jungen Lebens an sich vorüberziehen und fand 171 sie trotz all der bunten, verlockenden Einzelbilder im ganzen nebensächlich, ja unbedeutend gegenüber dem, was ihm die Zukunft bieten sollte.

Die menschliche Seele sehnt sich in der Jugend stets vorwärts nach dem Alter und im Alter rückwärts nach der Jugend; sie vergleicht auch gern die Vorzüge anderer Existenzen mit den Nachteilen der eigenen. Aber gerade bei Gottfried Kämpfer war es weniger diese billige äußere als eine innere, wertvollere Unzufriedenheit, die sich vor allem mit dem bisher Geleisteten nicht begnügen mochte, ja teilweise sich dessen schämte. Er dachte dabei besonders an Großmutters Wort »mach mir keine Schande, Junge« und an des Vaters noch immer unvergessene Mahnung »Fang ein Neues an!« Und dann dachte er weiter daran, daß er der erste von der ganzen Klasse war, der nach Girdein kam. Andere konnten folgen, Matthes sollte schon zu Ostern nachkommen, da galt es wirklich, Ehre einzulegen und sich eine Stellung in Girdein zu schaffen, die den etwa folgenden Herrenfeldern imponieren konnte. Ein edler Ehrgeiz ließ ihn gute Vorsätze fassen.

Und endlich fiel ihm ein, was ihm Bruder Friesen gesagt hatte: »Vergiß auch deinen Heiland nicht!«

Gottfried war keine sonderlich religiöse Natur, aber die Gottesfurcht des Elternhauses, der Schule und der ganzen Gemeine war auch bei ihm nicht ohne Wirkung geblieben. Er sah wohl ein, daß er den Kampf der Zukunft ohne göttlichen Beistand schwerlich werde siegreich durchführen können, und so kniete er auch heute – als der Morgen graute – im Hemdchen vor seiner Bettstatt nieder und betete mit ehrlicher Ergriffenheit das gewohnte Vaterunser, an das er diesmal noch folgende Worte anschloß:

»Und segne meine Eltern und Geschwister, lieber Heiland, behüte die liebe Großmutter, und laß mich ein tüchtiger Kerl werden! Amen!«

172 Dann wusch er sich, schaute mit hellen, klaren Augen in den frischen Herbstmorgen hinaus und zog sich rasch an.

Die Mutter sollte ihn nach Girdein bringen, da der Vater augenblicklich mit Amtsgeschäften sehr überladen war.

Um ½7 Uhr fuhr der Gasthofswagen mit den wohlbekannten, rundlichen Braunen vor. Die ganze Familie, außer der Großmutter, war noch einmal zum Frühstück versammelt, bei dem der Vater zum Abschied einen besonders feierlichen Morgensegen sprach und auch Gottfried mit ins Gebet einschloß:

»Erhalte ihn, Herr, in der Gnade der heiligen Taufe und behüte ihn, daß seine Seele nicht Schaden nehme.« Das war der mit leiser Bewegung der sonst so kräftigen Stimme gesprochene Wunsch des Vorstehers für seinen ältesten Sohn. Henriette, der jetzt erst richtig klar zu werden schien, daß sie den eben gewonnenen Bruder wieder hergeben müsse, brach bei diesen Worten plötzlich in konvulsivisches Weinen aus, und auch Agnes und Guido schluchzten leise mit. Kurz darauf fuhren alle zusammen zum Bahnhof hinaus.

Mit fast männlichem Stolze stand Gottfried, das Ränzel der Großmutter wieder auf den Rücken geschnallt, im Wartesaal, während der Vater das Gepäck und die Mutter das Billet besorgte. Sein Herz war geschwellt vor Freude. Er konnte nicht weinen, denn solche Tränen wären unwahr gewesen. Der Abschied selbst schien nicht schlimm, zu Weihnachten durfte er vielleicht schon wieder kommen. Als die Eltern zurückkehrten, trug er ihnen noch einmal viele herzliche Grüße an Großmuttel auf; das war das letzte, woran er dachte, und was ihm das Herz vielleicht doch ein wenig schwer machte, daß er nun Großmutter solange nicht sehen sollte, und Großmutter war schon alt.

Da läutete die Glocke draußen, der Portier schnarrte bärbeißig zur Tür herein: »Einsteigen nach Königszelt, 173 Liegnitz, Lauban, Görlitz!« Und stampfend keuchte der Zug in den Bahnhof.

Noch ein letztes Händedrücken des Vaters und der kleinen Geschwister, ein heißer Kuß von Jettchens Lippen – ein Pfiff der ungeduldigen Lokomotive – ein Tücherwinken, und fort gings der unbekannten Zukunft entgegen.

Von Herrenfeld war zunächst nichts zu sehen, doch als der Zug langsam und vorsichtig um die scharfe Ecke beim Finkenbusch kurvte, da schaute das stille Friedensörtchen aus seiner lichtgrünen Lindenpracht noch einmal freundlich grüßend herüber. Über dem mächtigen, roten Kirchendache, das der kleine grüne Dachreiter zierte, stand die funkelnde Morgensonne und verklärte dem in die Ferne eilenden Knaben mit goldigem Scheine die traute Stätte seines ersten Jugendglücks, aus dem Erinnerung ihm später die Heimat zaubern sollte.

Die Mutter strich ihm zärtlich mit der Hand übers Haupt und sagte warm und beweglich: »Sieh Gottfried – noch einmal Herrenfeld!«

Gottfried wandte sich leise ab, die Mutter sollte nicht sehen, daß ihm jetzt doch die Augen feucht wurden, und um nicht weich zu werden, trat er ans andere Fenster und pfiff trotzig das alte Wanderlied:

Nun ade, du mein lieb Heimatland,
Lieb Heimatland, ade!

 


 


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