Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Fünftes Kapitel

Bei Hofe

Ehrentraut Kämpfer war schon über ein Jahr in Herrenfeld und hatte sich mit Energie in die verschiedenen Gebiete seines umfangreichen Amtes eingearbeitet.

Auch die Herrenfelder wußten jetzt, woran sie mit ihrem neuen Vorsteher waren. Im allgemeinen war man zufrieden. Das eine wenigstens gaben alle Geschwister zu: Bruder Kämpfer sei ein tüchtiger, ruhiger und sehr fleißiger Beamter, der stets selber auf dem Posten stehe und für jedermann zu sprechen sei.

Einigen war er zu nüchtern und sachlich, anderen ein wenig gar zu genau und streng, das war man in Herrenfeld nicht gewohnt. Der »Bruder« sollte allzeit vor den »Beamten« gehen, das galt für hergebracht.

Schwester Neißer, eine alte Lehrerin, die gelegentlich einen bösen Mund hatte, fand eine Charakteristik für Bruder Kämpfer, die vielen einleuchtete: Er sei eine starke, schroffe Persönlichkeit, bei der man nicht ordentlich warm werden könne.

Etwas Wahres war daran. Für eine gewisse, unter dem schützenden Mantel der Brüderlichkeit sich verbergende Aufdringlichkeit, die Autorität und Unterschiede am liebsten 65 völlig beseitigt und gern mit dem Schlendrian und der Unlauterkeit Hand in Hand geht, war der neue Bürgermeister nicht zu haben. Er war Bruder in der Kirche und im Privatverkehr, im übrigen war er allerdings Beamter, mitunter sogar ein stark preußischer Beamter, kurz, unparteiisch und energisch.

Die scheinbar biedere, im Grunde anmaßende Formlosigkeit, – ein hervorstechender Charakterzug vieler Gemeingeschwister, namentlich der weniger gebildeten, – war seiner geraden, unbestechlichen, aber stolzen Natur ebenso zuwider wie die scheinheilige Heuchelei mancher Honoratioren und die sogenannte Sprache Kanaans mancher alten Schwestern, d. h. die überschwengliche Anwendung biblischer und gottseliger Phrasen. Derartiges konnte selbst diesen ruhigen Mann bisweilen aus der Fassung bringen.

Neben der nüchternen Sachlichkeit des Beamten war dem Vorsteher zugleich ein gewisser ästhetischer Formensinn eigen, und auch davon ließ er Herrenfeld bald ein wenig profitieren, zur großen Freude Bruder Friesens.

So wurden die weiten Buchenhecken des Platzes wieder regelmäßig beschnitten, die Platzrabatten neu bepflanzt, die versumpften Ortszisternen ausgeschlemmt und neu mit zierlichen Eisengittern eingehegt.

Seinem am ersten Tage gegebenen Versprechen gemäß nahm sich der Vorsteher besonders des Gottesackers an, für dessen Instandhaltung in der Tat einige Fonds vorhanden waren. Da die Zinsen der letzten Jahre nicht gebraucht worden waren, so konnte Ehrentraut Kämpfer mit gutem Gewissen gleich ordentlich in den Säckel greifen. Um nun die Friedhofsanlagen und Gräber besser instand halten zu können, kam er einem schon langgehegten Wunsche vieler Geschwister nach und ließ einen Brunnen, dicht beim Friedhof, graben.

Man hätte meinen sollen, daß er sich gerade dadurch das allgemeine Wohlwollen und die Dankbarkeit der Herrenfelder 66 erworben hätte! Gewiß, bei den besseren Elementen des Ortes war es auch der Fall, aber dennoch gab es einige demokratisch gerichtete Dunkelmänner, die über die Eigenmächtigkeit des verschwenderischen neuen Vorstehers heimlich maulten, ja ihm sogar Unannehmlichkeiten bei der Oberbehörde zu bereiten versuchten.

Das ersehnte Ziel, den neuen Vorsteher loszuwerden, wurde freilich nicht erreicht, denn Bruder Kämpfer handelte stets im Einverständnis mit seiner vorgesetzten Behörde; aber schon diese erste verfehlte Intrige trug dazu bei, das Verhältnis zwischen Vorsteher und Gemeine zu trüben, ja bei einigen Geschwistern eine gewisse Gespanntheit herbeizuführen, die sich im Laufe der folgenden Jahre auf seiten dieser Unzufriedenen zu einem absichtlichen Mißverstehen fast jeder Amtshandlung Bruder Kämpfers auswuchs.

Die Sorge um die Kirchhofsgräber, insbesondere um das Grab des Gründers der Gemeine, hatte den Vorsteher schon wenige Monate nach seiner Ankunft hinaus nach Tannewitz zum Oberst von Karpnitz geführt.

Der erste Besuch war naturgemäß nicht weniger förmlich ausgefallen als die meisten dieser Antrittsvisiten auf den umliegenden Schlössern. Dennoch lautete das Urteil der Edelleute, bei Gelegenheit des ersten großen Jagddiners, auffallend günstig über den neuen Vorsteher von Herrenfeld.

Dem Landrat von Knackwitz hatte die kühle Reserve, dem Husarenoberst von Karpnitz die soldatisch stramme Haltung, dem ehemaligen Diplomaten Grafen Hauenstein die für einen Moraven ungewohnte Salonfähigkeit des Monsieur Kämpfer gefallen, und der alte Krachten, ein gelehrtes Original, erklärte sogar mit Verve: »Der Vorsteher ist ein ganz gescheuter Kerl, obwohl er doch nur ein ganz gewöhnlicher Koofmichel ist.«

Als nun Schwester von Rüpell, die gelegentlich in ihrem stillen Herrenfelder Witwensitz ständische Soireen abhielt 67 und eine sehr maßgebende Dame war – da sie außer dem gothaischen Hofkalender und der Armeerangliste auch die Genealogie der meisten Gemeinfamilien beherrschte – feststellte: die Mutter des p. p. Kämpfer wäre eine geborene von François gewesen, übrigens eine Stieftante des bei Spichern gefallenen Generals, – da war man sich völlig darüber einig, daß man mit Vorsteher Kämpfer verkehren könne.

Weniger günstig lautete anfangs das Urteil über seine Frau, die man noch nicht näher kannte, da der Vorsteher sie bei seinen amtlichen Besuchen nicht mitgenommen hatte. Von auswärts hatte man nämlich gehört, daß die Madame Kämpfer eine etwas hochnäsige Fabrikantentochter sein sollte, nebenbei sei sie nicht häßlich.

Unter Fabrikanten stellte man sich in diesen Kreisen des schlesischen Adels entweder reich gewordene Webermeister oder Berliner Spekulationsjuden vor, jedenfalls protzenhaft aufgeblasene Parvenus mit schlechten Manieren und schlechter Gesinnung, Leute, die den Adel im Aufwand überbieten wollten, ohne dessen patriarchalischen Tugenden ebenfalls nachzueifern. An die solide Vornehmheit des mindestens ebenbürtigen Patriziats altdeutscher Reichsstädte wie Basel dachte man nicht im entferntesten.

Mehrere Monate darauf, als man Frau Angelika bei den Gegenbesuchen im Salon oder richtiger gesagt, in der guten Stube des Vorsteherhäuschens, das mit all der schlichten Behaglichkeit eines durchgebildeten Geschmacks eingerichtet war, persönlich kennen gelernt hatte, schlug das anfängliche Urteil sehr rasch um. Die adligen Damen fanden sie entschieden besser als ihren Ruf, die Herren versicherten sogar allgemein, noch nie eine charmantere und liebenswürdigere Moravin gesehen zu haben.

Infolgedessen wurden nun Kämpfers, – eine solche Ehre war bisher nur Friesens, die noch halb und halb 68 zum Adel gerechnet wurden, zuteil geworden – bei Schwester von Rüpell eingeladen. Dieser erste Versuch durfte als völlig gelungen bezeichnet werden, ward von anderen wiederholt, und bald galten Kämpfers in den keineswegs unwichtigen, aristokratischen Kreisen Herrenfelds und seiner Umgegend für präsentabel.

Die unvermeidliche Folge davon war, daß Bruder Kämpfer von den Demokraten Herrenfelds heimlich für einen servilen Höfling erklärt wurde. Der Tapezierer und Sattlermeister Bruder Seewolf, ein ganz Kluger, der einen streng biblischen Buchstabenstandpunkt mit republikanischen Gelüsten recht wohl zu vereinigen wußte, orakelte sogar eines Abends am Brüderhausbiertisch unter atemloser Spannung seiner Anhänger:

»Liebe Brüder, ihr sollt sehen, wenns so weiter geht, bekommen wir wieder ein aristokratisches Regiment wie anno dazumal. Die Konferenz kriecht nächstens vor dem Adel, die Schwestervorsteherin ist selber adlig, Friesen – bei dem ists schließlich kein Wunder, Blut ist Blut – unser neuer Brüderpfleger war mal Hauslehrer bei irgend nem Grafen, der Mädchenanstaltsdirektor ist ein ausgemachter Adelsschwanz, der sogar vor jedem gedruckten Von einen Bückling machen soll – na und nun dieser Vorsteher – der fängt erst gut an. Da war Bruder David ein anderer Mann, der pfiff auf den Adel, der Kämpfer buhlt dagegen um seine Gunst! Liebe Brüder, ich sage euch, wir gehen schweren Zeiten entgegen.«

Betroffen schwiegen die Zuhörer, schüttelten ingrimmig die weisen Häupter und tranken langsam ihre Gläser aus.

 

Eines Tages machte der Oberst von Karpnitz dem Vorsteher seinen Gegenbesuch, natürlich ohne Frau. Er kam 69 nicht im Zylinder und schwarzen Rock, sondern in Joppe und Jägerhut, ganz von ungefähr, wie er sagte. Er ließ sich auch nur im Amtszimmer des Vorstehers melden, war jedoch sehr herzlich und ungeniert. Insonderheit schien er des Grabes wegen gekommen zu sein, zu dessen endgültiger Restaurierung er sich noch immer nicht hatte entschließen können, da er in pietätvoller Rücksichtnahme den Grabesfrieden seiner Ahnen nicht gern stören wollte. Jetzt bat er den Vorsteher, mit ihm eine genaue Besichtigung des Grabes vorzunehmen, und so gingen beide Männer hinaus auf den herrlichen Friedhof, durch dessen hochgewölbte Lindenkronen die warmen, weichen Strahlen der Nachmittagssonne fluteten.

Der Oberst galt für einen praktischen Mann, namentlich für einen vorzüglichen Landwirt und Forstmann. Als die beiden die stille Laubhalle der Gottesackerallee dahinschritten, kam das Gespräch unwillkürlich auf die schönen, stolzen Linden zu beiden Seiten der Hinwandelnden. Der Oberst meinte:

»Es ist schade, daß die herrlichen, alten Bäume, wenn man nicht beizeiten Vorkehrungen trifft, über kurz oder lang durch neue ersetzt werden müssen.«

»Warum ersetzt?« fragte der Vorsteher verdutzt, »diese Linden sind kaum 150 Jahre alt, sie können wohl noch 100 Jahre aushalten. 250 Jahre ist doch kein ungewöhnliches Alter für eine Linde.«

»Gewiß, mein lieber Vorsteher. Ein gutes, namentlich freistehendes Exemplar hält schon seine 300 Jahre und darüber aus. Aber Alleebäume – vollends wie diese hier, die allzusehr in die Höhe gezogen worden sind – das ist etwas anderes. Sehen Sie sich mal so einige Exemplare an: wieviel starke Zweige sind da in den letzten Jahren ausgebrochen? Passen Sie auf, – beim nächsten großen Herbststurm – da kracht wieder manch ein herrlicher Kernast herunter – schade drum!«

70 »Ja, Herr Oberst,« fiel der Vorsteher wieder ein, »aber was ist dagegen zu machen? Es ist wohl wahr, den einen Herbst, den ich hier erlebt habe, hatten wir an zwei Klafter Holz allein von abgebrochenen Ästen. Tat mir auch leid. Doch sprachen Sie nicht eben von Vorkehrungsmaßregeln?«

»Nun ja. Das einzige, was man tun kann, ist eben, die Bäume kappen. Natürlich nicht alle auf einmal, sondern so allmählich, die schwachen Bäume zuerst, und dabei gilts wiederum die ältesten und längsten Zweige herauszusuchen. Das muß ein gewiegter Fachmann angehen. Übrigens wenn Sie mal daran dächten, würde es mir ein Vergnügen sein, Ihnen einen erfahrenen Förster, der das sehr gut los hat, zu senden. Ich meine nur, wenn Sie wirklich Lust hätten, auf meinen Rat einzugehen.«

»Gewiß, sehr gern,« versetzte der Vorsteher zuvorkommend, obwohl ihm der Plan etwas überraschend kam »Ich denke doch, die Sache wird keine Schwierigkeiten machen, ich werde sie demnächst im Ältestenrat und bei meiner Behörde in Anregung bringen, und sollte es soweit sein, so würde ich Ihnen für die Unterstützung durch Ihren Förster sehr dankbar sein, Herr Oberst!«

»O bitte, bitte, lieber Vorsteher. Für dergleichen Angelegenheiten stehe ich Ihnen jederzeit gern zu Diensten. Sehen Sie, wir Karpnitze haben doch auch ein gewisses Interesse, ich möchte sagen, berechtigtes Interesse an diesem Gottesacker.«

»Sicherlich, Herr Oberst, die Gemeingründung –«

»Nee, nee, das will ich gar nicht mal in Anrechnung bringen. Aber wir liegen doch schon seit sechs Generationen hier begraben, und meine Frau und ich, – vielleicht auch meine Kinder und Kindeskinder – wir werden auch mal hier liegen, na also – da interessiert man sich doch für den Ort.«

»Aber selbstverständlich, Herr Oberst.«

71 »Na und nebenbei will ich sehr gern hier liegen,« fuhr der gesprächige Edelmann fort, indem er nach seiner Angewohnheit immer wieder stehen blieb und den Vorsteher leise am Rocke faßte, als wollte er ihn noch für eine besonders wichtige Mitteilung festhalten. »Ich liebe diesen Gottesacker ungemein, er ist für mich der schönste, der traulichste, ja der heiligste Ort der Welt, nicht nur weil meine Eltern und Vorfahren hier liegen, sondern weil hier wirklich ein Frieden waltet, wie nirgend zum zweiten Male in der Welt. Und dann noch eins: man hat das beruhigende Gefühl, der arme, müde Leib schläft hier seinen langen Schlaf bis zur Auferstehung wirklich ungestört. Die liebe Brüdergemeine, zu der ich ja aus mancherlei Gründen nicht direkt gehöre, mich aber zu ihren besten Freunden rechnen darf, wird hoffentlich noch recht lang bestehen, weil sie in ihren kleinen bescheidenen Grenzen bleibt und bleiben will. So lang sie besteht, wird der Frieden dieses Ortes gewahrt werden, ja vielleicht auch darüber hinaus durch den Schutz einer erhabenen Erinnerung. Und so liebe ich diesen Gottesacker, komme jeden Sommer gern einmal hierher und fehle an keinem der feierlichen Ostermorgen, dessen Gottesdienst mir nächst dem Abendmahl die erbaulichste Versammlung des ganzen Jahres ist.«

Unterdessen waren die Spaziergänger langsam an das gothische Friedhofstor gelangt, und vor ihnen lag in weihevoller Stille der nunmehr peinlich saubere Gräbergarten, auf dem die langen, schrägen Nachmittagsschatten wie müde Schläfer ruhten.

Der Oberst blieb verwundert stehen und betrachtete erstaunt die Umwandlung des Äußeren, auch den neuen Brunnen sah er oben von der rechten Ecke herüberblinken. Er musterte alles sehr genau mit seinen grauen Geieraugen, dann gab er dem Vorsteher herzlich die Hand und sagte warm:

72 »Sehr hübsch haben Sie das gemacht, lieber Bruder Kämpfer!«

Es war das erste Mal, daß der Oberst den Vorsteher in dieser gemeinmäßigen Weise anredete; es schien als eine Art Auszeichnung gelten zu sollen.

Bald darauf standen die beiden Männer vor dem Grabe des »Gründers«. Hier hatte der Vorsteher einen kleinen Schutzzaun anbringen lassen, einesteils um jedem Unglücksfalle vorzubeugen, andernteils um neugierige Untersucher fern zu halten.

Der Oberst sagte kurz: »Also so weit schon!« Dann sah er sich alles scharf prüfend an, stocherte auch an dem Loch und der es umgebenden Senkung herum, brummte halb ärgerlich, halb erstaunt vor sich hin, wiegte mehrfach den Kopf und entschied schließlich:

»Ist allerdings höchste Zeit, daß die Gruft nachgemauert wird. Ich bitte Sie nur, die Sache so machen zu lassen, daß bei der Öffnung der Gruft und während der Arbeit der Zutritt überflüssiger Zuschauer vermieden wird.« Der Vorsteher versprach dies gern, und damit war die Sache, die ohne jedes Aufsehen in den nächsten Tagen in Ordnung gebracht wurde, erledigt.

Der Husarenoberst schien an dem neuen Vorsteher, dessen ruhiges, sicheres Wesen ihm zusagte, ein besonderes Gefallen gefunden zu haben; wenigstens machte er noch am selben Nachmittage einen anderthalbstündigen Spaziergang mit ihm auf den Kunkelberg, ein kurzer Weg, der nur durch die eigenartige Unterhaltungsgepflogenheit des alten Offiziers – immer wieder stehen zu bleiben – so ausgedehnt wurde. Das für beide Teile höchst interessante Thema war die Aufforstung des Kunkelberges, der ebenfalls der Verwaltung des Vorstehers unterstand. Auch von dem neuen Plan einer Promenadenverbindung zwischen Gottesacker und Kunkelberg ward ein Langes und Breites gehandelt.

73 Als der Oberst dann endlich in seinen schon seit einer Stunde am Fuße des Kunkelberges wartenden Jagdwagen einstieg, trennten sich die beiden Männer voneinander fast wie zwei Freunde, und noch aus dem abfahrenden Wagen winkte der aufgeräumte Oberst ein lebhaftes »Auf Wiedersehen, Wiedersehen!« mit dem spielhahnfedergezierten Lodenhute zu.

Acht Tage später fuhr der Oberst von Karpnitz abermals beim Vorsteherhäuschen vor, diesmal im vierspännigen Galawagen in Begleitung seiner Frau; auch war er nicht im Jagdkostüm, sondern in Gesellschafttoilette. Er kam, um Herrn Vorsteher Kämpfer nebst Frau Gemahlin seine feierliche Aufwartung zu machen.

Vierzehn Tage darauf kam ein sehr freundliches Einladungsschreiben, in dem der Oberst den Vorsteher und seine Frau bat: sie möchten doch am nächsten Tage, schon um das schöne Wetter auszunutzen, nach Tannewitz herauskommen, »aber« hieß es darin, »bitte ganz sans gêne und auch die Kinder mitzubringen. Für Unterhaltung der Jugend ist gesorgt, der Wagen wird um zwölf Uhr mittags vorfahren.«

Für das Vorsteherhaus war das ein kleines Ereignis, und auch in der Erinnerung Gottfrieds spielte der bevorstehende Tag, – es war zum Glück ein Mittwoch, – eine bedeutsame Rolle.

 

Die Kinder des Kämpferschen Ehepaares schliefen in dieser Nacht nur wenig vor freudiger Aufregung.

Der kleine Guido fragte die Mama schon früh morgens um fünf Uhr, als das erste hellblaue Tageslicht sich schüchtern durch die schmalen Ritzen der Holzläden ins Schlafzimmer stahl: ob es also heute wirklich mit vier Pferden ins Schloß ginge. Und als die Mutter nickte, da griff er 74 mit den zarten Händchen vor Jubel in die Luft, klatschte und jauchzte: »Muttel, Muttel, denk nur, vier Pferde, dann hab ichs wie der große Klaus in Agnes Märchenbuch.«

Auch Gottfrieds robuste Bubenseele kam ein wenig aus ihrem gewohnten Gleichgewicht. Das Gefühl der Freude war allerdings bei ihm nicht vorherrschend, im Gegenteil, er hätte viel lieber mit Ibikus heute Nachmittag die jungen Eichhörnchen am Kunkelturme gejagt, die er gestern entdeckt hatte. Die Erwartung des Ungewissen beschäftigte ihn, und nicht gerade angenehm.

Wahrscheinlich würde alles schrecklich sein und zimperlich zugehen! Hatte ihm doch Großmutter, die viel auf gute Formen hielt, noch vorm Schlafengehen Komplimente und Handkuß eingeübt. Und dann – waren doch auch Junker da, wer weiß, wie die sein würden? So famos wie Ibikus jedenfalls nicht! Ob sie überhaupt Räuber und Gendarm spielen konnten? Schwerlich!

Aber die Fahrt konnte doch hübsch werden! Wenn er nur auf dem Bock sitzen dürfte, besonders wenn wirklich vier Pferde kamen, was ja noch gar nicht ausgemacht war.

Aber sie kamen wirklich! Alle Viere, kohlschwarz. Potztausend – gab das eine Aufregung im ganzen Örtchen! Zwar ein Magnaten-Vierspänner war nichts Neues in Herrenfeld, nur daß ein solcher Geschwister Vorstehers nach Tannewitz abholte, das war verblüffend neu, das war unerhört! Noch dazu mit Familie!

Aus dem unterhalb des Vorsteherhauses gelegenen Schwesterhause guckte daher die liebe Neugier, mit und ohne Häubchen, in hellen Haufen hälsereckend heraus. Jede wollte das sehen.

Schwester Neißer, die für eine Art wandelndes Nachrichtenbureau der Herrenfelder Fama gelten konnte, holte sogar ein altes, köstlich mit Silber geziertes 75 Schildplattfernrohr aus der Schublade, um damit ganz genau feststellen zu können: ob Schwester Kämpfer auch brav in der Haube fahre und ob sie wirklich das schwarzseidene angezogen hatte. Keines von beiden war der Fall. Schwester Kämpfer fuhr in Strohhut und hellem Sommerkleid, und doch war eins so empörend und ungemeinmäßig wie das andere.

Auch das oberhalb des Vorsteherhauses gelegene Witwenhaus öffnete zaghaft und vorsichtig einige mit frommen Milchglasbildern geschmückte Fenster. Die sonst so weltabgewandten Wittibchen wollten sich ebenfalls nichts von dem seltenen Schauspiel entgehen lassen.

Selbst einige ledige Brüder konnten nicht umhin, ihren ehrbaren Geschäftsgang für Augenblicke zu unterbrechen und ebenso feierlich Maulaffen feilzuhalten wie der halb dienstlich anwesende Ortspolizist und der außerdienstlich daneben stehende Seilermeister und Totengräber, des wackeren Ibikus Erzeuger. Bruder Schuster und Gevatter Böttcher endlich gaben dem verehrten Bruder Seewolf in ihrem Innern schon völlig recht und sagten leise und hämisch zu einander:

»Jetzt siehts doch wenigstens alle Welt, wie der Adelskriecher mit Vieren hoch daher fährt – schämen sollte er sich! Jawohl, ein Skandal ists für die ganze Gemeine!«

Gottfried kam wirklich auf den Bock zu sitzen und strahlte förmlich vor vergnügter Eitelkeit, umsomehr, als gerade die ganze Schuljugend, darunter eine Anzahl Vierte an der Straßenecke vorüberflutete und sofort sich staute. Und nun ergriff der tressengeschmückte, graubärtige Kutscher die lange, schwippende Peitsche, schnalzte scharf mit der Zunge, und die vier langschweifigen russischen Rappen setzen sich tänzelnd in Trab.

Der Ortspolizist und der Totengräber, zwei alte Grenadiere, schlugen unwillkürlich die Hacken zusammen, alle ledigen Schwesterchen und Wittiben reckten noch einmal die Hälse, und Schwester Neißer stellte schleunigst das Fernrohr um.

76 In weitem Bogen lenkte der Kutscher behutsam um die Ecke; noch einen gnädigen Gruß bot Gottfried von hohem Bocke herab seinen Mitschülern, die mit heimlichem Neid zu ihm hinauf starrten, und dann gings heidi »zum Städtle hinaus,« in frischem Trab, die endlose Kirschbaumallee entlang.

Mit weiten Nüstern sog Gottfried die herrliche, balsamische Luft ein, die von den blühenden, leise wogenden Feldern herüberwehte. Ihm war unsagbar wohl und frei zumute. Wie schön sah doch die liebe Gotteswelt vom Bocke eines solchen Vierspänners aus, namentlich im Sommersonnenglanze.

Schon so ein alltäglicher Bekannter wie der Kunkelberg bekam in diesem Momente etwas ungewöhnlich Stolzes und Vornehmes. Und nun gar der düstere, doppelhäuptige Angelberg mit dem heute ganz dunkelblauen, kapellengekrönten Zobten darüber und dem hohen Schweidnitzer Jesuiterturm daneben. Auch das Falkengebirge, bisher für den kleinen Herrenfelder Schuljungen nur ein toter Begriff der Heimatkunde, gewann nach und nach Leben, je näher man kam. Als man erst an der bekannten Chausseeecke am Dusterbusch vorbei war, – wo es abends spuken sollte, während jetzt von dort die Sprosser, Amseln und Hänflinge lieblich herüberflöteten, ja sogar ein richtiger Buntspecht sich einen hohen, weißen Birkenstamm hinaufhämmerte, – als schließlich noch ein fröhlicher Kuckuck endlose Jahre versprach – da war es Gottfried geradezu, als führe er ins offene Paradies.

Sausend ging es hinab in das muntere Waldtal der kleinen Leipa mit seinen saftgrünen Wiesen, auf denen große, gelbe Butterblumen leuchteten, mit seinen blühenden Brombeersträuchern und Weißdornbüschen, mit seinen zahmen Rehen. Herrlich!

Und dann stiegs wieder bergauf zu den leise und hohl rauschenden Föhren des Hochwaldes, der ziemlich steil nach 77 dem Leipatale abfällt, und über dessen rundlichen Wipfeln gerade zwei große, böse Raubvögel – der Kutscher nannte sie Bussarde – in majestätischen Kreisen schwebten.

Zwanzig Minuten darauf zogen die in der Sonne seidig glänzenden Rappen abermals kräftig an, und nun kam eine fast ebene Hochfläche, über der die einzelnen Berge und Bergstöcke des Falkengebirges schon ganz handgreiflich zu unterscheiden waren.

Am meisten interessierte den kleinen Vorsteher natürlich die Veste Kupferstein, die mit ihren gigantischen Bastionen wie eine drohende Höllenburg aussah, aus deren Mauern kein Entrinnen möglich schien. Und doch hatte Gottfried gehört, daß einmal ein mutiger Schornsteinfeger mit dem Kehrbesen zwischen den Beinen eine fast senkrechte Steinschanze hinabgerutscht sei und sich damit Leben und Freiheit gerettet hätte. Natürlich mußte der alte Kutscher, mit dem Gottfried schon ganz freundschaftlich verkehrte, mit der langen Peitsche genau die Stelle angeben, wo die Geschichte sich abgespielt hatte. Er konnte es auch, aber er schmunzelte so verschmitzt dabei. Gottfried bemerkte es wohl, hatte aber jetzt keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn nun kam ja schon Tannewitz in Sicht.

Zwischen grünen, schmallippigen Erdhängen, zwischen blühenden Flieder-, Hollunder- und Schlehdornsträuchern gebettet lagen die kleinen Bauernhäuschen in malerischer Unordnung durcheinander gepurzelt, als hätte der Gottfried aus dem Märchenbuche bekannte Erdgeist sie nach- und übereinander aus seinem großen Häusersacke plumpsen lassen, während er das Falkengebirge hinanstieg. Hoch darüber ragte ein grauer, vierschrötiger Kirchturm mit einer kurzen, hochdachigen Kirche, an die einzelne unschöne Verlängerungen gleich ausgezogenen Schiebfächern angebaut waren.

Die erste Frage Klein-Gottfrieds war natürlich nach dem Schloß. Der Kutscher wies mit der Peitsche weit über 78 das Dorf hinweg in die dunklen Gründe des Lampertiwaldes hinein, und in der Tat, da hob sich auch aus dem bläulichen Dunst, schlank und kerzengerade wie die Tannen ringsum, der hohe, gelbe Schloßturm von Tannewitz mit seinen stockweise übereinandergeschichteten, graugrünen Kupferdächerchen. Daneben stand in breit behaglichem Rundbau ein wirkliches Schloß, nicht nur wie anderwärts das typische schlesische Herrenhaus, nein ein richtiges, uraltes Schloß mit einem tiefen, mächtigen Wallgraben, aus dem jetzt freilich statt stinkenden Sumpfwassers eine bunte, duftende Blütenpracht heraufschimmerte und statt schwermütigen Unkengequaks ein lustiges Vogelkonzert herüberklang, in das die leise klagenden Akkorde einer im Laub versteckten Aeolsharfe wunderbar sich mischten.

Der Wagen bog sausend um eine Ecke, ein hohes, schmales, mit einem zierlichen Doppelwappen geziertes Tor tauchte aus den breitschichtigen Buchen des Vordergrundes empor, auf das die Rappen in knatterndem Trabe zueilten. Gottfried erschrak, wie sollte die große Equipage durch das enge Tor kommen? Der Kutscher lächelte jedoch überlegen zu seinen Befürchtungen und meinte lakonisch:

»Werdens gleich sehn! Junger Herr!«

Und da – rutsch – waren sie hindurch und lenkten in einen weiten, hellen Schloßhof, der mit bunten Teppichbeeten anmutig geziert war.

Direkt vor dem abermals mit Wappen reichgeschmückten Portal, von dem aus anstelle einer früheren Zugbrücke jetzt eine feste Steinbrücke über den Wallgraben ging, hielt der Wagen an, und zwei Livreediener mit rotgestreiften Westen und dicken, silbernen Litzen und Wappenknöpfen öffneten diensteifrig den Wagenschlag.

 

79 Die Vorsteherfamilie stieg aus und ward am Portal vom Oberst, der seine Frau noch für einen Moment entschuldigte, aufs herzlichste begrüßt. Mit ritterlicher Zuvorkommenheit bot er der Vorstehersfrau den Arm und führte sie sorgsam die etwas steilen, mit schweren Teppichen belegten Treppen hinauf. Die andern folgten, auch Gottfried, obwohl er viel lieber mit seinem neuen Freunde, dem Kutscher, zum Stalle gefahren wäre und dort die braven Rappen mit abschirren geholfen hätte. Das ging freilich nicht an, vielmehr galt es nun die eingeübten Komplimente an den Mann und die Handkusse an die Damen zu bringen. Zum Glück war ja die kritische Großmutter nicht mit, und so verlief alles ganz leidlich.

Sonst wurde nicht viel auf Gottfried geachtet. Der Oberst war der einzige, der noch ein ermunterndes Wort an ihn richtete; im übrigen standen die zierlich geputzten Schwestern und der auffallend hübsche Guido ganz im Vordergrunde des Interesses, zumal als Frau von Karpnitz mit ihrer Schwester und ihrer allerliebsten Tochter Elfriede herzukam, die ungefähr in Henriettens Alter stand. Gottfried, noch zu klein, um als selbständige Persönlichkeit gerechnet, anderseits schon zu groß, um reinweg als Puppe behandelt zu werden wie Guido und Agnes, fühlte sich sehr vereinsamt. Nachdem der Oberst mit dem Vorsteher in das Jagdzimmer gegangen war, und die Damen sich im grünen Salon der gnädigen Frau niedergelassen hatten, sehnte sich Gottfried im stillen nach Ibikus und den Eichhörnchen des Kunkelbergs.

Da kam Hilfe in der Not. Helle, trotzige Knabenstimmen erklangen auf der Treppe, und Gottfried spitzte die Ohren wie ein altes Kavalleriepferd, wenn es die gewohnten Signale hört. Bald traten die zwei jüngsten Söhne des Obersten, Wolf und Wichart, begleitet von ihrem Hauslehrer, herein. Sie boten allen artig Guten Tag und maßen dann prüfend die beiden Vorstehersöhne. An dem schönen, zarten 80 Guido, der noch zwei Jahre jünger war als Wichart, schienen sie wenig Gefallen zu finden, denn Wolf meinte leise im Vorübergehn zu Wichart:

»Du guck nur, die Zierpuppe!«

Gottfried sagte ihnen eher zu, schon weil er älter war, fast so alt wie Wolf, und auch ganz handfest aussah.

»Kannst du Ritter spielen?« war die prüfende Frage Wolfs an Gottfried, der diese Frage verneinte, ebenso die zweite nach »Raubritter und Prinzessin.«

»Na, was spielt ihr denn in Herrenfeld?« fragte der hartnäckige Wolf weiter.

»Ballon, Letzten und dann Räuber und Gendarm« war die verwunderte Antwort.

»Was ist denn das?« Mit dieser Entscheidungsfrage war das Eis zwischen dem Bürgersohne und den Junkern gebrochen.

Obwohl Raubritter und Prinzessin nur eine vornehmere Abart des mehr bürgerlichen Räuber- und Gendarmspiels war, unterhielten sich die drei kleinen Haudegen doch sofort eifrigst über die Feinheiten ihrer Spiele und beschlossen, da das Tam-Tam jetzt leider zum Essen rief, gleich nach demselben eine Probevorstellung der verschiedenen Spiele im Park oder vielleicht im Lampertiwalde zu veranstalten.

Das Essen in dem großen Speisesaal, dessen Wände eine prachtvolle Tellersammlung schmückte, imponierte den Kämpferschen Kindern gewaltig. Sie aßen zwar mit Wolf und Wichart an einem Katzentischchen, aber sie genossen das Festliche der Stunde viel mehr als die Erwachsenen. Einmal von richtigen Livreedienern bedient zu werden, einmal stolz danken zu können, falls etwas nicht ganz vertrauenerweckend aussah, während man zu Hause alles Zugeteilte essen mußte – das war großartig ohne Gleichen.

Gottfried dankte allerdings sehr selten, dafür schmeckte es ihm viel zu gut.

81 Einige bittere Erfahrungen blieben nicht aus. Da er für Blumenkohl schwärmte und gern ein recht großes Stück erwischen wollte, so hatte er sich, zum stillen Vergnügen seines Gegenübers Wolf, ein mächtiges Stück Mehlpapp genommen, der zur Abteilung der Gemüsesorten auf der Platte diente, und nun biß er vergeblich auf dem sonderbar zähen Blumenkohl herum, der so ganz anders schmeckte als der heimische. Zum Schluß passierte ihm noch eine zweite Verwechselung, indem er ganz munter die Schale mit dem Pfeffermünzspülwasser schlürfend zum Munde führte und sich damit den schönen Nachgeschmack des Champagner, von dem er ein kleines Glas hatte trinken dürfen, verdarb.

Wolf sah das alles, freute sich aber nur schadenfroh darüber, anstatt den Ärmsten über seinen Irrtum aufzuklären. Als schließlich Gottfried erst ihn, dann Wichart, ganz ernsthaft fragte: warum man bei ihnen die Teller an den Wänden aufhänge, während sie bei Mutter und Großmutter in den Küchenschränken aufgehoben würden – da wollten sich die zwei kleinen Junker schier ausschütten vor Lachen, so daß Gottfried ganz verschüchtert, ja beleidigt schwieg und sich heimlich vornahm, die beiden dummen Kerle nachher beim Spiel weidlich durchzuprügeln.

 

Zur Ausführung gab es vor der Hand keine Gelegenheit, denn gleich nach Tische sollte eine Partie in den Lampertiwald gemacht werden. Da galt es hübsch gesetzt vor den Eltern herzugehen, mit falscher Andacht ein Sträußchen Waldblumen zu sammeln, Forellenteiche, Waldhäuschen und ähnliche Herrlichkeiten zu bewundern; aber von dem wilden Umhertollen, wie es Gottfried vom Kunkelberge her gewöhnt war, war keine Rede. Dem kleinen Vorsteher begann es schon wieder langweilig zu werden in Tannewitz. 82 Was nützte ihm denn die schönste Waldpoesie, wenn die Freiheit dazu fehlte!

Nachdem man im nahen Waldhause den Kaffee eingenommen hatte, kehrte man – endlich, meinte Gottfried – zum Schlosse zurück. In einem reizenden Rindenpavillon, der durch seine mit Hängepflanzen verzierten Fenster liebliche Aus- und Fernsichten auf Park, Dorf und Gebirge bot, hielt man dann Siesta und gab damit den Buben Gelegenheit, heimlich zu entschlüpfen.

Der Vorschlag Gottfrieds, sofort mit »Räuber und Gendarm« zu beginnen, fand keinen Anklang bei den Junkern, schon des kleinen Guido wegen, der sich angeschlossen hatte.

Zunächst ging es daher in die Ställe, und Gottfried feierte mit den vier Rappen ein bewegtes Wiedersehen, sah zum ersten Male in seinem Leben echte, dicke Merinowidder mit doppelt gewundenen Hörnern, mit denen sie alle Frauensleute, sogar Elfriede, stoßen sollten. Doch all der Gutshofzauber, der sonst wohl Gottfrieds Herz über die Maßen entzückt hätte, wollte heute nicht wirken, da der Räuberhauptmann sich nach dem Räubern sehnte.

Endlich war der Rundgang durch die Ställe beendet, und nun gings ans Spielen, und zwar »Raubritter und Prinzessin«. In Ermangelung einer ordentlichen Prinzessin – die Mädchen waren zu Elfriedes Puppen gegangen – ward der sanfte Guido einstimmig gewählt und gefiel sich sehr in der Rolle. Wichart sollte seine Hofdame, seinen Kammerherrn und streitbaren Beschützer in einer Person abgeben. Wolf und Gottfried übernahmen die Räuberrollen und versteckten sich spornstreichs, während die Prinzessin Guido mit ihrem Hofstaate promenierte.

Fünf Minuten später geschah der erste Überfall durch Wolf. Wichart, getreu seiner Kavalierspflicht, stürzte sich wie ein junger Löwe auf seinen Bruder. Sofort kam Gottfried hinzu, hielt es jedoch für unter seiner Würde, zu zweit 83 auf einen loszugehen. War er nun über das Spiel nicht ganz im klaren, oder hatte er sein heimisches Räuberspiel in der Erinnerung – genug – er fiel zum nicht geringen Schrecken Wicharts kurzer Hand über die sakrosankte Prinzessin her und prügelte sie, die sogleich jämmerlich aufheulte, ganz weidlich durch, anstatt galant mit ihr durchzugehen.

Die beiden Junker mußten zunächst wiederum laut auflachen, worüber Gottfried sich abermals ärgerte. Darauf suchten sie das Püppchen Guido, das durchaus zur Mama wollte, zu beschwichtigen; leider vergeblich. Schließlich machten sie Gottfried heftige Vorwürfe: er sei kein Kavalier, nicht einmal ein raubritterlicher, sondern ein ganz gemeiner Grobian.

Räuberhauptmann Unfried war dergleichen Schmeicheleien nicht gewöhnt. Jetzt stand er ja nicht unter dem Zwang des guten Tones wie vorher beim Essen, auch hatte der Tiger in ihm Blut geleckt; er ballte die kleinen, festen Fäuste und rief den Junkern drohend zu: »Wenn ihr so was noch mal sagt, hau ich euch eine rein!«

»Uns eine reinhauen?« fuhren Wolf und Wichart wie von einem Skorpion gestochen auf, während Guido sofort von neuem aufschluchzte und nun wirklich in ehrlicher Angst zum Schloß trottete.

Gottfried kannte keine Furcht, die Zeiten der Heulfrieda waren vorbei. Auch wußte er längst aus Erfahrung, daß der Angriff die beste Verteidigung ist. Mit einem katzenartigen Satz sprang er vor, faßte den beinahe einen halben Kopf größeren Wolf um den Leib und warf ihn, noch ehe dieser zu einer Verteidigung kommen konnte, dröhnend auf den Rücken.

Wichart schrie auf und hieb wie rasend vor Wut von hinten auf Gottfried los, aber auf den kampferprobten Räuber machte das keinen Eindruck. Erst als Wolf wieder aufgestanden war, und dem Bruder zu Hilfe kam, gelang es, den kleinen Vorsteher zu überwältigen. Jetzt ward Gottfried grimmig. Mit einer plötzlichen Wendung rang 84 er sich vom Boden los, sprang auf die Füße und schrie den beiden Karpnitzen empört zu:

»Das ist eine elende Feigheit, zwei gegen einen loszuziehen. Ist doch Wolf schon älter als ich!«

Das wirkte, die Junker sahen sich wie beschämt an, dann ging Wolf allein auf Gottfried los, um die Scharte von vorher wieder auszuwetzen. Diesmal sah er sich besser vor, ließ sich nicht mit dem Untergriff überrumpeln wie das erste Mal, und so schwankte die Entscheidung lange hin und her. Wolf war wohl der kräftigere von den beiden, Gottfried jedoch der geübtere und rücksichtlosere; er gab nicht nach und wollte seinen Gegner ermüden. Endlich gelangs ihm auch, und mit plötzlichem, beinahe hinterlistigem Ruck warf er Wolf abermals zu Boden.

Wieder wollte der tapfere Wichart den Bruder rächen, doch Wolf erhob sich und trat dazwischen.

»Laß nur, Wichart«, sagte er in ehrlicher Anerkennung des Gegners, »er ist wirklich stärker als wir!«

Eine solche edle Offenheit entwaffnete den Groll Gottfrieds, er streckte den jungen Baronen die Hand zur Versöhnung hin, und sie ward ohne Ziererei genommen. Damit war das Kriegsbeil vor der Hand begraben.

Langsam wandelte das Kleeblatt nun dem Schlosse zu. Die Junker wollten zum Rindenpavillon zurückkehren. Der vorsichtige Gottfried, der mit Guidos Angeberei rechnete und einen Verweis fürchtete, riet jedoch dringend davon ab und meinte, er wolle mal lieber das Zimmer von Wolf und Wichart ansehen. Dieser Vorschlag ward angenommen, und mit einer gewissen Ehrfurcht stieg Gottfried hinter seinen Führern die steilen Wendeltreppen des Schlosses hinauf, schritt die hohen düsteren Gänge entlang, an deren Wänden uralte Schränke standen mit phantastischem Schnitzwerk und kunstvollem Eisenbeschlag, oben darauf allerlei sonderbare, ausgestopfte Vögel.

85 Endlich war man im Junkerzimmer, in dem es zunächst einige Schmetterlings- und Käfersammlungen zu bewundern galt. Weit mehr aber interessierte sich Gottfried für zwei gekreuzte Holzschwerter an der Wand.

»Das sind unsere Ritterschwerter«, erklärte ihm Wolf, »mit denen fechten wir unsere Turniere aus, an der anderen Wand hängen die Pappschilde dazu.«

Natürlich ruhte der Vorstehersohn nun nicht eher, bis die Junker ihm Fechtstunde gaben. Leider war das eine Schwert entzwei, an seiner Stelle holte daher der findige Wichart aus einem der benachbarten Zimmer Mutters Elle, ein Meisterwerk eingelegter Holz- und Elfenbeinarbeit. Von dem Kunstwert des Aushilfsschwertes hatten die Jungen keine Ahnung, am wenigsten Gottfried, der bald damit die kräftigsten Streiche führte. Plötzlich gab es einen klirrenden Klang, die Elle war gesprungen.

Sofort trat Waffenstillstand ein, und bleicher Schrecken malte sich auf den Mienen der eben noch so mutigen Ritter. Wichart, dem sein höchst bestürzter Gast leid tat, wollte in edler Selbstaufopferung die ganze Schuld auf sich nehmen. Er hatte ja die Elle geholt und wollte Mama um Verzeihung bitten. Aber Gottfried hatte auch seinen Stolz und litt es nicht, während Wolf, der als Ältester die Verantwortung tragen zu müssen glaubte, ebenfalls ein starkes Schuldgefühl empfand. Man stritt sich also in edlem Opfermut hin und her; nur darüber waren sie gleich einig, daß man nicht schweigen dürfe.

Schließlich gingen alle drei mit dem corpus delicti hinunter zum Rindenhäuschen, wo die Gesellschaft in angeregter Unterhaltung saß.

 

86 Zum Schrecken Gottfrieds waren die beiderseitigen Väter wieder anwesend, auch Guidos verweintes Gesicht sah wenig verheißungsvoll aus. Es würde wohl ein gehöriges Donnerwetter geben.

Frau von Karpnitz machte es gnädig, obwohl ihr der Verlust unangenehm war. Dann kam der Oberst, der mit kräftiger Kommandostimme seinen beiden Söhnen die ganze Schuld zumaß und ihnen einen Tag Hausarrest diktierte. Zuletzt ergriff der Vorsteher kurz das Wort, bat höflich für die Torheit seines Sohnes um Verzeihung und schloß zu Gottfried gewandt:

»Wir, mein Söhnchen, sprechen uns noch zu Hause, erst Guido und nun die Elle, du kannst warten, bis ich dich wieder irgendwohin mitnehme, wenn ich mit dir so wenig Ehre einlegen kann.«

Gottfried stieg es bei diesen letzten Worten siedend heiß zu Kopf, erst wollte er laut aufschluchzen und dem Vater abbitten – dann aber ballte er heimlich die Faust und würgte nur die Worte gewaltsam heraus: »Ich kann doch nichts dafür.«

Der Vorsteher ward dunkelrot vor Zorn, doch auf einen flehenden Blick seiner Frau hin, faßte er sich rasch und sagte in gezwungenem Tone zum Oberst:

»Es tut mir wirklich leid, Herr Oberst, daß mein Junge sich hier so gehen läßt, aber er ist in letzter Zeit meiner Zucht ein wenig entrückt gewesen.«

»Bitte sehr, mein lieber Vorsteher,« fiel der Oberst begütigend ein, »meine Bengel sind um kein Haar besser, und doch hab ich sie den ganzen Tag unter Augen. Dergleichen Sachen sind nicht zu vermeiden. Übrigens muß ich offen gestehen, Verehrtester, daß die Goldjungen nicht mein Fall sind. Die Flegeljahre müssen ebenso gründlich durchgemacht werden wie die späteren Glanzzeiten, in denen wir uns jetzt befinden, und nun wollen wir die Unarten unserer Bengel nicht nach der Elle messen!«

87 Alles lachte über den Scherz, umsomehr als nun der Oberst auf seine Frau zuschritt und neckend zu ihr sagte:

»Ich bring dir das nächste Mal von Breslau 'ne neue mit, Nelly, aber was Schönes zur Belohnung bitt ich mir dafür aus, und nun mal gleich einen Handkuß als Anzahlung.«

Und mit galanter Ritterlichkeit beugte er sich nieder auf die schlanke Hand seiner Frau. So war jede Mißstimmung wie weggeweht.

Gottfried fand das Gleichgewicht der Seele freilich nicht so bald wieder.

Wilder Groll gärte in ihm. Guido hatte ihn verklatscht, Wolf und Wichart hatten ihm die verhängnisvolle Elle gegeben, der Vater hatte ihn ungehört verurteilt, und morgen – wer mochte es wissen – kam das dicke Ende wohl nach, auch wenn Mutter vielleicht ein gutes Wort für ihn einlegen würde.

Mit einem Male bekam er heiße Sehnsucht nach der Großmutter, nach der einzigen, zu der er unbedingtes Vertrauen hatte, und der allein er jetzt all sein Weh hätte klagen können. Einen Augenblick war es ihm zu Mute, als müsse er sogleich davonrennen, zu Fuß hinüber nach Herrenfeld! Den Weg hätte er schon gefunden, und wenn er auch bei sinkender Nacht am Dusterbusch und seinem gespenstischen Hochwalde hätte vorbei müssen. Dann aber fiel ihm ein, daß es eine Feigheit wäre, so einfach auszureißen, als ob er sich fürchtete. Und so blieb er.

Während des ganzen Abendessens sprach er jedoch nicht ein einziges Wort mit seinen Tischnachbarn, ja er gab den Junkern sogar nur mit stummer Verbissenheit die Hand zum Abschied, und Guido, die »Klatschbüchse«, strafte er vollends mit Nichtachtung.

Als er dann wieder auf dem Bocke neben seinem Freunde, dem graubärtigen Kutscher, saß, der jetzt freilich nur mit zwei Braunen schweigsam durch die stille Sommernacht 88 dahinfuhr; als er die schmale Silbersichel des abnehmenden Mondes überm fernen Waldrand schimmern sah; als er von den feuchten Wiesen das vielstimmige und doch eintönige Unkenkonzert herüberschallen und daneben die lustigen Grillen zirpen hörte, da machte sein finsterer Grimm nach und nach einer sanften Wehmut Platz. Heiß stieg es ihm zum Herzen empor und noch heißer in die Augen.

Kaum war der Wagen ins schlummernde Herrenfeld eingerollt, so sprang er vom Bocke herunter, schlich sich eilends zu Großmutters Haus, wo die alte Frau wirklich noch mit warmem Tee und leckeren Butterschnittchen auf ihn wartete. Voll heißer Inbrunst fiel er ihr um den Hals, küßte sie so innig auf die lieben, runzligen Wangen, daß Frau Bürglin ihren wilden Enkel erst gar nicht wieder erkannte.

Und dann mußte alles, alles vom Herzen herunter, von Guidos Mißverstehen an bis zu Vaters entehrenden Worten. Schließlich liefen der alten Großmutter wie Jung-Gottfried die hellen Tränen über die Backen.

Es waren die ersten Tränen, die Gottfried wieder weinte seit der großen Schneeschlacht. 89

 


 


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