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Langsam, aber unaufhörlich sanken die goldgelben und bronzebraunen Blätter der mächtigen, schwermütig im Nordweststurme rauschenden Linden hernieder auf den jetzt schlüpfrigen Bürgersteig des Platzes von Herrenfeld. Mit dem Herbst und seiner Pracht ging es stark zur Rüste.
Eine naßkalte, noch ungewohnte und darum doppelt unangenehme Witterung setzte ein, und in der ersten Woche des Novembers starben drei ältere Geschwister am Schlag.
Nun ward es tagsüber noch stiller als sonst in Herrenfeld, stundenlang schien der Platz wie ausgestorben.
Auch die täglichen Abendversammlungen der Gemeinde waren schlechter besucht denn je. Sogar von den stets getreuen, alten Stammgästen auf der Brüderseite fehlten manche, und wer von ihnen erschien, der setzte sich vorsichtig ein rundes Sammetkäppchen aufs kahle Haupt. Auf der Schwesterseite brachten mehrere ältere Damen verstohlen einen warmen Fußsack mit in den kleinen Saal. Kurz man fror und diente seinem Herrn und Gott mit Zähneklappern.
Dann schlug der Nordwest gar zum Nordost um, und eines Morgens lag der erste Reif auf den stillen, sauberen 46 Gräbern des Gottesackers, während die sonnenbeleuchteten Kuppen des Falkengebirges mit blütenweißen Schneehäubchen lieblich herüber grüßten.
Drei Tage darauf fiel auch in Herrenfeld der erste Schnee und deckte das letzte Grün der trotzigen Eichen und der zähen Haselnußsträucher auf dem Kunkelberge unbarmherzig zu.
Für die Schuljugend ist der erste Schneefall wohl überall eine Art Festtag. Dieser Schnee, der die Landschaft mit einem Schlage sichtbar verwandelt, ist ja das erste Versprechen, das der Winter, der große Freudenbringer der Jugend, erfüllt.
Auch in Herrenfeld war eitel Seligkeit, besonders unter den Buben, die sich schon früh um 7 Uhr vor dem Portal der Schule eifrigst im Schneeballwerfen übten. Nur die Heul-Frieda war höchst unangenehm überrascht, als sie schon am frühen Morgen – da sie ein wenig zu spät kam – von der ganzen Klasse mit einem wahren Hagel von Bällen begrüßt wurde. Noch hernach in der Schule lief es Friedel naßkalt den Rücken hinunter von den zertauten Schneeresten, die ihm zwischen Kragen und Nacken hineingekommen waren.
In der Frühstückszeit ging es unten im Schulhof »im Segen weiter«. Zugleich wurde für den Nachmittag eine große Schneeballschlacht zwischen den Dritten und Vierten ausgemacht und als Wahlstatt der kleine Spielplatz auf dem Kunkelberge festgesetzt.
Gottfried hätte sich dieses Vergnügen wohl gern geschenkt, aber bei einem solchen Kampf, der mit zu den Hauptereignissen des Jahres gerechnet wurde, zählte jede Klasse ihre Streiter sehr genau, und wehe dem, der sich seiner Wehrpflicht entzog. Das Vesperbrot mußte schon um 2 Uhr mitgebracht werden, denn sofort nach der Schule ging es in geschlossenem Trupp den Kunkelberg hinauf, ein Entwischen war völlig unmöglich.
47 Aus Gottfrieds Seele waren die Rachegedanken noch nicht geschwunden, obwohl er seit 14 Tagen wenigstens die kleine Genugtuung hatte, nunmehr auch zwei Plätze über dem Pastormatthes zu sitzen. Heute regte sich ein besonderer Trotz in ihm gegen den Zwang der Klasse, und er sann beständig darüber nach, wie er seinen Peinigern irgend einen rechten Schabernack spielen könnte. Wie wäre es, dachte er bei sich, wenn er mitten in der Schlacht zum Feinde überginge, aber nein, das wäre eine gar zu große Gemeinheit. Und doch gerade nach einer solchen verlangte ihn jetzt. Ob ihn die Gegner freilich aufnehmen würden? Das war mehr als zweifelhaft.
Unterdessen waren die Heerhaufen auf dem Schauplatz der Entscheidung angelangt. Drüben in einer kleinen, muldenförmigen Einbuchtung am Rande des freien Platzes stand der Feind, die dritte Klasse.
Nach der Sitte altgermanischer Krieger forderten sich die Gegner erst mit Spottreden heraus, die hüben und drüben mit derbem Witz und prahlerischen Drohungen erwidert wurden. Dann wechselte man die ersten Bälle.
Anfangs schien der Kampf mehr als Spielerei aufgefaßt zu werden. Man zielte langsam und lachte jedesmal fröhlich, wenn man getroffen hatte. Dazu kam, daß die Hände, des kalten Schnees noch ungewöhnt, den meisten ein wenig schmerzten. Allüberall sah man lässige Streiter, die sich in die Hände pusteten oder die Arme um die Brust schlugen, um sich warm zu machen.
Auch Gottfried hielt sich im Hintergrunde, er hielt es für überflüssig, so viele kalte Bälle selbst anzufertigen; bequemer war es, hinter der Schlachtlinie die fehlgegangenen Bälle der Gegner aufzulesen. Hatte er eine Portion beisammen, so wagte er sich damit langsam vor, schleuderte sie nacheinander behutsam gegen den Feind und zog sich dann ebenso klug wieder zurück.
48 Drei- oder viermal mochte er diese wenig heldenhafte Taktik mit Erfolg angewendet haben, als der Pastormatthes von einem höhnischen Gegner mitten in der Schlacht auf die famose Heul-Frieda und ihre schlaue Praxis aufmerksam gemacht wurde.
Sofort rief er Gottfried in herrischem Tone vor und befahl ihm, an seiner Seite zu kämpfen. Gottfried tat, als habe er den Befehl nicht gehört und blieb in hinterster Linie. Als der Matthes nun auf ihn zukam, um ihn vorzuholen, wich er schleunigst aus, und als andere Kameraden ihn festnehmen wollten, schlug er sich mit raschem Sprunge ins Dickicht, während gellende Schimpfworte wie Feigling, Ausreißer, Drückeberger, Heul-Frieda hinter ihm herschallten. Alsbald ward das Zeichen zum Einstellen des Kampfes gegeben, und beide Klassen begannen vereint die Hetzjagd auf den Deserteur, der in dem dichten Gebüsch des Kunkelberges nicht leicht zu fassen war.
Nur Ibikus folgte dem Flüchtling mit katzengleicher Gewandtheit und blieb ihm so lange auf den Fersen, bis er den völlig Erschöpften schließlich einholte. Er hielt den laut Heulenden so lange fest, bis die andern herbeikamen, die mit lautem Geschrei die exemplarische Bestrafung des Ausreißers forderten. Selbstverständlich konnte nur eine Strafe in Anwendung kommen: das Einseifen, eine mit Recht gefürchtete Exekution.
Zwei handfeste Burschen packten den Unglücklichen, während ein Dritter ihm mit vollen Händen Schnee ins Gesicht rieb. Zugleich warfen alle Zuschauer Schneeklumpen nach dem Delinquenten.
Gottfrieds Sträuben erlahmte bald, auch sein lautes Schreien verstummte, denn er erstickte beinahe im Schnee. Wie starr lag er da, und als ein grausamer Witzbold noch vorschlug: man solle gleich noch die »Schneemumie« ans »Einseifen« anschließen, da die Heul-Frieda gerade so schön daliege 49 – rührte ihn auch diese Quälerei nicht mehr; wie einen Baumstamm ließ er sich ruhig den nächsten Abhang hinunterrollen.
Dann hieß man ihn aufstehen; aber er blieb regungslos liegen, bis man ihn mit Gewalt auf die Füße stellte. Wohl stand er schließlich, doch hartnäckig schwieg er. Alle Neckereien und Schimpfworte prallten wirkungslos an ihm ab.
»Lebst Du noch,« hieß es endlich, »Heul-Frieda, so heul doch wenigstens, warum heulst Du denn nicht?« rief man höhnisch, aber alles war umsonst. Gottfried schien stumpfsinnig geworden zu sein.
Was während dieser Minuten in seinem Innern vorging, ahnte niemand, und doch war es eine gewaltige, grundstürzende Umwälzung.
Schmerz, Scham, Ehrgeiz, Rachsucht – alles wirbelte wild durcheinander und suchte zur Herrschaft zu gelangen. Dann aber stieg ein elementares Gefühl in ihm empor – der Trotz, der unbändige Bubentrotz – er triumphierte! Er führte ganz zufällig und instinktmäßig das bei dem Kinde herbei, was dem Jüngling später als der erste Akt seiner Selbsterziehung erschien.
Die Kameraden hatten Gottfried bald stehen lassen und den Kampf von neuem begonnen. Diesmal hatte die dritte Klasse eine Anhöhe besetzt, und die Vierten sollten sie stürmen.
Der zweite Kampf war wesentlich lebhafter als der erste; die Gemüter waren jetzt erregt, die Hände heiß, die Bälle flogen nur so, und mancher Kämpfer ward leidenschaftlich erbittert, sobald er den ersten Ball ins Gesicht, in den Nacken oder gar in den Ärmel bekommen hatte.
50 Die Vierten waren offenbar im Nachteil. Einmal waren sie schwächer an der Zahl, zweitens mußten sie bergauf; dennoch kämpften sie tapfer und kamen auch langsam vorwärts. Da ward der Pastormatthes schwer ins linke Auge getroffen und mußte austreten; den Vierten fehlte ihr Führer, die Gegner auf der Höhe frohlockten! Jeder weitere Versuch der Vierten, den Hügel hinanzukommen, wurde nun siegreich abgeschlagen; einige rieten ernstlich, den hoffnungslosen Kampf abzubrechen.
Da tauchte plötzlich die schon vergessene Heulfrieda wieder auf und ward von Freund und Feind mit johlendem Gelächter begrüßt. Aber sie ließ sich das nicht anfechten. Unerschrocken ging sie in die vorderste Reihe und begann mit einem Eifer das Gefecht, als wollte sie allein den Hügel nehmen.
Als keiner der Vierten ihr recht zu Hilfe kam, schrie sie mit einem Male laut und trotzig:
»He, vorwärts, ihr Vierten, ihr Waschlappen, mich könnt ihr einseifen, aber den Hügel rauf – das könnt ihr nicht, ihr lumpigen Feiglinge! Ihr Memmen!«
Alles war starr, auch die Gegner staunten über die Heulfrieda, die jetzt wie ausgewechselt war. Unentwegt stand sie vorn im dichtesten Kugelregen, ja, rückte gar unverzagt Schritt für Schritt vor, obwohl die Bälle nun hageldicht auf sie niederprasselten. Die Frieda schien mit der Einseifung, gleich dem Drachentöter Sigurd, ein Hornbad genommen zu haben, sie schien überhaupt nichts mehr zu fühlen. Von Zeit zu Zeit sah sie sich nur herausfordernd um, ob die Parteifreunde auch wirklich Schritt hielten, und siehe, sie folgten wirklich. Von der kleinen Heulfrieda wollte sich keiner ausstechen lassen.
Da sah Gottfried seinen Feind, den Pastormatthes, hinten stehen, wie er sich noch immer das getroffene Auge auswischte. Mit einer, vor innerer, langersehnter Genugtuung fast jauchzenden Stimme schrie er ihm höhnisch zu:
51 »Nu, Matthes, du lappiger Drückeberger, hast wohl genug, du Memme da hinten? Willst du nicht mal den Göcking einseifen? Bei mir wars halt kein Kunststück!«
Göcking war der Stärkste der dritten Klasse. Er lachte jetzt schallend zu Friedas freundlichem Vorschlag, zugleich rief er seinem Rivalen höhnisch ermutigend zu:
»Hier bin ich, nur zu!«
Matthes ließ sich so etwas nicht zweimal sagen, noch dazu von der Heulfrieda. Wie ein Berserker stürmte er jetzt abermals vor, sein Auge und alles vergessend, gerade auf Göcking los, packte ihn ohne weiteres um die Taille und warf ihn mit mächtigem Ruck den Hügel hinab, mitten unter die darob laut aufjubelnde Schar der Vierten.
Gottfried ärgerte sich über diesen Erfolg des Matthes, auch er brach nun vor, faßte den nächsten besten mit wilder Wut und stieß ihn gleichfalls den Berg hinab. Ein donnerndes: »Bravo Heulfrieda!« war die Belohnung seiner Klasse, die nun mit lautem Hurra den beiden Führern folgte.
Ein gewaltiger Schrecken befiel die Dritten, ihr Zentrum war durchbrochen, noch ein paar wurden gefaßt und den Berg hinuntergeworfen, andere gaben Fersengeld, die letzten wurden gefangen genommen und auf des schier unersättlich rachsüchtigen Gottfrieds Befehl sofort eingeseift oder als Schneemumien den Hügel hinabgewälzt. Der Sieg der Vierten war unumstritten, und der völlig zersprengte Feind verließ unter dem Schutze der hereinbrechenden Dämmerung eiligst das Schlachtfeld.
Die Vierten umringten jauchzend ihre beiden Anführer und wollten vor allem Gottfried gratulieren, doch der stand breitbeinig und wie in Gedanken versunken in der Mitte und rührte sich nicht. Erst als Ibikus ihm vertraulich auf die Schulter klopfte und ihm die Hand mit den Worten bot: »Donnerwetter, Heulfrieda, das hast du fein angedreht,« 52 da reckte er sich empor und sagte mit grimmiger Entschlossenheit: »Ich bin keine Heulfrieda mehr! Ich danke!«
Alles horchte auf.
Ibikus wollte ihm seine Anerkennung ob des mannhaften Entschlusses aussprechen und sagte wieder in der besten Absicht: »Bravo, Heulfrieda, das gefällt mir!«
Wie ein Panther sprang Gottfried auf ihn los, packte ihn am Genick, schüttelte ihn heftig und schleuderte ihn schließlich so unsanft den Abhang hinab, daß Ibikus sich im Fallen überschlug.
Die Vierten waren sprachlos vor Staunen. War dieser wilde Raufbold die bisherige kleine, zahme Heulfrieda? Nein, sie war es nicht, oder wollte es ernstlich nicht mehr sein, denn kaum war Ibikus zur Tiefe gefahren, als Gottfried blitzenden Auges vortrat und laut und unerschrocken seinen Kameraden zurief: »Wer mich noch einmal Heulfrieda oder überhaupt Frieda nennt, dem geht es wie Ibikus!«
Und keiner wagte es mehr, den ominösen Namen auszusprechen, denn für den Augenblick, – das sah ein jeder, – war mit dem aufgeregten Gottfried nicht gut anbinden.
Selbst Matthes, der ihm die Memme von vorhin nicht vergessen hatte, schien dieser Ansicht zu sein, denn er verkniff sich nicht nur die Rache, sondern erklärte sogar laut vor allen Vierten: »Toller Kerl! Der kleine Vorsteher!«
Von dieser Stunde an galt Gottfried als der zweite Führer der Vierten, und nicht lang, so gab es zwei Parteien in der vierten Klasse: Die Vorsteher- und die Pastorpartei. Der erste Parteigänger der Vorsteherpartei war merkwürdigerweise der von Gottfried so hart gezüchtigte Ibikus, der dem Nachbar von der neuen Gasse nichts nachtrug.
53 Der schon lang in Gottfried schlummernde Zug der Herrschsucht loderte nun mit fast elementarer Gewalt empor.
Wie alle gewaltsamen seelischen Wandelungen hatte auch die Gottfrieds zunächst eine Übertreibung zur Folge. Er setzte etwas darein, forsch und frech aufzutreten. Der frühere Einspänner war nicht wieder zu erkennen. Überall drängte er sich vor. Sein Stolz wuchs sich überraschend schnell zum glühenden Ehrgeiz, sein Mut zur blinden Tollkühnheit aus, und es kam jetzt oft vor, daß er allerlei Schrammen und Wunden mit nach Hause brachte, deren sich dann die gütige Großmutter, die sich über ihren kecken Jungen im stillen freute, freundlich annahm.
Herrisch trat Gottfried jedem Klassenkameraden entgegen, der ihm zu widersprechen wagte. Er suchte oft geradezu Händel, gleich als brauche er Prügelübungen, und so erhielt er nicht mit Unrecht den neuen Spitznamen: Unfried.
Nur dem Rivalen, dem starken Pastormatthes, wich er geschickt aus, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Es war, als wollte er seine noch ungenügenden Kräfte erst langsam stählen für den Entscheidungskampf um die Vorherrschaft in der Klasse, nach der er ganz deutlich trachtete. In den vielen Schneeschlachten, die der harte Winter von 75 auf 76 noch brachte, behauptete er seinen einmal gewonnenen Ruf mit Zähigkeit. Was ihm an Körperkraft abging, ersetzte er durch Unerschrockenheit, Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit. In diesen drei Eigenschaften lag jetzt seine Stärke.
Das zeigte sich besonders im Frühjahr, als das Nationalspiel der Herrenfelder Buben »Räuber und Gendarm« wieder begann. Die Gendarmerie ward hauptsächlich von der Pastorpartei gestellt, während die Vorsteherpartei für gewöhnlich die Rollen der Räuber zu spielen hatte.
Bessere, listigere und verwegenere Räuber als Gottfried Kämpfer und seinen Flügeladjutanten Ibikus konnte man sich kaum vorstellen. In der Parteileitung war ihm 54 freilich der besonnenere Matthes überlegen; der büßte selten einen seiner Leute ein, während die Leutchen des Räuberhauptmanns Unfried, – so lautete bald sein Kriegsname – sich zu sehr verstreuten und darum leicht weggefangen wurden. Meist wurden sie jedoch vom Hauptmann und seinen Auserlesenen mit großer Schlauheit und Verwegenheit wieder befreit. Unfried selber oder Ibikus gefangen zu nehmen, glückte den Gendarmen fast nie, denn die beiden Nachbarn von der neuen Gasse, die sich, seit sie Freunde geworden, in Großmutters Garten und den umliegenden Örtlichkeiten eifrigst in der Räubertaktik ausbildeten, erlangten bald eine indianerartige Gewandtheit und Ausdauer, vor allem kam ihnen die völlige Beherrschung des Terrains sehr zu statten.
Das Verhältnis der beiden Räuber zu einander war sonderbar.
Ibikus war in allen praktischen Dingen ohne Frage der Geriebenere; von Jugend auf daran gewohnt, überall frei herumzustrolchen, hatte er meist auch Anlaß gehabt, sich nicht unnötig dabei sehen zu lassen. So verstand er es wunderbar, sich in Deckung zu halten, und brachte alle seine dafür in Frage kommenden Kniffe dem lernbegierigen Vorstehersohne bei. Es freute ihn offenbar, einen Menschen zu haben, dem er, der höchst mittelmäßige Schüler, einmal eine gewisse Lehrautorität sein konnte. Anderseits schmeichelte es dem Proletarierjungen, den sozial hoch über ihm stehenden Herrensohn zum Kumpan haben zu können, namentlich seit Gottfried sich in der Klasse zu Ansehen gebracht hatte.
Räuberhauptmann Unfried wiederum war froh, einen zuverlässigen Adjutanten zu haben, der als Generalstabschef wie als Bursche in gleicher Weise zu brauchen war und mit scheinbar germanischer Mannentreue nur für den Ruhm des Führers kämpfte. Geistig und charakterlich war Gottfried, der sich jetzt erst wirklich frei ausleben konnte, dem bei 55 aller Durchtriebenheit beschränkten Ibikus überlegen und fühlte das selbst instinktiv. Ganz abgesehen von der formalen Schulbegabung, die man nach den Plätzen feststellen konnte, war seine Denkungsweise von vornherein selbständiger, ideenreicher, rücksichtsloser, ja man konnte geradezu sagen, brutaler als die des bei aller Frechheit ängstlichen Totengräbersohnes, in dessen Leben Licht und Wärme stets gefehlt hatten. Das Vollblütige und das Freie, das selbstbewußte Herrische, das sich bei Unfried mit jener elementaren Wucht entwickelte, die nur ein vorangegangener Zwang erzeugt, imponierte und fesselte Ibikus unwillkürlich.
Bei einem scheinbar unbedeutenden Abenteuer, das übrigens den Ruhm des Hauptmanns Unfried in der ganzen Schule bekannt machte, zeigte sich dieser unbändige Freiheitstrotz besonders deutlich. Ganz ungewöhnlicher Weise war es eines Tages Matthes und seinen Gendarmen gelungen, Unfried und Ibikus, die Unzertrennlichen, zu umzingeln, da beide nach gewohnter Weise auf hohe Bäume zum Ausspähen geklettert und dabei gestellt worden waren. Ibikus war nach langwierigen Verhandlungen zur Ergebung bereit, da man ihm versprochen hatte, ihn nicht, wie üblich, zu fesseln.
Hauptmann Unfried dagegen wies alle Anerbietungen schroff ab, ja er forderte die untenstehenden Gegner noch höhnisch auf, ihn doch herunterzuholen, wenn sie ihn haben wollten.
Die Gendarmen waren empört. Zwei ihrer besten Kletterer klommen nacheinander hinan, hatten allerdings kein leichtes Spiel, da Gottfried erst mit verzweifelter Rücksichtslosigkeit möglichst viele Stützpunkte abzutreten suchte, dann die Nachkletternden, wo es nur irgend anging, unbarmherzig auf Kopf und Hände trat. Trotz alledem wurde er immer mehr in die Enge, d. h. auf die Spitze hinauf getrieben. Die Äste da oben wurden immer dünner, 56 und auch der Wipfel der Tanne schwankte bedenklich hin und her. Gottfried sah es wohl, aber gerade hierdurch kam sein erfinderischer Geist auf einen neuen Ausweg zur Rettung. Dicht neben der Tanne stand eine schlanke Kiefer, mit hoher, buschiger Krone. Schon mehrfach hatte er einige ihrer Nebenzweige gestreift. Bei kräftiger Pendelbewegung ließ sich vielleicht an einen Hauptzweig herankommen. Und richtig, nach einem ersten mißglückten Versuch konnte er den Hauptast fassen und auf die Kiefer übersiedeln.
Unter den Gendarmen unten war eine gewaltige Aufregung über dieses tollkühne Wagnis, die gefangenen Räuber dagegen jubelten ihrem kecken Hauptmann freudig zu.
Matthes, der als Kommandierender zusah, war schlechthin starr über die affenhafte Verwegenheit des Rivalen, aber entkommen sollte ihm dieser trotzdem nicht. Matthes überlegte. Seine zwei besten Leute waren auf der Tanne, nur drei schwächere standen als Posten bei den zahlreichen Gefangenen; die anderen waren unterwegs. Und schon kam Gottfried munter die glatte Kiefer herab. Schnell entschlossen kletterte Matthes ihm entgegen, worauf sich Gottfried schleunigst wieder in seine Kiefernkrone zurückzog und sich anschickte, den Nebenbuhler mit einem abgebrochenen Zweige in der Faust zu empfangen. Zugleich sah er sich nach einem neuen Ausweg um, vielleicht ließ sich das Übersiedeln wiederholen. Und in der Tat, ungefähr in der Mitte des Kiefernstammes ragte der starke, weitgeschweifte Zweig einer Schutztanne herüber. Wenn man sich fest an ihn klammerte, konnte man vielleicht ungehindert zu Boden gleiten, da der Zweig sich doch biegen würde. Also vorwärts!
Schnell kletterte Gottfried wieder ein Stück hinab, nicht ohne dem Matthes freundlichst zu versichern, er würde ihm den Schädel eintreten, wenn er weiter herauf käme. Und Matthes, ein schlechter Kletterer, dem bei dem 57 Hinaufklimmen an dem glatten, astlosen Kiefernstamme bereits der Atem auszugehen drohte, hielt wirklich inne. Diesen Moment benutzte Gottfried, um an die kritische Stelle zu gelangen. Der Tannenast war freilich sehr schwach für seine Länge, aber was tats – lieber herunterpurzeln, als sich ergeben, noch dazu dem Matthes, seinem Todfeind. Und so packte er den harzigen, stachlichen Zweig mit beiden Händen, ließ sich von der Kiefer mit den Beinen los und sauste hinab, während die unter ihm befindlichen Zuschauer einen gellenden Schreckensruf ausstießen.
Ziemlich wohlbehalten kam Gottfried bei Mutter Erde an. Der Zweig brach allerdings mit lautem Krach, aber er riß nicht ab, hemmte vielmehr dadurch die Wucht des Schwunges, so daß der kühne Schwinger auf alle Viere zu fallen und mit dem Schreck und der Freiheit davon kam.
Ja, ein weiterer Erfolg schloß sich der verwegenen Tat an. Ibikus hatte heimlich zwei seiner Mitgefangenen losgekoppelt. Mit ihnen stürzte er sich nun auf die drei schwächlichen Bewachungsgendarmen, überwältigte sie, befreite die letzten Räuber, und ehe noch Hilfe von der Besatzung der Bäume kam, waren die Räuber mit ihrem Raube auf und davon.
Gottfrieds Heldentat, die bald noch gewaltig übertrieben wurde, machte ihm in der ganzen Schule einen gewissen Namen. Nicht mehr der starke Matthes, sondern der kleine Vorsteher wurde vielfach außerhalb der Klasse als das Haupt der Vierten angesehen.
Matthes selbst bemerkte das gelegentlich, und nun erwachte auch in seiner trotzigen, aber sehr phlegmatischen Seele das häßliche Gefühl des Neides und der Eifersucht. Dazu kam, daß Gottfried, je mehr sein Ansehen stieg, um 58 so weniger Grund zu haben glaubte, dem Pastorsohne irgendwie entgegen zu kommen, sobald einmal ein Zank zwischen ihnen ausbrach. Zu Tätlichkeiten kam es zunächst noch nicht, weil jeder eine stattliche Partei hinter sich hatte, und Schlägereien innerhalb der eigenen Klasse tunlichst vermieden wurden. Zum Prügeln waren ja die anderen Klassen da.
Im allgemeinen war der gutmütige, wenn auch grobe Matthes beliebter als der heißblütige, herrschsüchtige Gottfried; dennoch ward der Einfluß des Matthes zusehends geringer, namentlich, nachdem der kleine Vorsteher zu Ostern zu all seinem Glück auch noch Klassenprimus geworden war und diesen Platz sogar drei Monate hintereinander behauptete. Gottfrieds Ehrgeiz war nicht der des Musterschülers, nicht aus Fleiß oder gar aus Pflichtgefühl strengte er sich an, sondern lediglich um den anderen zu imponieren, ganz besonders aber, um den dicken Matthes damit zu ärgern, der langsam, aber rettungslos zu den Ultiknöpsen hinabrutschte.
Schließlich sank durch einen unglücklichen Zufall die Wage des Schulansehens vollends zu Ungunsten des Pastormatthes. In der Frühstückpause ward im Anstalthofe täglich »Letzten« gespielt. Matthes »hatte ihn,« den Letzten nämlich, und steuerte gleich einer stolzen Fregatte mit dem Volldampf der Eifersucht hinter Gottfried her, der geschickt wie ein kleiner Aviso hin- und herkreuzte, um den überlegenen Verfolger zu ärgern und zu ermüden.
Gottfried war kein sehr schneller, aber ein überaus gewandter Läufer, dem namentlich in dem Gedränge des frühstückenden Schulpublikums nicht so leicht beizukommen war. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß Matthes gelangweilt und unverrichteter Dinge die Jagd auf seinen Nebenbuhler aufgegeben hätte; heute jedoch sah man seinen feindlich entschlossenen Mienen an, er wollte durchhalten und keinen Pardon geben.
59 Der Anstalthof war ein unregelmäßiges Polygon und hatte an seiner Ecke eine Ausfahrt, vor der ein weiter, freier Raum sich dehnte. Hier hinaus Gottfried zu treiben, war des Pastormatthes wohlüberlegte Absicht, da er wußte, daß er im geraden Laufe dem Gegner an Schnelligkeit überlegen war, während Gottfried ihn hier auf freiem Felde nicht so durch seine Bogen foppen konnte. Der pfiffige Gottfried durchschaute jedoch schnell den Plan und blieb vorsichtig im schützenden Gedränge.
Da wurden andere Schüler aufmerksam, man ergriff Partei. Die meisten waren für Gottfried, der durch seine Zierlichkeit im Ausweichen die Lacher auf seine Seite zog.
»Tolpatsch! Tolpatsch!« riefen die Parteigenossen des kleinen Vorstehers, Ibikus voran, dem Pastormatthes zu.
»Feigling, Drückeberger« kam es von dessen Getreuen auf Gottfried zurück. Der spitzte die Ohren: er sollte feige sein? Niemals! Mit geschicktem Sprung verließ er das Gewühl und schoß hinaus ins Freie. Der vor Anstrengung und Ärger schon keuchende Matthes ihm nach.
Die große Menge der Schüler drängte vor bis an die Ausfahrt.
Gottfried lief zunächst gerade aus, gleich als wollte er die Schnelligkeit des Verfolgers prüfen, und Matthes, der neuen Mut geschöpft, näherte sich ihm auch nach und nach, es galt also für Gottfried die Taktik zu ändern. Zunächst wollte er den Gegner demütigen. Er schlug einen kurzen Bogen, stellte sich dann breitbeinig und ruhig hin, mit gekreuzten Armen wie ein Torreador, der den wütenden Stier erwartet. Matthes hoffte schon im stillen, der kleine Vorsteher gebe das Spiel verloren, frohlockend kam er heran, holte siegesgewiß zum Schlage aus – doch er schlug in die Luft, mit haarscharfer Wendung war ihm sein Edelwild entwischt.
Alles lachte und spottete, Matthes ward dunkelrot vor Zorn und Scham. Gottfried hätte jetzt sehr wohl in den 60 Hof flüchten können, aber er war übermütig, der Appetit kam über dem Essen. Noch zweimal vollführte er denselben Kniff mit gleichem Glück, kam dabei freilich immer weiter hinaus. Endlich mußte er an Umkehr denken.
Matthes durchschaute diese Absicht und suchte ihm den Weg abzuschneiden. Zweimal gelang es ihm auch, doch jedesmal rettete sich Gottfried durch ein geschicktes Ausweichen, nur zum Hof kam er nicht. Und er mußte zurück!
Zum dritten Mal schoß der blindwütige Matthes an ihm vorbei, plötzlich brach Gottfried durch in gestrecktem Lauf. Jetzt galts! Sausend näherten sich beide Läufer der Einfahrt, an der ein großer Prellstein lag. Fünf Schritte noch, und Gottfried war gerettet. Alles jauchzte, – alles wich schon aus, um den Flüchtling einzulassen. Noch zwei Schritte, – da machte der rasende Matthes einen letzten, gewaltigen Satz, und – mit fester Faust schlug er triumphierend den freiheitraubenden Schlag in den Nacken Gottfrieds.
Mochte der Schlag des durch die Foppereien erbosten Jägers zu derb gewesen sein, – mochte Gottfried gestolpert sein oder ihn die Kräfte im Moment des Unterliegens verlassen haben – wer konnte es genau angeben – jedenfalls stürzte der kleine Vorsteher jäh zu Boden und schlug lang hin, mit dem Kopfe gerade gegen den scharfkantigen Prellstein.
Alles schrie auf. Matthes selbst erschrak des blassen Todes und sank unwillkürlich über sein gestürztes Opfer hin, dem sofort das helle Blut über die Stirn zu rieseln begann.
Ein Lehrer erschien, hob den ohnmächtigen Gottfried auf, trug ihn zum Brunnen und legte ihm schnell ein nasses Tuch auf die klaffende Wunde. Dann schickte man zu den Eltern, um sie vorzubereiten, und brachte den Gestürzten schleunigst ins Vorsteherhaus.
Der Vorsteher war nicht zu Hause. Als Frau Angelika Kämpfer den Zug kommen sah, wollten ihr die Knie 61 wanken, aber die Großmutter stand ihr hilfreich und besonnen bei. Und so empfingen die beiden Frauen den Verletzten, der noch immer nicht die Augen aufgeschlagen hatte.
Der Doktor wurde sofort geholt, er beruhigte schnell die aufgeregte Mutter, während die alte Baslerin schnell gefaßt zu ihm meinte:
»Glaubs schon, Herr Doktor, bin auch gar nicht ängstlich. So ein rechter, solider Bubenschädel verträgt schon einen tüchtigen Puff!«
Und dann flüsterte sie, damit es ihre Tochter nicht hören sollte: »Unkraut verdirbt nicht!«
Es war in der Tat nicht halb so schlimm, wie es anfangs schien. Als der Vorsteher bestürzt nach Hause kam, war die Wunde bereits zugenäht und gut verbunden, und auch Junker Gottfried, der über den Nadelstichen mit verschiedenen »Au's« und »Ei's« ins Leben zurückgekehrt war, schaute schon wieder mit hellen Augen nach den an der Wand spielenden Lichtern der Morgensonne und freute sich, daß der gestrenge Vater ihm diesmal nicht wie üblich die Leviten las, weil die besorgte Mutter sich sofort ins Mittel legte.
In der Schule herrschte eine weit größere Aufregung. Einige Hitzköpfe nannten den Pastormatthes einen Mörder, andere waren ernstlich zum Lynchen aufgelegt und regten den Gedanken an, dem Missetäter Klassenkloppe zu geben, während dem Unglücksmenschen selbst vor Schuldgefühl und Zerknirschung dicke Tränen in den Augen standen. Gleich nach der Schule trabte er zum Vorsteherhaus und erkundigte sich, an allen Gliedern zitternd, nach Gottfrieds Befinden.
Als ihm die Großmutter freundlich mitteilte: es sei gar nicht so schlimm, er solle sich nur trösten, da küßte er der alten Dame vor überseligem Glück die runzligen Hände, lief auf die Straße zurück, erzählte es allen Kameraden, 62 und jedem, der es hören wollte: der kleine Vorsteher würde nicht sterben!
Schließlich ging er zu seinem Vater, um sich freiwillig zur Bestrafung zu melden. Pastor Friesen war tödlich erschrocken, da er noch nichts von der ganzen Sache erfahren hatte, ja der Schreck hinderte ihn sogar an der Ausübung der väterlichen Gerechtigkeit. Er klagte nur bitter über seinen verlorenen Sohn, zitierte eine herzhafte Stelle aus den Sprüchen Salomonis, nahm seinen Hut und eilte spornstreichs zu seinem Kollegen, um ihm sein herzlichstes Beileid auszudrücken und ihm die härteste Bestrafung seines Matthäus in Aussicht zu stellen. Der Vorsteher lächelte über den aufgeregten Gemeinhelfer und meinte belustigt: »Na, lieber Bruder, die Sache ist ja noch gut abgelaufen, ich dächte, wir schenkten den beiden Übeltätern die wohlverdienten Hiebe, obwohl beide sie gebrauchen könnten.«
Als Gottfried Kämpfer drei Wochen später wieder in die Anstalt zurückkehrte, ward er geradezu mit Jubel begrüßt, teils aus der bekannten Sympathie, die jeder auf anständige, oder richtiger, auf ästhetische Weise Verunglückte genießt, teils aus Neugier, vor allem jedoch aus Zufriedenheit darüber, daß mit seiner Rückkehr das drückende Verbot des Letztenspiels wieder wegfiel.
Der kleine Vorsteher, der sich so plötzlich in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt sah, war jedenfalls sehr entzückt und entfaltete seinerseits nun alle Liebenswürdigkeit, die ihm, wenn er wollte, recht wohl zu Gebote stand.
Die Stellung des Pastormatthes in der Klasse, ja in der ganzen Schule, war durch das Ereignis endgültig erschüttert. Der Klassenkloppe war er glücklich entgangen, aber schlimmeres brach über ihn herein: Seine Partei 63 verließ ihn und ging mit fliegenden Fahnen ganz offen ins Lager des Vorstehersohnes über. Jedermann behandelte ihn wie einen Gebrandmarkten, dem gleichsam ein Kainszeichen an der Stirne haftete, und er selbst ward unsicher und unzufrieden und erwog im geheimen öfters den Gedanken, ob es nicht ratsam sei, auszureißen, anstatt die allgemeine Verachtung tragen zu müssen.
Seinem alten Nebenbuhler wagte er kaum noch offen ins Angesicht zu sehen, und Gottfried wiederum, – mochte er dem Gegner auch längst nicht mehr grollen, freute sich im stillen über dessen moralische Niederlage. Er setzte es sogar in wenig ritterlicher Weise durch, daß beim nächsten Spiel auf dem Kunkelberge Freund Ibikus zum Hauptmann der Gendarmen gewählt wurde.
Dadurch wurde er selbst zwar öfter gefangen genommen, denn der alte Kampfgenosse kannte die Schliche des neuen Gegners natürlich besser als der harmlose Matthes, – doch was tats, – Hauptmann Unfried erreichte dadurch vollends sein ersehntes Ziel; er war nun wirklich der vierten Klasse Oberhaupt. 64