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Der Abschied von der Anstalt wurde Gottfried nicht ganz so leicht, wie er ihn sich gedacht hatte. Von den Kameraden zu scheiden, mochte noch angehen, zumal der liebste, Rodbeck, mit ihm übersiedelte in den weihevollen, großen, gelben Quaderbau, der das Pädagogium hieß.
Auch zwei andere gute Stubengenossen, Theodor Nitschmann, ein Predigersohn aus einer westlichen Gemeine, und Johannes Drechsler, wie Rodbeck ein Missionskind, zogen mit über den breiten Eschenhof, der Anstalt und Pädagogium trennte. Diese beiden, Nitschmann, ein stämmiger, untersetzter Knabe mit etwas krummen Beinen, und Drechsler, eine schmächtige, hochgeschossene Gestalt, waren trotz ihrer äußeren Ungleichheit ein fast unzertrennliches Freundespaar. Mit Spitznamen hießen sie Dachs und Drax, einige witzelnde Lehrer nannten sie wohl auch Schulze und Müller.
Von seinen Stubenlehrern schied Gottfried nicht ganz ungern, wenn auch mit gutem Gewissen. Der sehr gelehrte Theolog Bruder Reder hatte sich zu wenig, Bruder Mawaldt, der liturgische Missionsschüler, hatte sich vielleicht zu viel 313 um ihn gekümmert. Gottfried, der stets den Maßstab Bruder Lechners oder mindestens Bruder Schmiedeckes anlegte, hatten beide nicht besonders imponiert, schon weil sie beide in rebus gymnasticis nichts Hervorragendes leisteten, was bei einem Girdeiner Lehrer immerhin bedenklich erschien.
Sehr zu Herzen ging dem Scheidenden der Abschied von Bruder Loskiel. Der vielbeschäftigte Direktor hatte sich freilich nur selten mit Gottfried eingehender abgeben können; wenn es aber geschehen war, hatte es auf den Knaben stets stark gewirkt.
Bruder Loskiel war nächst Bruder Lechner die anziehendste, nächst Bruder Helmerding und dem eignen Vater auch die mächtigste Persönlichkeit gewesen, die in Gottfrieds junges Leben getreten war. Einen gewissen Trost fand er darin, daß Bruder Loskiel für ihn noch in erreichbarer Nähe blieb, doch schon nach 1½ Jahren ward er als Erziehungsautorität in die Oberbehörde berufen.
Am schwersten fiel Gottfried der Abschied vom Girdeiner Regiment, denn dieses durfte nur aus Anstaltzöglingen bestehen. Als ihn die Trommel zum letzten Ausmarsch rief, als er vortreten mußte, um den ehrenvollen Abschied als Hauptmann zu erhalten, als er dann zum letzten Male die geliebte erste Kompagnie heimführte, da quoll es ihm würgend die Kehle herauf. Ein dumpfes, unsagbares Weh umnebelte ihm für Sekunden die Sinne, er hätte weinen, gell aufschluchzen mögen – aber pfui Teufel, ein Soldat weint nicht, am wenigsten ein Offizier des Girdeiner Regiments. Und mit fester, markiger Stimme gab er die letzten Kommandos: »Bataillon halt, Gewehr ab – weggetreten!« Dann steckte er mit abgewandtem Antlitz den Degen in die Scheide. Die Kameraden sollten nicht sehen, daß ihm die Augen trotz aller Mannhaftigkeit feucht wurden.
Um 10 Uhr vormittags kam Bruder Loskiel auf die Stube, um die vier Ersten, Rodbeck, Nitschmann, Kämpfer 314 und Drechsler, zur Überführung ins Pädagogium abzuholen.
Von der zweiten Stube kam ein alter Bekannter dazu, Zehwen, der zwar ein sehr begabter Schüler war, jedoch wegen verschiedener Streiche nicht auf die erste Stube hatte kommen können. Wie es schien, war er darob durchaus nicht klein geworden.
Noch ein anderer Zweiter kam schließlich hinzu, Klaus Meier, der etwas zarte Sohn eines badischen Landgeistlichen, darum und wegen seiner langen Locken mit Spitznamen der Lodenpastor genannt. Es sollte ein lieber, lustiger Kerl sein. Gottfried und den Ersten war er ziemlich unbekannt.
Unter Vorantritt Bruder Loskiels schritten nun die sechs Knaben erwartungsvoll dem neuen Heim zu.
Am hinteren Pädogogiumtor empfing sie der neue Direktor Heinrich Christian Nielsen, vom Volksmunde Girdeins nur der große H. C. genannt, angeblich der gelehrteste, zerstreuteste und gutmütigste Mann von Girdein, sicherlich der gewaltigste und geistvollste Redner nächst Bruder Helmerding.
Bruder Loskiel gab seinem Kollegen die Hand und meinte scherzend: »So, hier bring ich dir die Rekruten.«
Lachend erwiderte H. C.: »Na, ein quantitativ etwas schwacher Jahrgang, dafür hoffentlich qualitativ um so ausgiebiger.«
Dann ließ sich Bruder Nielsen die sechs neuen Zöglinge vorstellen und gab jedem einzelnen, ihn langsam betrachtend, die Hand, indem er leise sagte: »Herzlich willkommen!«
Freundlich verabschiedete sich Bruder Loskiel mit dem lustigen Zuruf: »Adieu Jungens, haltet die Ohren steif und kriegt mir kein Heimweh.«
Alles lachte, auch Bruder Nielsen, dann schritt dieser mit seinen neuen Pädagogisten die Treppe hinauf zur vierten Stube, der Wohnung der Obertertianer.
315 Gespannt traten die Sechs ein in den hohen, etwas kahlen Raum, an dessen düstren Wänden einige Ölbilder und Kreidezeichnungen antiken Stoffes, Werke früherer Pädagogisten, schief und wie verloren hingen. An dem schmucklosen Katheder, das im Hintergrunde des tiefen Zimmers stand, lehnte eine schlanke, etwas fremdländisch anmutende Knabengestalt, die sich beim Eintritt Bruder Nielsens sofort stramm aufrichtete und den neuen Kameraden zuvorkommend entgegentrat.
»Das ist«, sagte H. C. fast kameradschaftlich, »unser lieber Edward Taylor aus Fulneck, der vor einem halben Jahre bei uns eintrat und nun zu eurer Kolonne übertritt. Er kennt bereits aus einiger Erfahrung das Leben in diesem Hause und wird euch ein zuverlässiger Senior sein, dem ihr volles Vertrauen entgegenbringen dürfte
»O ich denke ja,« sagte Taylor mit merkwürdiger Selbstsicherheit und schüttelte den Kolonnengenossen so kräftig die Hand, daß Zehwen beinahe quietschte und erschrocken die Hand zurückriß. Taylor sah ihn darob sehr erstaunt, fast spöttisch an.
Nun erschienen auch der Stubenlehrer und der Aufseher zur Begrüßung. Das Verhältnis zu diesen Vorgesetzten war im Pädagogium ein wenig anders als in der Anstalt.
Der Theolog, in diesem Falle Bruder Reicher, war zugleich der Ordinarius der Obertertia und der persönliche Berater seiner Schüler, die mit ihm einen freieren, mehr geselligen, ja in den oberen Klassen fast kameradschaftlichen Verkehr pflegen durften. Er wurde von ihnen zum Spazierengehen abgeholt, oder er kam abends, besonders im Winter, zur gemütlichen Unterhaltung zu ihnen, und da schwatzte man zusammen, behaglich um den meist sehr strapazierten Ofen geschart, bis zur Arbeitzeit, die der Senior zu beaufsichtigen, der Aufseher nur gelegentlich zu revidieren hatte.
316 Dem Senior unbedingt zu gehorchen, war traditionelle Ehrensache im Pädagogium, wie überhaupt ein allmählich sich steigerndes Vertrauen die Pädagogisten von Klasse zu Klasse zur Selbständigkeit auf Grund des Ehrgefühls zu erziehen suchte. Strafen waren im Pädagogium nicht mehr üblich, im Notfalle griff höchstens der Direktor ein durch öffentlichen Verweis oder gar zeitweiligen Ausschluß schlechter Elemente.
Der Aufseher, der bei den höheren Klassen ganz wegfiel, war hier nicht mehr ein dem Theologen ebenbürtiger Stubenlehrer wie in der Anstalt, sondern nur ein Vorgesetzter zweiten Grades. Er hatte den Knaben in allerlei äußerlichen Dingen an die Hand zu gehen, auf Ordnung und Sauberkeit zu achten. Gerade für diese Mittel und Vermittelungsstellung bedurfte es sehr taktvoller Persönlichkeiten, und solche waren leider unter den Missionschülern, die nebenbei solche Posten bekleideten, ziemlich selten zu finden. Anstatt klug zurückzutreten und sich nur an den Senior oder im Notfalle an den eigentlichen Stubenlehrer zu halten, drängten sich manche dieser halbgebildeten Pädagogen, dem berufenen Erzieher, dem Stubenlehrer gegenüber, eifersüchtig und taktlos in den Vordergrund und verdarben oft mehr, als sie nutzten.
Leider war der Aufseher der Vierten von diesem Schlage, unglücklicherweise war er überdies ein Tscheche, der für deutsche Knabengemüter gar kein Verständnis mitbrachte. Der gewiß sehr kluge Bruder Nielsen war eben kein solcher Menschenkenner wie der praktischer veranlagte Bruder Loskiel, der einen Rassowsky, so hieß der Unglücksmensch von Aufseher, sicherlich nie zum Vorgesetzten gewählt hätte. Bei den Pädagogisten hieß der grobknochige Böhmake »Räsonniersky«, oder auch »Schimpfsky«. Die neue Kolonne gab ihm jedoch bald einen Sonderspitznamen, nämlich »Choas«, weil er bei seinen polternden Ordnungsreden 317 mehrfach vom Choas statt vom Chaos zu sprechen pflegte. Aus ganz anderem Holze schien Bruder Reicher geschnitzt zu sein. Er gehörte einer sehr alten, hochverdienten Gemeinfamilie an, die, seit ihrer Auswanderung aus Mähren unter dem tapferen Christian David, der Brüderkirche schon eine stolze Reihe tüchtiger Männer geschenkt hatte. Im Dienste der Gemeine ließen sich keine Schätze sammeln, die Motten und Rost fressen, und so waren die Reichers im Gegensatz zu ihrem Namen stets arm geblieben an irdischen Gütern. Der Reichtum ihrer geistigen und charakterlichen Vorzüge war dagegen sprichwörtlich in der Gemeine geworden. Was der arme, aber so unendlich tüchtige Militäradel für die Krone Preußens – das waren Familien wie die der Reichers, Loskiels, Schordans, Lechners und Nitschmanns für die Brüderunität.
Der Ordinarius der Obertertia war ein echter Reicher. Über die meist etwas kürzen Hosen und die ein wenig glänzenden Ärmel seines Wochenanzugs sah man weg, sobald man ihn sprechen hörte. Dann bekam das unscheinbare, auch wohl ein wenig ungelenke, schmächtige Männchen etwas so Anziehendes, ja geradezu Faszinierendes, daß man nichts mehr sah als seine ehrlichen, herzgewinnenden Augen, die recht klug durch eine goldene Brille, ein kostbares Erbstück vom alten Bischof Christoph Reicher, schauen konnten. Daß dieses schlichte Schulmeisterlein so ganz beiläufig neben seinen 24 Schulstunden, seinem Schuldienst und seinen gelegentlichen Predigten eines der gründlichsten Bücher über die wissenschaftliche Vogelkunde geschrieben hatte, das sah man ihm auch freilich dann noch nicht an, – und schon gar nicht, daß er ehedem als tollkühner Student die bis dahin unbezwungene Gerlsdorfer Spitze in den Karpathen erstiegen hatte. Unter anderen Verhältnissen wäre dieser Mann vielleicht ein berühmter Naturforscher geworden, so aber war er nur ein armes, unberühmtes 318 Brüdergemein-Schulmeisterlein – aber er war es ganz, und das war das Große an dem kleinen, unscheinbaren Mann.
All das ahnte keiner von den sechs Neuen, obwohl sie sich ihre beiden Vorgesetzten mit recht kritischen Blicken ansahen. Manch einer, besonders Gottfried, dachte sogar im stillen: Mir gefallen sie eigentlich beide nicht; der eine sieht zu ungeschlacht, der andere zu dürftig aus. Das Urteil sollte sich sehr bald ändern.
Jetzt trat Bruder Nielsen vor, räusperte sich ein wenig und hielt eine kleine Eintrittrede:
»Meine lieben jungen Freunde! Es ist ein historischer Augenblick, den ihr soeben durchlebt. Aus verschiedenen Heimatländern, aus verschiedenen Familien und verschiedenen Kameradenkreisen seid ihr hergekommen, um euch heute hier zu einem neuen Gesellschaftskreis zusammenzuschließen, zu einer sogenannten Kolonne. Kolonnen heißen die Klassenkameradschaften unseres Hauses seit über hundert Jahren; die Zahl des Eintrittjahres gilt als ihr Rufname. Kolonne 80 wird euer Name sein, möge er ein Ehrenname in der Geschichte des Pädagogiums, ein gewichtiger Name sein in der Geschichte unserer Gemeine, der ihr hoffentlich zumeist dienen wollt. Die Stubengesellschaften der Anstalten waren etwas Vorübergehendes, die Kolonnen des Pädagogiums sind etwas Dauerndes, etwas Historisches. Was der einzelne von euch bisher leistete oder nicht leistete, war letztlich seine eigene Sache; was er von nun an Gutes oder Schlechtes tut, geht aufs Konto der ganzen Kolonne. Merkt euch das! Laßt es euch darum Ehrensache sein, den Ruf eurer Kolonne wert, ihren Schild fleckenlos, ja glänzend zu halten. Und nun vorwärts mit Gott, Kolonne 80!«
Wuchtig erklangen die Worte des Direktors, dann schritt er gemessen davon.
Durch die jungen Herzen zuckte etwas von germanischer 319 Heldenlust, und wohl ein jeder, auch der ruhige Taylor nicht ausgenommen, schwor sich einen heimlichen Fahneneid, treu zur Kolonne 80 zu stehen und ihre Ehre heilig zu halten.
Dann räumte man die Sachen aus der Anstalt herüber.
Der peinlich gerechte Taylor, ein geborener Senior, verloste die Plätze und Schränke. Gottfried kam neben Klaus Meier und gegenüber von Zehwen zu sitzen. Rodbeck wäre ihm lieber gewesen als diese ehemaligen »Zweiten«, aber – das Alte war vorbei! Auch diese eben noch ein wenig über die Achseln angesehenen »Zweiten« waren ja jetzt – ebenbürtige Kolonnengenossen.
Bis Mittag war der große Umzug erledigt.
Bei Tische ward im Pädagogium ebenfalls vorgelesen wie in der Anstalt, aber die Herren Primaner lasen freilich besser als die Ersten der Anstalt. Man merkte sofort: in diesem Hause behandelte man das Vorlesen als Kunst. Sehr imponierte Gottfried, daß die Pädagogiumvorleser nicht auf Kommando aufhören mußten, sondern freiwillig schlossen, wenn es ihnen gut dünkte.
Gottfried wollte es überhaupt scheinen, als seien die Primaner die eigentlichen Herren im Pädagogium und gar nicht die Lehrer. Die Primaner leiteten das gemeinsame Spiel des Pädagogiums. Stuben 4 und 3 mußten teilnehmen, 2 und 1 war die Teilnahme freigestellt, aber Ehrensache. Die Primaner waren Vorturner, sie bestimmten die Tage für die allgemeinen Spaziergänge, sie arrangierten Sommerfest und Schattentheater, die wichtigsten Vorgänge des ganzen Jahres, auch die eine griechische Tragödie, die nur aller fünf Jahre einmal aufgeführt wurde, hatten sie darzustellen. Endlich waren die olympischen Primaner die Zensoren des 320 Hauses. Sie erteilten nämlich bald dem einzelnen, der die Würde des Hauses oder des gemeinsamen Spiels verletzt hatte, oder gar einer ganzen Kolonne, d. h. in Vertretung deren Senior, Rügen, die im traditionellen Hausjargon »Anschüsse« hießen.
Unwillkürlich fragte sich Gottfried verwundert, warum die Primaner, die doch so viel zu sagen hatten, nicht auch gleich an die Stelle der ziemlich autoritätlosen Aufseher traten? Noch oft genug ward dieser Gedanke bei Gottfried im Laufe der Jahre lebendig, bis er selbst Primaner war. Dann wies er ihn still lächelnd von sich.
Nach dem Essen kam Bruder Reicher auf die Stube und fragte, ob jemand Lust habe, sich ein Buch aus der Bibliothek zu leihen. Dachs und Drax hatten keine Lust; die anderen Fünf wanderten durch eine lange, lichte Galerie, in der die besten Gemälde und Zeichnungen früherer Schüler hingen, der Bibliothek zu, die zwei große Zimmer mit je zwei Stockwerken umfaßte und wohl eine der reichsten im ganzen Lausitzer Lande war. Mit ehrfürchtigem Staunen starrte Gottfried die mächtigen Regale an, von denen Unmengen bunter und goldiger Rücken verlockend herunter leuchteten.
»Hier möchte ich Bibliothekar sein!« Sehnsüchtig kam es von seinen Lippen.
Lachend erwiderte Bruder Reicher: »Na warte, da kannst du mir manchmal helfen beim Einstellen, Sortieren und Zetteleinkleben.«
Gottfried strahlte vor Freude ob dieser herrlichen Aussicht, und in der Tat kannte er in wenigen Jahren die Bibliothek so genau, daß er fast jedes Buch auch ohne Katalog nach der Einteilung holen und einstellen konnte.
Das erste Buch, das ihm Bruder Reicher als Lektüre empfahl, – da er um etwas Historisches gebeten hatte, – waren Gustav Freytags »Bilder aus der deutschen 321 Vergangenheit«. Die sieben Bände, die er sich nach und nach holte, verschlang er geradezu. Seit dem Parzival hatte ihn nichts wieder so gefesselt, obwohl er doch, besonders in den Osterferien, viel gelesen hatte. Von da an fehlte Gottfried kaum einen Sonnabend – das war hier wie in der Anstalt der offizielle Ausgabetag – in der herrlichen alten Bibliothek.
Am Nachmittag durfte, – obwohl es Freitag war, – Kaffee gekocht werden. Dieses köstliche neue Vorrecht galt sonst nur für die freien Nachmittage, aber der Eintritttag galt noch als Ferientag, und morgen war gar »Tabellensonnabend«. So hieß nach alter Überlieferung der allmonatliche, ganz freie Sonnabend, der insbesondere für Privatlektüre, Spiel, Turnen. größere Spaziergänge bestimmt war. Für morgen stand die berühmte Fahnenbarre auf dem Programm, die alljährlich nur zweimal gespielt ward, nämlich im Frühjahr nach dem Ostereintritt und im Herbst an Bruder Nielsens Geburtstag.
Das Kaffeekochen frühmorgens wie nachmittags besorgte man selbst, ebenso das Teeaufgießen zum Vorleseabend, der ein wichtiges neues Privileg bildete. Zumeist übernahm jedoch der Wochendiener die ganze Kocherei im Generalauftrag.
Wochendiener zu sein – das Amt ging wochenweise reihum – war übrigens im Pädagogium eine weit verantwortungsvollere und mühsamere Sache als in der Anstalt. Selbständigkeit des Geistes und Charakters kann nur gefordert werden, wenn man sich auch in den Kleinigkeiten des praktischen Lehens zu helfen weiß. Der Wochendiener hatte darum nicht nur zu kochen, Brot und Butter aus dem Proviantamt zu holen, das Geschirr aus der und in die Küche zu tragen, er hatte auch das Waschwasser für die neben jeder Stube liegende Wasch- und Kleiderkammer mit starkem Arm heraufzuschleppen, hatte im Sommer beizeiten für Lüftung, im Winter für Feuerung zu sorgen und 322 dazu noch vor ½6 Uhr, der üblichen Aufstehzeit, aufzustehen, hatte endlich die Verantwortung für die äußere Sauberkeit der Stube, soweit diese nicht Sache der Dienstboten war.
Manchem verwöhnten Muttersöhnchen, z. B. Lodenpastor, ging das alles anfangs schwer ein; aber da der alte Wochendiener den neuen immer noch eine Woche zu unterstützen hatte, so richtete sich schließlich jeder ein. Außerdem gab es immer passionierte Frühaufsteher, wie z. B. Rodbeck und Taylor, die dem Wochendiener das Feuermachen gern abnahmen, und noch weniger mangelte es in dem turnfröhlichen Hause an Kraftmeiern, wie z. B. Nitschmann und Kämpfer, die rein aus athletischer Lust schwere Wasserkannen im Sturmschritt die beiden Steintreppen hinauftrugen. Sich gegenseitig zu helfen galt für eine ganz selbstverständliche Pflicht im Pädagogium; wozu war man denn eine Kolonne! Und gab es gar einmal besondere Drückeberger, wie z. B. Zehwen, nun, so griff eben der Senior mit seiner Autorität nachhelfend ein oder ging wie Taylor mit gutem Beispiel solange voran, bis der widerhaarige Kolonnengenosse beschämt nachgab, um sich nicht etwa ganz unmöglich zu machen.
Zum Nachmittagkaffee durfte man sich beim Bäcker, (auf 4 noch durch den Wochendiener, auf 3 dann selbständig) Semmeln oder Sechserstücke kaufen; Kuchen dagegen war nur Sonntags gestattet. Eine spartanische Einfachheit sollte der Grundzug des Pädagogiums bleiben, daraufhin waren all seine kleinen, scheinbar lächerlichen und doch im Grunde überaus wichtigen Gesetze und Gesetzchen zugeschnitten. Diese Hausordnung stand freilich nirgends geschrieben, aber durch das Kolonnensystem wurde sie in einer peinlich sauberen Überlieferung erhalten, auch wenn die Primaner, als ihre Hüter im ganzen, und die Senioren, als ihre verantwortlichen Vertreter im einzelnen, nicht ausdrücklich aufgetreten wären.
323 Eine Kolonne paßte der andern schon genügend scharf auf den Dienst, und nichts prägte sich schneller ein als die Stubenvorrechte, die bei schlimmen Vergehen wohl auch zeitweise einer Kolonne durch den Direktor genommen werden konnten. Dazu kam es jedoch fast nie, der Korpsgeist war viel zu gesund, die Kolonnendisziplin viel zu stramm, das Ehrgefühl des einzelnen viel zu empfindlich. Lief wirklich einmal ein räudig Schaf mit unter, so wurde es kurzerhand, ja rücksichtlos ausgestoßen. In der Anstalt, bei den Kindern, übte man wohl Nachsicht; im Pädagogium, bei einer schon nach Möglichkeit gesichteten Schar halb Erwachsener, lag dazu kein Grund mehr vor. –
Mit stolzem Behagen schlürfte Gottfried zum ersten Male als Pädagogist seinen Kaffee und verzehrte sein bescheidenes Sechserstück dazu mit einem Appetit, als habe er seit langem nichts zu essen bekommen.
Dabei arrangierte er seinen neuen Pultschmuck, d. h. er stellte allerlei ästhetisch anregende Dinge auf die schmale, ebene Fläche, die oberhalb des schrägen Pultdeckels vorhanden war und ursprünglich wohl nur für Feder und Tinte gemeint war. Schon als Anstalt-Erster hatte er ein Pult besessen, aber außer dem Tintenfaß hatte nur eine schlichte Photographie von Herrenfeld in einem meist verstaubten Moraständer darauf gestanden. Gestern zum Umzug hatte sich Gottfried, – merkwürdiger Weise im Eisenladen, – für je 60 Pfennige die Miniaturbüsten von Apollo und Diana aus Gips erstanden, der freilich die Gottheiten nur bescheiden andeutete. Neben dem antiken mußte aber auch das nationale Element auf dem Pultrande würdig zur Geltung kommen, das empfand Gottfried unwillkürlich; und so hatte er sich schnell – diesmal beim kunstverständigen Ortsbuchbinder – noch ein paar Terrakottabüsten von Bismarck und Moltke gekauft, die sich allerdings zwischen den griechischen Gipsgöttern etwas deplaziert vorzukommen schienen, obwohl sie gar nur 324 50 Reichspfennige gekostet hatten. Zur Vermittlung von Antike und Moderne stellte Gottfried darum einen Löscher und das Tintenfaß dazwischen. Nun war der schroffe Übergang vermieden.
Als Prachtstück der Pultgalerie kam endlich in die Mitte eine Photographie der Danneckerschen Schillerbüste, im neugeputzten Morarahmen des zur Reserve entlassenen Heimatbildes. Von Schiller hatte Gottfried allerdings noch keine rechte Vorstellung, abgesehen von einigen Schulballaden. Er hatte darum auch eine Zeitlang zwischen Goethe und Schiller geschwankt, dann aber sich für Schiller entschieden, weil dessen lange Locken ihm so gut gefielen. Übrigens hatte ihm auch Bruder Mawaldt einmal gesagt, daß Goethe ein sehr sündiger Dichter gewesen sei. Darüber wollte er später mit Bruder Reicher sprechen, der wußte da jedenfalls besser Bescheid als Bruder Mawaldt, dem man in dieser Sache wohl nicht ganz trauen konnte.
Um 4 Uhr gingen die Vierten mit Bruder Rassowsky nach Montravail. Für gewöhnlich ward nachmittags und abends Fußball oder Barre gespielt, doch pflegte die Spielsaison erst mit der großen Fahnenbarre eröffnet zu werden. Außerdem gab es in Montravail heute eine lustige Arbeit zu besorgen, nämlich die Kartoffeln waren zu legen, wie der erfahrene Taylor mitteilte, der schon eine Ernte im vergangenen Herbst mitgemacht hatte.
Montravail war gewaltig groß. Das Gebiet der Vierten allein war bereits umfangreicher als ganz Nowgorod; noch größer wiederum war das Gebiet der Dritten und gar das der Zweiten. Die Primaner, die umher spazieren durften, wo sie wollten, hatten infolgedessen keinen Parkanteil mehr.
Gottfried war begeistert von dem neuen Reich, in dem auch eine stolze Burg lag, auf einem mächtigen Berg, genannt der Ararat. Der Geräteschuppen war, dem ästhetischen Gepräge des Pädagogiumgeistes entsprechend, als gotisches 325 Waldkirchlein gebaut, während der Schuppen der Zweiten ein trotziger, mit Zinnen und Söller geschmückter Turm war.
In Kartoffelsachen war Bruder Rassowsky merkwürdig beschlagen. »Es erweckt fast den Anschein, als habe sein Vater daheim im schönen Böhmerlande stets die größten Kartoffeln gehabt,« meinte Zehwen etwas ironisch. Jedenfalls kam die Aussaat gut hinein, und man durfte einer reichen Ernte mit froher Erwartung entgegensehen.
Am nächsten Morgen um 10 Uhr sollte die große Fahnenbarre beginnen, der Gottfried mit starker Spannung entgegensah.
Die Dritten hatten das Vorrecht, laut Zeichnungsliste die Parteien öffentlich zu wählen, standen dabei jedoch unter der Kontrolle der Primaner, die das Spiel leiteten. Die Lehrer wurden als Gäste behandelt, spielten aber gern und oft mit, auch die meist für ein wenig bequem geltenden Supernumerare und der Mitdirektor kamen von Zeit zu Zeit. Bei besonders feierlichen Gelegenheiten, wie z. B. bei der heutigen, erschien sogar der Direktor Bruder H. C. Nielsen, um trotz seiner 51 Jahre wacker seinen Mann zu stellen.
Charakteristisch für den gesundrepublikanischen Geist des Pädagogiums war es nun, daß man weder H. C. noch die Lehrer nach ihrer Stellung wählte, sondern sie ruhig und unbefangen nach ihrer Leistung taxierte: so wurde z. B. der Direktor erst an siebenter Stelle gewählt, an erster dagegen Bruder Schordan, der rüstige Leiter des Turnwesens, nach ihm kamen Zembsch und Hannemann, die beiden Primavorturner. Von Kolonne 80 kamen Taylor und Nitschmann zuerst an die Reihe, dann Gottfried Kämpfer, als letzter unter allgemeiner Heiterkeit Lodenpastorchen, der darob tief errötete.
Gottfried ärgerte sich, daß der stämmige Nitschmann, 326 genannt Dachs, ihm in der öffentlichen Meinung der Dritten den Rang abgelaufen hatte, und nahm sich heimlich vor, den lieben Kolonnengenossen heute ganz besonders aufs Korn zu nehmen.
Die Parteien verteilten sich in ihre Lager, die Fahnen wurden davor aufgepflanzt, und das Spiel begann wie der gewohnte deutsche Barrlauf mit dem üblichen Geplänkel, das nach altgermanischer Sitte von lustigen Herausforderungen begleitet ward. Auch an die Helden der homerischen Ilias ward man bei der Einleitung des Spielkampfes mitunter erinnert. Freilich auf diesem Kampfplatze entschied nicht die Kraft, sondern die Schnelligkeit und Geschicklichkeit.
Eine vornehm gerechte Spielregel gab auch dem Schwächsten Gelegenheit, Tüchtiges zu leisten. Wer zuletzt das Lager verlassen hatte, konnte als der»Frischeste« alle »Älteren« wegfangen. Rückkehr zum Lager machte jedoch schnell von neuem »frisch«.
Eben schlug der erste Blitz ein. Ein wagehalsiger Dritter ward von Zembsch weggefangen. Die Gefangenen mußten drei Sprung vor dem Lager ihrer Gegner Stellung nehmen und warten, bis ein mutiger Freund sie durch Handschlag erlöste. Gefangene wie Fahnen zu schützen war besondere Aufgabe der unteren Stuben. In stetem Wechsel lösten sich die Posten jetzt in Gottfrieds Lager ab – vergebens – in prachtvollen Bogen brach Bruder Schordan plötzlich durch die Vorpostenkette, fegte wie ein Sturmwind hinter dem schützenden Wärter – es war Zehwen – vorbei und erlöste den Gefangenen, der ihm jubelnd die Hand weit entgegenstreckte. Eine kurze Pause trat ein, der Erlöste und sein Erlöser hatten freien Abzug. Dann stürzte sich alles von neuem in den Kampf.
Unterdessen erhielt Zehwen einen Verweis von einem neben ihm stehenden, ziemlich geschwätzigen Unterprimaner, namens Körting, der sich mit Vorliebe mehr theoretisch als praktisch am Spiel beteiligte.
327 Noch während er sprach, sauste der gefürchtete Hannemann dicht an der Fahne vorüber. Alles erschrak, doch an Taylors Ruhe scheiterte der Angriff, ja um ein Haar wäre Hannemann von dem Schotten gefangen worden, ein tollkühner Bogen rettete den Primaner mit knapper Not.
»Bravo Taylor!« rief Zembsch ihm zu. Das war die größte Ehre, die einem Vierten widerfahren konnte. Zugleich aber meinte Zembsch recht vernehmlich zu Körting:
»Bitte Körting, mach mir die neuen Vierten nicht kopfscheu durch deine Pauken, sondern paß lieber selber mit bei der Fahne auf. Du warst eben der einzige Primaner im Lager und hättest Hannemann nach dem Bogen ganz gut abschneiden können.«
Körting ward dunkelrot, sagte jedoch nichts, sondern ging nur langsam an die andere Ecke des Lagers und spielte bald angestrengt mit. Wieder wurden Gefangene gemacht, hüben wie drüben. Nun setzte die Spannung ein, die Leidenschaften erwachten, die Spieler wurden immer vorsichtiger, die Reden verstummten, und bald hörte man kaum noch ein anderes Wort als die kurzen Kommandos der Parteileiter.
Immer ernster und aufregender ward das Spiel. Gottfrieds Partei kam langsam ins Hintertreffen, schon den zweiten Gefangenen hatte sie eingebüßt, noch einer – und ein Spiel war verloren. Zembsch ermahnte darum zur äußersten Vorsicht. Da kam Gottfried ein heldenhafter Gedanke. Wenn er jetzt plötzlich vorbräche und die Gefangenen erlöste! Wie oft hatte er das in der Anstalt fertig gebracht. Nur einen guten Genossen zur Deckung brauchte er, vielleicht Taylor. Er fragte ihn, doch dieser meinte trocken: »Du bist doch Fahnenwache, da darfst du gar nicht vor!«
Der Grund war stichhaltig, und doch plagte Gottfried der Ehrgeiz ununterbrochen. Ob er versuchen sollte, die feindliche Fahne zu erobern? Das wäre etwas! Da würde er sicherlich nächstes Mal vor Dachs gewählt werden, 328 vielleicht gar vor Taylor. Gottfried ward trunken von dieser Aussicht. Dabei spähte er sehnsüchtig nach einer Gelegenheit zum Vorstoß, bis ihn ein derbes Kommando: »Kämpfer, Achtung, Fahne!« unsanft aus seinen Träumen riß. Taylor wars, der nicht mehr »frisch« genug war, um den heranstürmenden Bruder Schordan abzuwehren.
Wie von der Tarantel gestochen, fährt Gottfried auf und stürzt vor, gerade noch zu rechter Zeit. Die Fahne bleibt unberührt. Hurra! Im kunstvollen Zickzacklauf schlägt sich Bruder Schordan gewandt durch die Reihen der Gegner zurück, die Aufmerksamkeit aller folgt ihm. Das ist der gegebene Augenblick, zuckt es Gottfried durchs Hirn!
»Neuer,« brüllt er entschlossen.
Rodbeck löst ihn ab, und nun stürmt der tollkühne Wagehals davon, spornstreichs – auf die Gefangenen los, die sofort ihre Hände hoffnungsvoll nach Befreiung ausstrecken, sobald sich ein Freund heranwagt. Durch ein paar kecke Bogen kommt Kämpfer wirklich nahe an sie heran, dann aber – zwei Schritt vor den Ersehnten – schnappt ihn Hannemann mühelos und lächelnd weg, ungefähr wie der Sperber ein Spätzlein abtut.
»Gewonnen!« jubeln die Gegner auf, und totenbleich steht Gottfried mitten unter den Siegern. Er möchte vor Scham in den Boden sinken, er hat durch seinen Leichtsinn seiner Partei ein Spiel gekostet.
Die Lager müssen laut Spielregel gewechselt werden, Sieger und Besiegte schreiten neckend aneinander vorbei. Einige Dritte sehen Gottfried halb neugierig, halb schadenfroh an, übermütig grüßt ihn Dachs, der Rivale.
Als letzter betritt Zembsch das neue Lager. Jetzt gibts ein Donnerwetter, denkt Gottfried. Und allerdings, der Oberprimaner kommt auf ihn zu und fragt scheinbar streng: Kämpfer heißt du, nicht wahr?«
»Ja,« klingt es trotzig zurück.
329 »Du bist wohl recht frischbacken, mein Lieber, weißt noch nicht mal, daß du als Fahnenwächter nicht vorzustoßen hast. Na, scheinst ein verwegener Bursche zu sein. Ist ganz schön, nur bitte, nicht gerade bei der Fahnenbarre, sonst verlieren wir noch ein Spiel.«
Bei diesen Worten klopft der große Oberprimaner und erste Vorturner dem kleinen Vierten freundschaftlich auf die Schulter, als wären sie stets die besten Freunde gewesen.
Nun schämt sich der Herrenfelder Vorstehersohn erst recht und stammelt ganz zerknirscht: »Es tut mir sehr leid, es war riesig dumm von mir.«
»Na, na«, meint Zembsch begütigend, »Dummheiten sind ja eigentlich dazu da, um gemacht zu werden, aber eben nicht gerade heute!«
Damit war die Unterhaltung beendet, und Gottfried konzentrierte seinen Ehrgeiz nur noch auf die Fahnen- und Gefangenenwache. Er paßte beim weiteren Spiel auf wie ein Heftelmacher, und es gelang ihm schließlich, seinen ungestümen Aufseher, Bruder Rassowsky, der plötzlich unter allgemeinem Hallo wie ein Berserker auf die Fahne losgestürzt kam, wegzufangen.
Während der Böhme schwerfällig und ärgerlich zum Gefangenenstand trottete und neben seinem Mitgefangenen Stellung nahm, mußte Gottfried sich nach der Spielregel ins gegnerische Lager begeben und dort irgend jemand zum Wettlauf herausrufen. Sofort stand es ihm fest, daß er Nitschmann, den Dachs, herausfordern müsse. Dieser erwartete die Ehre auch schon und drängte sich begierig herzu. Das war gefährlich – aber was halfs? Gottfried glaubte es seiner Ehre geradezu schuldig zu sein, hier vor aller Welt zu zeigen, daß er im Spiel mehr wert sei als Nitschmann. Der entscheidende Ruf ertönte, und pfeilschnell schossen die Läufer dahin, auch Dachs glühte vor Ehrgeiz: er wollte, er mußte den Vorstehersohn schlagen. Aber dieser 330 lief heute wie von Furien gehetzt. Der Zwischenraum wurde eher größer statt kleiner; noch einmal alle Kräfte daran, vorwärts – da schlug ihn jemand. Der Direktor selbst hatte ihn zum Gefangenen gemacht. Und Dachs war der dritte! Die Revanche war da – Gottfrieds Partei hatte gesiegt.
Gottfried glühte vor Stolz – zumal da ihn jetzt H. C. selber anredete: »Bravo, den hast du mir schön ins Netz geliefert!«
Nun war die Scharte von vorhin wenigstens ausgewetzt, und Dachs war besiegt.
In der Tat ward von jetzt ab Kämpfer stets vor Nitschmann gewählt. Dafür schlug der stämmige Rivale den Vorstehersohn beim Turnexamen um vier Punkte, weil er in Reck- und Barrenübungen mehr leistete. Ingrimmig übte sich nun Gottfried Abend für Abend in Klimmzügen an dem Reck, das in jeder Pädagogiumkammer über zwei Schränken befestigt war und auch reichlich gebraucht ward. Es war jedoch verlorne Müh, denn auch Dachs schlief nicht auf seinen Lorbeeren ein, sondern übte ebenfalls unermüdlich, und er blieb Meister, bis ihn wiederum später Taylor schlug.
Am Nachmittag des Tabellensonntags machten die Vierten mit Bruder Reicher ihren ersten sogenannten Kaffeespaziergang, dessen Kosten – pro Person 15 Pfennige – bereits aus der neugegründeten Stubenkasse bestritten wurden.
Abends war Vorleseabend, der erste im Pädagogium. Man durfte sich Tee bereiten, doch Gebäck dazu zu kaufen war nicht gestattet; erst auf Prima winkte auch dieser schlemmerhafte Genuß.
Besonders gern sahen es die Lehrer und namentlich H. C., der selbst ein vorzüglicher Zeichner und Sepiamaler war, 331 wenn die Pädagogisten während des Lesens zeichneten oder schnitzten. Beides hatte man in der Anstalt gründlich lernen können, aber nicht jedem war es so geglückt wie Drax, der bald für den Künstler der Kolonne galt. Auch heute Abend zeichnete Drax, desgleichen Rodbeck; während Taylor, der unterdessen schon mit dem naheliegenden Spitznamen Bull getauft worden war, schnitzte. Lodenpastorchen tuschte an einem Schnappspiel, das er galanterweise irgend einer Cousine zugedacht hatte. Dachs, ein großer Musiker vorm Herrn, schrieb Noten ab, und Gottfried endlich, der eine Sammlung historischer Bilder, namentlich Portraits, begonnen hatte, wollte einige Erwerbungen einkleben. Nur Zehwen faulenzte.
Der Tee dampfte bereits verlockend, der Wochendiener hatte fertig aufgeräumt, die Spannung wuchs mit jeder Minute. Zum ersten Male sollten die jungen Herrnhüter mit der ernsthaften weltlichen Literatur Bekanntschaft machen, sie sollten einen wirklichen Roman zu hören bekommen. Wie auf die Enthüllung eines süßen Geheimnisses freuten sich die meisten darauf.
Taylor, der Weise, hatte allerdings schon »Ivanhoe« und zwei Novellen von Riehl gehört, freilich nicht alles verstanden; und Zehwen, der viel Erfahrene, hatte zu Hause schon mehrere, zum Teil recht zweifelhafte Romane durchgewolft. Aber beide Kolonnengenossen waren für die Stimmung auf der Stube ohne Belang. Der fischblütige Taylor empfand keine Stimmung, Zehwen mißbilligte oder verspottete sie auf jeden Fall; er war der Geist, der stets verneinte.
Bruder Reicher trat ein, grüßte freundlich und setzte sich an das niedergeschlagene Pult. Der Wochendiener (Taylor als ältester hatte den Reigen begonnen, obwohl er als Senior von rechtswegen dienstfrei war) schenkte ihm den Tee ein. Bruder Reicher dankte, putzte die goldene 332 Brille des seligen Onkel Christoph, rückte sie dann zurecht und sprach laut die Worte des Titelblatts: »Die Hosen des Herrn von Bredow, vaterländischer Roman von Willibald Alexis.«
Das Publikum war verblüfft. Einige machten Gesichter wie die Gänse beim Gewitter, Dachs und Drax guckten sich an, als wollten sie ausplatzen, und Zehwen lachte gerade heraus. Bruder Reicher schien diese Verblüffung erwartet zu haben und stellte sie schnell durch ein paar einleitende Bemerkungen über den Dichter und sein Meisterwerk ab, dann begann er unter lautloser Aufmerksamkeit mit der köstlichen Szene von der großen Herbstwäsche der Frau Brigitte von Bredow.
Bruder Reicher war kein solcher Künstler im Vorlesen wie z. B. Bruder Schordan, der oben auf Prima las, und von dem die Fama erzählte: er könne alle Menschen täuschend nachahmen. Aber Bruder Reicher las vortrefflich genug, er las auch die bisweilen allzu breiten Schilderungen des Dichters so geistvoll und verständnissicher, daß keiner seiner jungen Zuhörer ermüdete, sondern jeder schließlich bedauerte, daß die schönen einundeinhalb Stunden so schnell vorüber waren. Doch über acht Tage ging es ja weiter, und die ganze Woche freute man sich auf den nächsten Vorleseabend, der die Arbeit der Woche reichlich belohnte.
Manches tüchtige Buch, so bald darauf »Oliver Twist« und später »David Copperfield«, erst »Ingo« und »das Nest der Zaunkönige«, dann »Soll und Haben« und »die verlorene Handschrift«, weiter viele der Riehlschen, Meyerschen und Kellerschen Novellen, vor allem endlich »Ekkehard«, »der Hungerpastor«, »die Heiteretei« und »Zwischen Himmel und Erde« wurden auf diese Weise den Schülern so nahe gebracht, daß sie vielen unter ihnen zum unverlierbaren Eigentum fürs Leben wurden und manchem auch als unverrückbare Maßstäbe für ein besonnenes Urteil dienen konnten.
333 Literarisches Interesse war gerade bei der Kolonne 80 recht stark vorhanden. Taylor las viel, freilich hauptsächlich, um deutschen Stil zu lernen, wie er sagte. Rodbeck und Kämpfer verleugneten erst recht nicht den ehemaligen Einfluß Bruder Lechners, und Lodenpastor war geradezu ein Schriftgelehrter, dem man auch nachsagte, daß er heimlich bisweilen dichte.
Es war daher kein Wunder, daß sich eines Tags diese vier zusammenschlossen, um einen Leseverein zu gründen. In der ersten feierlichen Sitzung ward der Name Legentenbund gewähltnach legere lesen. und zwölf Satzungen festgestellt, von denen der nüchterne Bull-Taylor allerdings zehn für überflüssig erklärte. Dennoch wurden schließlich alle zwölf mit Einstimmigkeit angenommen.
Lodenpastorchen, der Harmloseste und Gelehrteste, wurde zum Präsident gewählt; Rodbeck als der Ordentlichste zum Schriftführer, Bull-Taylor als der Stärkste zum Büttel. Er hatte für den Notfall die Strafbefehle zu vollstrecken, vor allem die Strafgelder einzutreiben. Gottfried Kämpfer fiel die außerordentlich schwierige Aufgabe anheim, das eigentliche Vereinspublikum darzustellen.
Wider allgemeines Erwarten mußten sehr viele Strafgelder erhoben werden, namentlich mußte sich Büttel Bull selbst des öfteren strafen und tat es mit puritanischer Gewissenhaftigkeit und Strenge. Die Hauptforderung, jeden Morgen beim Frühstück, das behaglicher Weise eine Stunde dauern durfte, zu lesen, konnten so pflichttreue aber langsame Arbeiter, wie Taylor und Rodbeck es waren, nicht immer erfüllen. Anstatt auszutreten, verlangten sie nur eine praktischere Verwendung der Strafgelder.
Anfangs sollten diese der Mission zugute kommen. Eines Tages protestierten jedoch Taylor und Rodbeck 334 dagegen und erklärten: Dafür gebe es den Missionverein, dem sie bereits angehörten. Den anderen beiden Vereinmitgliedern war die Strafe höchst gleichgültig, denn sie hatten noch keine verwirkt. So stimmten sie denn lachend zu, als der praktische Taylor vorschlug: man solle von den Strafgeldern zum Sonntag Frühstücksemmeln für die Mitglieder kaufen. Einstimmig ward die Bull-Bill angenommen.
Als der spottlustige Zehwen davon erfuhr, nannte er den stolzen Legentenbund verächtlich einen Semmelfreßverein und ward dafür von Vereinswegen durch Bull gezüchtigt. Unverbesserlich, wie er war, meldete er sich daraufhin ganz frech zum Eintritt, augenscheinlich lockten ihn die schönen Sonntagsemmeln, die ja zumeist der brave Taylor zu bezahlen hatte. Der Antrag Zehwen wurde in feierlicher Sitzung durchberaten und unter der Bedingung angenommen: Zehwen sei aufzunehmen, falls er 25 Pfennige, d. h. ein ganzes Wochentaschengeld, als Reugeld an die Semmelkasse – so hieß die Strafkasse jetzt euphemistisch – zahlen wolle. Natürlich weigerte er sich energisch und wurde nunmehr vom ganzen Verein verhauen. Das Ende vom Liede war jedoch, daß nicht nur er, sondern schließlich auch Dachs und Drax eintraten, die Strafgelder abgeschafft wurden, dafür aber wöchentlich fünf Pfennig Semmelbeiträge erhoben wurden.
Anscheinend war viel Lärm um nichts verführt worden; aber erstlich hatte man einen Verein, in dem es stets recht viel Anlaß zur Heiterkeit gab; zweitens wurden nun wirklich mit großem Interesse bildende Bücher gelesen. Drüber freute sich namentlich Bruder Reicher, zumal die Mitglieder in den Sitzungen über ihre Lektüre Meinung und Gegenmeinung austauschten.
Eines Tages – es war bei einer gemütlichen Abendunterhaltung – bot Bruder Reicher sich sogar an, im Verein ein Referat über Riehls »deutsche Arbeit« zu halten. Mit Begeisterung wurde es angenommen. Lodenpastor, 335 der auf Zehwens tückischen Antrag das Korreferat übernehmen sollte, zog sich sehr geschickt aus der Schlinge, indem er kurzerhand vorschlug, Bruder Reicher zum Ehrenmitglied zu ernennen, was mit stürmischem Beifall geschah.
Sehr lustig und laut ging es in der nächsten Sitzung zu, als Zehwen mit Pharisäermiene die Frage aufwarf, ob Ehrenmitglieder auch Anspruch auf Semmelgenuß aus der Vereinskasse hätten. Die stürmische Debatte endete damit, daß Zehwen wie schon öfters von Vereinswegen gezüchtigt werden mußte, weil er den Verein hatte verulken wollen; außerdem bekam er ein Strafreferat, das er natürlich dazu benutzte, einen neuen Streich zu begehen.
Zehwen war eben ein »unverbesserliches Karnickel«, wie der Präside, Lodenpastor Klaus Meier, des öfteren hervorhob, aber gerade darum wirkte Zehwen überaus belebend, wie ein frecher Hecht in dem Karpfenteiche der braven Kolonne 80.
Man vertrug sich auf der vierten Stube ganz ausgezeichnet; schon nach wenigen Monaten hatte man das Gefühl, als hätte man seit Jahren zusammengelebt. Und auch nach außen machte die Kolonne den Eindruck ungestörter Friedlichkeit. Noch kein »Anschuß« war nötig geworden, – nicht einmal von den Dritten, – wozu wohl Taylors große Erfahrenheit, Genauigkeit und nicht zum wenigsten auch seine Beliebtheit bei den früheren Kameraden von der Kolonne 79 beitrug.
Bull galt für einen Musterknaben, und so kam die Kolonne bald zu ihrem Spitznamen »Musterkolonne«. Schon beim Sommerfest auf den Bogwiesen – dieses Jahr wurden Szenen aus den »Fröschen« des Aristophanes aufgeführt, die H. C. zu diesem Zwecke geschickt modernisiert hatte – 336 fehlte es darum nicht an anzüglichen Späßen, vulgo »Spitzen« auf die wackere Kolonne 80.
Als dann kurz vor Weihnachten auch das übliche Probeexamen von allen sieben Mitgliedern der Musterkolonne auffallend gut bestanden wurde, hieß es gar im großen Schattentheaterprolog, der wie eine Jahrchronik das alte Schuljahr ausläutete:
Zu dem einen Solomusterknaben
Sich zum Glück gesellt sechs neue haben,
Taylor ist nicht mehr Hochsolokrebs.
Heilge Sieben, bleibe brav, Gott gebs!
Um so größer war darum das Erstaunen des gesammten Hauses, als zu Beginn des neuen Jahres gerade auf der Musterstube IV eine Art Palastrevolution ausbrach, wie sie in den Annalen des Pädagogiums noch nicht verzeichnet war.
Der Anlaß für dieses plötzliche Chaos war naturgemäß »Choas«. Dieser Tscheche war kein schlechter Mensch, aber er hatte unglücklicherweise zwei Eigenschaften, die ein Erzieher überhaupt nicht haben oder wenigstens abgelegt haben sollte: nämlich erstlich einen groben Jähzorn und zweitens ein unüberwindliches Mißtrauen.
Bei seiner schwierigen Stellung als Aufseher und bei der traditionellen Selbständigkeit der Knaben des Pädagogiums waren solche Fehler doppelt gefährlich, und ohne kleinere Zusammenstöße verging kaum ein Monat. Bald gab es mit Zehwen einen Auftritt, doch war der listenreiche Reinecke von Braun, dem Tschechentolpatsch, nie zu fassen; bald setzte es mit Taylor eine Auseinandersetzung, aber auch hier scheiterte der ohnmächtige Grimm Räsonierskys stets an der kühlen Ruhe des Schotten, der seine Seniorrechte mutig bis zum äußersten wahrte, ohne sie jemals zu überschreiten.
Anders lagen die Dinge bei Gottfried Kämpfer, der durchaus keine diplomatischen Talente besaß.
Seit der ersten Fahnenbarre, bei der er Bruder Rassowsky 337 zum Gefangenen gemacht hatte, lebte er im Kriegszustande mit seinem Aufseher und machte daraus auch gar kein Hehl, namentlich nicht beim Spiel. Galt es den baumstarken, aber ungeschickten Choas, der übrigens ein sehr eifriger Spieler war, herauszufordern oder ins Garn zu locken, so war Gottfried stets als der erste dabei. Was der Böhme an ungeschlachter Kraft und Größe voraus hatte, ersetzte Gottfried reichlich durch seine Gewandtheit. Bald nahm er seinem Aufseher beim Fußball mitten im schönsten Treiben durch einen Hakenschlag den Ball ab, bald reizte er ihn beim Barrespiel mit den gewagtesten Bogen bis zur hellen Wut, die sich bei Choas meist erst in der Gefangenschaft abkühlte. Im ganzen Hause wußte man um diese lustige Gegnerschaft und wählte darum stets Kämpfer gegen Rassowsky.
Leider suchte sich der empfindliche Aufseher für seine Niederlagen auf dem Spielplatz schadlos zu halten, indem er den Vorstehersohn im Stubenleben den Herren fühlen ließ, soweit sich Gelegenheit dazu bot. Gottfried hatte jedoch in der Anstalt nicht umsonst gelernt, sich zu beherrschen, und gehorchte stets schweigend, wenn ihm Bruder Rassowsky etwas befahl. Aber er setzte wohl gelegentlich eine Miene auf, die mit Verachtung eine verzweifelte Ähnlichkeit hatte und jedenfalls bei dem leidenschaftlichen Slaven keine sehr liebreichen Stimmungen auslöste, auch wenn er nicht viel sagte. So ging es in einer stillen Guerilla Monate hindurch, bis eines Abends plötzlich ein offener Zusammenstoß erfolgte.
Es war Donnerstags. Zum Nachtmahl hatte es Tee und Aufschnitt gegeben, ein im Pädagogium besonders beliebtes Menü. Tee gab es dabei stets in so reichem Maße, daß die Bewohner der »oberen Stuben« nach altem, gutem Brauch (richtiger allerdings Mißbrauch) sich noch eine oder zwei große Kannen voll mit auf die Stube nahmen, um dort das köstliche Naß behaglich weiter zu schlürfen. Quod 338 licet Jovi, non licet bovi. Die Bewohner der unteren Stuben tranken zwar ebenso gern Tee wie die Primaner, aber sie standen unter weit genauerer Kontrolle.
Auf Stube III sündigte man wenigstens heimlich. Auf Stube IV ging auch das nicht an, da der grimme Choas Obacht gab wie ein gereizter Grenzwächter. Nur Zehwen war es schon drei Mal gelungen, eine volle Kanne zu paschen. Dem verantwortlichen Senior Taylor war das jedoch nicht recht gewesen, und so fügte sich Zehwen schließlich. Zur Entschädigung nahm er sich von nun an eine mit frischem Tee gefüllte Kruse – solche Henkeltöpfe waren bequemer und daher beliebter als Tassen – auf die Stube hinauf und stellte sie im Ofen warm oder verlängerte den köstlichen Trank gar findig mit heißem Zuckerwasser.
Böses Beispiel verdirbt schnell gute Sitten. Bald standen Donnerstags wohl ein halbes Dutzend Krusen im frisch geheizten Ofen. Eines Abends liefen sogar zwei zischend über, während Bruder Reicher gerade zur Unterhaltung anwesend war. Der Ordinarius schmunzelte ironisch und meinte: Die Bratäpfel seien ja sehr saftig, worauf ihm ein homerisches Gelächter bedeutete, daß sein Wink verstanden war. Darob ward man ein wenig vorsichtiger, aber nicht enthaltsamer auf Stube IV.
Auch an diesem kritischen Donnerstag Abend barg das geschlossene Ofenrohr einige mit Tee gefüllte Krusen, die ihre Besitzer langsam im Vorbeigehen leerten. Gottfried war gerade im besten Zuge, als plötzlich Choas hereintrat.
»Was ist das für Tee?« schnauzte er den überraschten Trinker an.
»Den habe ich mir in meiner Kruse heute Abend mit heraufgebracht,« erwiderte Gottfried ruhig.
Die Ruhe reizte den Böhmen, er witterte Verdacht; mißtrauisch revidierte er das Rohr und holte triumphierend noch drei halbvolle Krusen heraus.
339 »Aha!« – sagte er höhnisch. »Du bist doch Wochendiener?«
»Jawohl.«
»Und da hast du wohl vorhin, als du die aufgewaschenen Kannen zu holen hattest, eine volle mit heraufgebracht?«
»Nein.«
»Nicht? Also hast du sie gleich von Tische mitgenommen?«
»Nein, ich habe mir nur meine gefüllte Kruse mitgenommen – und das ist nicht verboten.«
»Und die anderen Tassen?«
Zehwen, Dachs und Drax meldeten sich sofort als Eigentümer und behaupteten, ebenfalls nur ihre Krusen mitgenommen zu haben. Rassowsky wies sie unwirsch zur Ruhe und sagte dann mit häßlicher Miene zu Gottfried:
»Ihr könnt mir ja viel vorreden, namentlich du, Kämpfer. Dir glaub ich kein Wort.«
»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben.«
»Die schöne Geschichte mit dem Tee hier ist ebenso erstunken wie heute Mittag beim Fußball die Behauptung, du hättest den Ball berührt, als ich ihn durchs Lager trieb.«
»Eines ist so wahr wie das andere.«
»Eines ist so falsch wie das andere, denn du bist ein ganz gewöhnlicher Lügner, Kämpfer,« zischte der Böhme heraus.
Gottfried erbleichte. Der alte, wilde Zorn packte ihn plötzlich wieder, wie ehedem so oft; doch er zwang ihn nieder und sagte mit scheinbarer Ruhe, während er sich langsam setzte: »Das lasse ich mir nicht gefallen.«
Eine allgemeine Erbitterung machte sich zugleich bei Gottfrieds Kameraden bemerkbar, aber gerade diese Parteinahme schien Rassowsky zu neuer Wut zu entflammen. Schroff trat er auf sein Opfer los:
340 »Was willst du? – Du, du freches Mensch du!«
Bei diesen Worten sprang Gottfried empor, und auch Taylor erhob sich unwillkürlich, als müsse er dazwischen treten. Zehwen scharrte ganz laut mit den Füßen und klappte dröhnend seinen Pultdeckel zu.
»Bruder Rassowsky,« rief Gottfried beinahe drohend, »wollen Sie das zurücknehmen?«
»Sollte mir einfallen,« gab der Tscheche höhnisch zurück.
»Dann gehe ich zu Bruder Nielsen.«
»Wenn ich dirs erlaube, mein Bürschchen!«
Bis jetzt hatte Gottfried sich mühsam beherrscht, als er aber das nicht nur ehrenrührige, das verächtliche »Bürschchen« vernahm, da wars mit seiner Haltung vorbei. Mit loderndem Trotz stieß er hervor: »Und ich gehe trotzdem!«
Und er ging.
Plötzlich packte die grobe Faust des Böhmen seinen linken Arm mit eisernem Griff.
»Lassen Sie mich los!« schrie Gottfried.
»Bitte, lassen Sie Kämpfer los!« erklärte diktatorisch auch der herzugestürzte Taylor mit aller Energie seiner Seniorautorität.
»Loslassen, loslassen!« brüllten Zehwen, Drechsler und Nitschmann aus dem Hintergrunde.
Aber der Aufseher lachte nur spöttisch und zischte: »Wer hat hier von euch zu sprechen, ich bin euer Lehrer!«
Zornsprühend unterbrach ihn da Gottfried: »Ein Aufseher sind Sie – weiter nichts, und jetzt lassen Sie mich los – oder –«
Da schlug ihm die harte Hand Rassowskys brutal ins Gesicht.
Für einen Augenblick war der Geschlagene hilflos, dann aber rang er sich mit gewaltsamem Ruck los, stieß die eine Faust mit blinder Wut dem Tschechen in die Magengegend, mit der anderen hieb er dem völlig überrumpelten Gegner 341 zweimal über die breite Nase, während Zehwen vor Freude ganz laut mit den Beinen trampelte, und Meier, Dachs und Drax leise Bravo riefen. Dann war Gottfried so hurtig zur Türe hinaus, daß sein wütender Gegner auch nicht zu einem einzigen Gegenschlag mehr kommen konnte.
Rassowskys Ärger entlud sich zunächst auf den vor ihm stehenden Taylor: »Was stehst du hier, du Tropf, scher dich an dein Pult.«
»Bruder Rassowsky«, erwiderte Taylor mit seiner gewohnten schottischen Ruhe, »ich werde jetzt für Kämpfer zu Bruder Nielsen gehen.«
»Du bleibst auch hier, verstehst du mich! Ich verbiete es dir ebenso!«
»Ich als Senior darf jederzeit zu Bruder Nielsen gehen, wenn Sie es aber wünschen, kann ich noch ein wenig warten – da ich mich nicht auch mit Ihnen prügeln möchte.«
Die Kolonnengenossen lachten leise bei diesen Worten Bulls.
Rassowsky merkte mit einem Male, daß er seine Rolle ausgespielt hatte, dennoch verteidigte er die schwer bedrängte Festung seiner Autorität mit der ganzen Zähigkeit seiner Rasse.
»Schweigt, ihr unverschämten Bengel« brüllte er mit Stentorstimme, doch vergnügliches Grinsen und verhaltenes Glucksen war die unzweideutige Antwort.
In grenzenloser Wut brach nun der Tscheche los: »So, ihr lacht noch, lacht über mich, euren Vorgesetzten – der Senior widersetzt sich ausdrücklich meinen Befehlen, und einer hat sogar die freche Hand gegen mich erhoben – es ist doch unglaublich – mit dieser Gesellschaft – so eine Bande wie euch Kerle habe ich hier noch nicht erlebt, alles geht darunter und darüber – das reinste Choas!«
Jubelnd vor heller Schadenfreude und keckem Übermut lachte nun alles hell auf, sogar Taylor, der gerechte, lächelte leise mit.
342 Rassowsky hielt einen Augenblick inne; dann schnaubte er den Schotten an: »Warum lachst du, Taylor?«
»Nur, weil es Chaos heißt, und nicht Choas« sagte dieser mit größter Gemütsruhe.
Völlig verblüfft wandte sich der Böhme ab und ging dröhnenden Schrittes davon. Bull folgte ihm nach wenigen Sekunden, um Bruder Nielsen zu melden, daß Gottfried Kämpfer den Bruder Rassowsky »verhauen« habe.
Bruder Nielsen war schon lange Jahre des Pädagogiums Leiter, dennoch traute er seinen Ohren kaum bei Taylors Bericht. Er kannte freilich Edward Taylor zu genau, um nicht zu wissen, daß dieser nicht lügen konnte. Aber so ein haarsträubender Skandal war noch nie vorgekommen!
Dem sonst so besonnenen Direktor wirbelte der Kopf.
Fast ärgerlich schickte er Taylor fort; dann tat es ihm sofort wieder leid, daß er sich vom Ärger hatte fortreißen lassen, und so rief er ihn freundlich zurück und fragte ihn: ob er wisse, wo Gottfried Kämpfer sei. Taylor verneinte. Im selben Augenblick kam schon Gottfried den Gang daher.
Bruder Nielsen empfing ihn stumm, und auch der Delinquent schwieg eine Weile, endlich sagte er leise: »Bruder Nielsen, ich möchte mich zur Strafe melden.«
»Eben – fühlst du dich schuldig?«
»Ja, ich habe Bruder Rassowsky geschlagen, ich mußte mich verteidigen, aber ich habe ihn geschlagen.«
»Und welche Strafe denkst du dir dafür?«
»Ich werde wohl ausgeschlossen werden müssen,« sagte Gottfried leise und sah beschämt zu Boden.
»Hm, das genügt dir, und dann kehrst du auf IV zurück zu Bruder Rassowsky, schüttelst ihm freundlich die Hand 343 und sagst: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich! Hm, nicht übel?«
Gottfried schwieg verletzt. Er war in ehrlicher Reue hergekommen, und nun spottete ein Mann wie dieser große H. C. über ihn und seine Not.
Der Direktor bemerkte diese Wirkung seiner Worte sehr wohl, er hielt es jedoch für angebracht, den verwegenen Rebellen so rief wie nur möglich zu demütigen, und so fuhr er fort:
»Ich bin in der Meinung, Kämpfer, du verschonst unser altes Haus, in dem bis jetzt die Subordination für unverletzlich galt, lieber ganz mit deiner angenehmen Gegenwart, was meinst du dazu?«
»Wenn ich gewußt hätte, daß man mich hier ungerecht schlagen würde, wäre ich freilich lieber in der Anstalt geblieben, dort hat mich nie ein Lehrer angerührt.«
»Vielleicht fehlte es ihnen an Mut gegenüber einem schlagfertigen Burschen. Wer weiß?«
»Bruder Nielsen, warum verspotten Sie mich? Ich habe ein Unrecht begangen, aber ich tat es aus Not. Ich habe mich wirklich zusammengenommen, aber Bruder Rassowsky hat mich einen ganz gewöhnlichen Lügner, ein freches Mensch genannt, obwohl ich ihm die lautere Wahrheit gesagt habe. Er hat mich dann gepackt und geschlagen, ohne jeden besonderen Anlaß. Das läßt sich kein deutscher Junge gefallen, am wenigsten von so einem Slaven. –«
»Gelbschnabel du – was weißt du von Slaven.« –
»O bitte, ich weiß es von Gustav Freytag her.«
»Hm – von dem hättest du Gescheuteres lernen können,« brummte H. C., scheinbar ärgerlich, während er sich heimlich über des kleinen Gegners Temperament und Beschlagenheit freute; dann fuhr er fort:
»Eben – hast du nicht vielleicht noch eine Entschuldigung?«
344 »Bruder Nielsen, es tut mir furchtbar leid, daß es so gekommen ist, aber ich konnte mir wirklich nicht helfen. Ich mußte – sonst – sonst –«
»Na, nur raus mit der Sprache!«
»Sonst hätte ich mich vor mir und andern schämen müssen –.«
»Und wenn wir dich nun mit Schimpf und Schande davonjagen, dann brauchst du dich wohl nicht zu schämen?«
Auf Gottfrieds Zügen malte sich ein maßloser Schrecken.
»Ich soll wirklich geschaßt werden?« fragte er erbleichend.
»Du scheinst noch daran zu zweifeln?«
»Bruder Nielsen – würden Sie sich haben schlagen, würden Sie sich einen frechen Lügner schelten lassen?«
»Das weiß ich nicht, aber ich weiß, und du weißt, was Jesus sagt: Schläget dich einer auf die rechte Backe, so biete ihm auch die linke dar, und wir sind Christen.«
»Auch Jesus fragte den Knecht des hohen Priesters: Warum schlägst du mich?«
»Aber er schlug nicht wieder, mein Herr Naseweis« erwiderte Bruder Nielsen gebieterisch, »und nun habe ich genug von deiner Weisheit. Verfüge dich sofort ins Bett und denke mal über deine Schwabenstreiche nach. Du hast im übrigen Stube IV nicht wieder zu betreten, ich werde morgen an deinen Vater schreiben. Bruder Reicher wird dir das weitere mitteilen.«
Noch einmal blickte Gottfried wie hilfesuchend seinem Direktor ins Gesicht, und als er keine Spur von Barmherzigkeit in dessen ehernen Richterzügen entdecken konnte, schlich er betrübt davon.
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, als des Direktors Miene sich mit einem Schlage änderte.
Lächelnd ging er auf und ab und murmelte immer wieder: »Steckt was in dem Burschen, freilich kein Herrnhuter und doch – wäre jammerschade um ihn, jammerschade!«
345 Dann ging er hinab zu Bruder Reicher, teilte ihm alles mit und bat ihn dafür zu sorgen, daß weder Gottfried Kämpfer noch Bruder Rassowsky auf die vierte Stube zurückkehrten, bis alles sich entschieden habe.
Zugleich setzte er bereits für den nächsten Mittag eine Lehrerkonferenz an, zu der er auch Bruder Loskiel bitten wollte.
Die studierten Lehrer des Pädagogiums hatten sich bereits vollzählig in der Amtsstube des Mitdirektors eingefunden, als Bruder Nielsen mit Bruder Loskiel eintrat.
Man begrüßte sich brüderlich, steckte sich behaglich eine Zigarre an, und zunächst legte Bruder Nielsen in klarem Vortrage den Tatbestand des Falles Rassowsky-Kämpfer dar, auf Grund von Taylors unparteiischem Bericht, ergänzt durch die Rücksprachen mit den zwei Beteiligten. Danach ersuchte er die Brüder um ihre offene Meinungsäußerung.
Zuerst bat Bruder Schordan, der gewandte Turnwart und Leiter des Sinfonievereins, ums Wort; er war Ordinarius der Prima, der er als geistreicher Dialektiker, als eleganter Redner, insbesondere als ein Meister der Geste stets imponierte; böse Zungen sagten ihm freilich nach, er höre sich gern selbst sprechen.
»Liebe Kollegen!« begann er mit leichter Verbeugung »ich kenne beide Personen nur vom Spielplatz her; aber im Spiel, zumal im körperlichen, verrät sich bekanntlich der Charakter des Menschen am leichtesten. Und da muß ich offen sagen – ohne damit den vorliegenden Fall selbst beurteilen oder gar entscheiden zu wollen: es ist mir selten ein tapfererer und ritterlicherer Spieler entgegengetreten wie dieser kleine Kämpfer, selten aber ein rücksichtloserer und gröberer Gegner als Bruder Rassowsky, der seine brutale Kraft auch beim Spiel in jeder Weise auszunutzen suchte. 346 Kämpfer ist oft genug – sit venia exemplo – wie ein gewandter David diesem ungeschlachten Goliath in die Parade gefahren, hat ihm quasi den Wind aus den Segeln genommen, und eine Gereiztheit Bruder Rassowskys gegen Kämpfer war jedenfalls längst offenkundig. Was nun den Fall selbst anbelangt, so halte ich das Vorgehen des Bruder Rassowsky für unvereinbar mit den pädagogischen Traditionen unseres Hauses. Wir suchen bei unseren Schülern das Ehrgefühl zu wecken und zu stärken. Bruder Rassowsky hat es unverzeihlich vergewaltigt; er verdient somit, meiner Meinung nach, nicht mehr den Ehrennamen eines Erziehers, den auch ein Aufseher in unserm Hause verdienen sollte. Das bitte ich zu bedenken.«
Das Auditorium schwieg, solche scharfe Worte waren ungewöhnlich im Kreise der Brüder.
Man blies die Rauchwolken sinnend vor sich hin und erwog das Gesagte langsam.
Endlich erhob sich der erste Supernumerar, Bruder Riedel, ein etwas stubengelehrter Philosoph und passionierter Pfeifenraucher, der im redefrohen Pädagogium nur sehr selten zu reden pflegte, und sagte stockend:
»Bruder Schordan ist hart. Die Stellung eines Aufsehers ist sehr schwierig, gerade weil ihr der von vornherein gegebene Respekt fehlt. Ich will Bruder Rassowskys Vorgehen nicht entschuldigen oder gar rechtfertigen, aber ich halte es für sehr bedenklich im Interesse der Disziplin, ihn zu entlassen und so dem aufsässigen Knaben Recht zu geben. Wo kommen wir denn hin, wenn solche renitente Rebellen wie dieser Kämpfer in unserm Hause geduldet oder gar in Schutz genommen werden? Wer würde schließlich unter solchen Umständen noch Lust haben, Aufseher auf den unteren Stuben zu werden? Also ich meine: Kämpfer ist mit schlichtem Abschied zu entlassen. Bruder Rassowsky das Nötige anzuempfehlen, dürfte Bruder Nielsen sicherlich nicht verfehlen.«
347 Ein heftiges Schütteln der Häupter verriet dem Redner, daß er keinen Beifall gefunden, ihn kümmerte das wenig; ruhig putzte er die vom Rauche angelaufenen Gläser seiner stählernen Brille und setzte sein ausgegangenes Shagpfeifchen wieder sorgsam in Brand.
Nun meldeten sich sofort zwei neue Redner, der zweite Supernumerar, Bruder Lieberkühn, erhielt als der ältere zuerst das Wort. Er war mehr Geistlicher als Lehrer und sprach in mildem, herzlichem Tone:
»Liebe Brüder! Es sind hier wohl Versehen auf beiden Seiten vorgekommen, aber nicht wahr, solche Versehen können wieder gut gemacht werden durch den Geist christlich versöhnender Liebe. Bruder Rassowsky will ein Bote des Evangeliums bei den Heiden werden, da wird er beizeiten lernen müssen, sich und seine Fehler zu überwinden, sich selbst zu entäußern und klein zu werden vor Gott und seinem Nächsten. Der Knabe aber ist noch ein Kind, das noch nicht voll verantwortlich gemacht werden kann für seine Taten, zu denen man es obenein gereizt hat. Den Kindern ein Ärgernis zu geben, ist nicht im Sinne unseres Heilands, der aller Erzieher Vorbild sein soll. Strafe mag läutern, Verzeihung allein kann bessern und heilen. Darum ist meine brüderliche Meinung: Verzeihen wir beiden mit christlicher Liebe und Nachsicht.«
Nun stand Bruder Leßmann von seinem Platze auf, der Ordinarius der Untersekunda und Lehrer der dritten Stube, ein logisch scharfer Denker, der erste, selbst auf Prima gefürchtete Mathematiker des Hauses. Der kleine Mann reckte sich energisch empor und sprach mit blitzenden Augen:
»Es tut mir leid, wenn ich den beiden Vorrednern den brüderlichen Vorwurf nicht ganz ersparen kann, daß sie doch wohl wie Blinde von der Farbe sprechen (Lachen und Ohorufe der Vorredner). Die beiden Brüder sind meines Wissens nie Kollegen von Aufsehern gewesen (»allerdings 348 nicht,« sagte der stets unparteiische Mitdirektor, der alles genau zu wissen pflegte). Ich persönlich habe zurzeit Bruder Hesselbart, einen lieben Menschen, neben mir auf Stube III, den ich mit Stolz meinen Kollegen nennen darf; aber ich habe vordem auch andere Aufseher neben mir gesehen, bei denen dieses Wort mir schwer über die Lippen kam. Gerade Bruder Rassowsky kenne ich ziemlich genau und halte ihn für einen jener Menschen, die schon darum nicht zum Erzieher taugen, weil sie selbst nicht erzogen sind und sich vor allem nicht zu beherrschen vermögen. Von der Schulbildung der Genannten will ich nicht reden – er hat sie nicht und braucht sie schließlich nicht – aber er hat auch leider keine Herzensbildung, und die brauchen wir hier unbedingt. Bruder Schordan hat scharf gesprochen, aber meines Erachtens sehr richtig. Bruder Riedel bangt für die Disziplin. Nun, ich bange auch dafür, nämlich für den Fall, daß Bruder Rassowsky im Hause bleibt. Ich weiß von meinen Jungen auf III, die er ein Jahr lang dem Namen nach erzogen hat, was er erreicht hat: Haß und Verachtung! Er hat Wind gesät und Sturm geerntet. Ich weiß vom Kollegen Hesselbart, wie er auf der Aufseherstube unter Bruder Rassowsky leidet, ich weiß endlich: wieviel Knüppel Bruder Rassowsky unserm lieben Bruder Reicher zwischen die Beine wirft. (Bruder Reicher wehrt ab). Ich sage das ausdrücklich, weil Bruder Reicher es nie sagen wird. (Lachen). Gottfried Kämpfer kenne ich nur aus einigen Schulstunden und vom Spielen, er ist ein offener Kopf und ein anständiger Charakter. Die ganze Kolonne 80 scheint eine der besten zu sein, die wir seit langem bekommen haben, schon jetzt heißt sie die Musterkolonne im ganzen Hause. Wenn es bei ihr zu solchen Auftritten kommen kann wie dem gestrigen, so wird die Schuld in erster Linie am Vorgesetzten und nicht bei dem Knaben liegen. Ich gehe daher so weit, Bruder Nielsen hier 349 geradezu zu bitten, unser Haus von Bruder Rassowsky zu befreien. Das wird der Disziplin sicherlich nicht Abbruch tun, das kann ich Bruder Riedel versichern; aber es wird dem Gerechtigkeitsgefühl unserer Knaben Rechnung tragen, und das zu respektieren ist auch eine unserer ersten Erzieherpflichten. Wenn unsere Disziplin auf Säulen stünde wie Bruder Rassowsky, läge sie längst am Boden. Aber sie steht und wird bestehen, trotz solcher Schädlinge wie Bruder Rassowsky, denn sie fußt auf der Erfahrung von Generationen, auf einer lebendigen Tradition, auf dem gesunden Geist unseres Hauses und sicherlich nicht zum wenigsten auf der tüchtigen Vorarbeit, die uns die Anstalt, unser Schwesterinstitut, leistet. Ist dieser Kämpfer in der Anstalt brauchbar gewesen, warum soll er bei uns plötzlich unbrauchbar geworden sein? Es gilt daher den Einzelfall nüchtern und unparteiisch zu untersuchen, nicht aber aus allgemeinen pädagogischen Prinzipien den Fehler eines würdelosen Kollegen ängstlich zu verhüllen. Das hieße nur zu einem alten ein neues Unrecht hinzufügen!«
Ein leises Bravo folgte diesen markigen Worten. Bruder Riedel allein paffte ärgerlich und rasch vor sich hin.
Vermittelnd griff Bruder Nielsen ein und sagte:
»Liebe Brüder und Mitarbeiter! Ich habe nun Meinung und Gegenmeinung gehört, um die ich bat, weil ich euren Rat brauchte für die wichtige Entscheidung, die ich als verantwortlicher Leiter des Hauses treffen muß. Daß ich Bruder Rassowsky seines Amtes entbinden müsse, erschien mir schon gestern Abend als unvermeidlich und gilt mir jetzt für ganz ausgemacht. Ich, der ich ihn seinerzeit gewählt habe, fühle mich jedoch mitschuldig, denn ich hätte vorsichtiger sein, hätte vor allem bedenken sollen, daß Bruder Rassowsky ein Böhme ist, der für deutsche Knaben nicht die rechte Art hat. Seine Schuld bei dem gestrigen Vorfall ist in die Augen springend, und auch für mich wie 350 für uns alle gilt noch immer das strenge Wort Christi, daß, wer einen dieser Geringsten ärgert, einen Mühlstein um den Hals verdiene. Sich mit seinem Herrn und Heiland darüber auseinanderzusetzen, muß ich Bruder Rassowsky selbst überlassen. Ich, der ich für die mir anvertrauten Zöglinge einzustehen habe, werde ihn nur bitten, unser Haus zu verlassen. Über die weit schwierigeren Fragen – was soll mit Kämpfer werden? Kann er nach seinem gewalttätigen Vorgehen in unserem Hause bleiben? – möchte ich nun vor allem seinen Stubenlehrer, Bruder Reicher, bitten uns seine Ansicht mitzuteilen, und dann auch Bruder Loskiel, der bisher des Knaben Erziehung geleitet hat und ihn sicherlich am besten kennt.«
H. C. setzte sich, und Bruder Reicher stand zögernd auf, rückte die goldene Brille Onkel Christophs zurecht und sprach mit ein wenig belegter Stimme, den Blick anfangs wie schüchtern zu Boden gesenkt:
»Über meinen Kollegen zu reden konnte ich nicht über mich gewinnen. Rein menschlich betrachtet, bedauere ich seinen Abgang, namentlich unter so traurigen Umständen; aber als Lehrer der IV. Stube muß ich offen sagen: es wird mir vieles leichter werden ohne Bruder Rassowsky. Gottfried Kämpfer dagegen zu verlieren, würde mir sehr leid tun. Er ist zwar weder der begabteste noch der fleißigste meiner Schüler, aber nächst Taylor der ausgeprägteste Charakter unter meinen Vierten. Ob er jetzt fortgeschickt wird oder nicht, dürfte für ihn insofern wohl gleichgültig sein, als er von Haus aus Mittel erhalten könnte, seine Studien außerhalb der Brüdergemeine fortzusetzen. Für uns aber würde sein Fortgehen einen Verlust bedeuten, da wir einen selbständigen und furchtlosen Knaben verlieren, aus dem mit der Zeit auch ein eben solcher Mann werden dürfte, und gerade solche Männer können wir in der Brüdergemeine gebrauchen. Talente haben wir ja 351 wohl übergenug, Charaktere leider zu wenig. (Sehr richtig rief Bruder Schordan, und Bruder Reicher sah dankbar zu ihm hin). Aber noch eins, liebe Brüder, gilt es zu bedenken: Aus diesem Knaben, der in seinem Rechtsbewußtsein wie in seinem Ehrgefühl schwer verletzt wurde, wird durch eine nun folgende Maßregelung dereinst vielleicht ein erbitterter Gegner der Gemeinerziehung werden. Ich kenne diese Kämpferart und erinnere nur an Gottfrieds Onkel Karl Eugen, der meines Vaters Freund und Gegner war. Im guten sind diese trotzigen Menschen leicht zu gewinnen, aber nie mit Gewalt. Nun noch etwas über die Disziplin, für die Bruder Riedel so bangt. Liebe Brüder, wir wissen alle, daß dafür in unserm Hause die Person des Seniors und der Geist der Kolonne viel maßgebender sind als wir Lehrer. Wir regieren im besten Falle ein Jahr, die anderen fünf Jahre; und ich darf ruhig sagen: der Senior wie der Geist der Kolonne 80 waren bis jetzt vorzüglich. Sie würden aber vielleicht weniger gut sein, wenn man Gottfried Kämpfer fortjagt. Man muß ihn strafen, das fühlt er ja selbst sehr deutlich, und die Strafe des Ausschlusses hat in unserm Hause schon etwas zu bedeuten. Dafür endlich, daß Gottfried Kämpfer seine Tat auch wirklich bereut und auch nach der Entfernung Bruder Rassowskys sich niemals brüsten oder gar einen schlechten Einfluß ausüben würde, dafür glaube ich bürgen zu können.«
Bescheiden setzte sich das schlichte Männchen auf seinen Sitz und sah wiederum zu Boden, während die meisten Kollegen mit warmer Verehrung zu ihm hinüberschauten.
Nunmehr erhob sich auf einen einladenden Wink Bruder Nielsens der Anstaltsdirektor, Bruder Loskiel, und erklärte:
»Meine lieben Kollegen vom Pädagogium. Den warmen, durchaus richtigen Worten Bruder Reichers habe ich kaum etwas hinzuzufügen. Ich habe mir mit Gottfried Kämpfer 352 einige Mühe gegeben und kann euch sagen, es lohnt sich schon, diesen Menschen zu erziehen. Es tut mir von Herzen leid, daß er von den sechs neuen Schülern, die aus der Anstalt eintraten, zuerst Schwierigkeiten gemacht hat, aber so wie Bruder Rassowsky es anfing, mußte es Späne geben. Die Aufseher sind leider unentbehrlich. Namentlich bei uns! Und doch sind sie besonders gefährlich in unserm Erziehungswesen, das so völlig auf traditioneller Erfahrung fußt. Wir brüderischen Theologen waren ja selbst hier Schüler und haben es darum unendlich viel leichter als jeder Fremde, unsern Schülern nachzuempfinden und ihnen so allein wirklich gerecht zu werden. Auch wir wissen, daß Erziehen mehr eine Kunst als eine Wissenschaft ist. Zum Erzieher wird man geboren, nicht erzogen. Dennoch gilt es studieren, namentlich bei Knaben wie Kämpfer ist das sehr angebracht; solche Jungen sind steinharte Nüsse für jeden, der sie nicht ganz genau studiert hat und nur aufs Geradewohl an ihnen herumknacken will. Solche Jungen sind ferner mit Gewalt überhaupt nicht zu bändigen, wie Bruder Reicher schon sagte; sie müssen lernen sich selbst zu bändigen, dazu haben sie ihre eigene charakterliche Kraft und ihr angebornes Willensvermögen. Da kann man nur anregen, ergänzen, aber man darf nicht schlechthin bilden oder gar umformen wollen. Ein kluger Erzieher wird gerade aus Fehlern langsam Tugenden entwickeln können, indem er das Ehrgefühl weckt, das Gewissen schärft, viel mehr brauchts nicht, aber das brauchts wiederum unermüdlich! Und dann noch eins – nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl – sondern auch das Wahrheitsbewußtsein unserer Knaben ist heilig zu halten; es ist ja unser bester Bundesgenosse bei ihrer Erziehung. Und gerade das hat dieser Aufseher gröblich verletzt, das steht uns allen fest, wohl auch Bruder Riedel, und von da aus können, ja müssen wir für den Knaben zu 353 mildernden Umständen kommen. Er war nicht schlecht und gemein, er war nur jähzornig in seinem gekränkten Wahrheits- und Rechtsgefühl. Dafür genügt jedoch die Strafe der Ausschließung vollkommen. Denn was schließlich die Disziplin anlangt, – da seid ihr im Pädagogium in solchem Falle viel besser daran als wir, weil ihr schon eine urteilsfähige Bürgerschaft habt, während wir meist törichte Kinder haben. Aber gerade darum müßt ihr auch mit der Stimme dieses Volkes rechnen und doppelt peinlich gerecht sein. Und so hoffe ich denn, daß dieser Gottfried Kämpfer, mein ehemaliger Sorgenjunge, nicht fortgejagt werden wird, sondern daß ihr, liebe Brüder, das Werk, das wir drüben mit Erfolg an ihm begonnen haben, hier mit Geduld und Liebe vollenden werdet.«
Mit kurzen Worten dankte Bruder Nielsen dem Kollegen von der Anstalt und fragte sodann, ob noch jemand das Wort begehre.
Bruder Riedel hatte zwar öfters ärgerlich das Haupt geschüttelt, aber sprechen wollte er nicht mehr.
So verkündete dann Bruder Nielsen das Urteil über Gottfried Kämpfer, das auf 48 Stunden Ausschließung lautete.
Mit innerlichem Jubel vernahm es Gottfried, der sich schon darauf gefaßt gemacht hatte, aus dem schönen, stolzen Hause, das er so liebte, fortgejagt zu werden. Mit dankbarer Demut büßte er seine Strafe ab. Als er darauf ein wenig gebeugt auf die Stube zurückkehrte, hatte Bruder Rassowsky bereits das Haus verlassen. Auf seinem Pult fand Gottfried zu seiner freudigen Überraschung einen Brief mit zwei roten Kaschmirmarken: Er war von Bruder Lechner aus Srinagar und enthielt manch ein Wort, das wie linderndes Öl auf Gottfrieds wunde Seele träufelte.
Ungefähr anderthalb Jahre später sah der Herrenfelder Vorstehersohn seinen Aufseher wieder, als Sterbenden im Girdeiner Krankenhause.
354 Der scheinbar so kräftige Böhme hatte nach einem scharfen Marsch ein Fußbad genommen, sich dabei erkältet und sich durch Vernachlässigung dieser Erkältung die galoppierende Schwindsucht geholt. Statt auf die Mission zu reisen, mußte er daran denken, in die ewige Heimat einzugehen.
In seiner Todesnot schickte der frühere Katholik auch nach seinem einstigen Zögling, um ihm Abbitte zu leisten.
Gottfried kam und war tief erschüttert von dem Anblick des gebrochenen, abgemagerten Mannes, der ihn mit leiser, ächzender Stimme flehentlich um Verzeihung bat wie ein reuiges Kind. Mit bebenden Lippen antwortete Gottfried:
»Bruder Rassowsky, ich bin vielleicht viel sündiger als Sie, und mir tut es jetzt bitter leid, Ihnen damals wehgetan zu haben; verzeihen Sie mir bitte zuerst.«
Schweigend gaben sich die einstigen Gegner die Hand; und als Gottfried Kämpfer wenige Tage darauf hinter dem Sarge des Heimgegangenen einherschritt, war er wohl der einzige, der um den einsamen Fremdling eine verschwiegene Träne weinte, und diese Träne war nicht minder ehrlich als ehedem sein Grimm. 355