Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Sechstes Kapitel

Der Bundesvers

Am Tage nach der Tannewitzer Begebenheit kam es zwischen dem Vorsteher und seiner Schwiegermutter zu einer ziemlich bewegten Auseinandersetzung.

Die alte Frau Bürglin war an diesem Tage ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit schon ziemlich früh bei ihren Kindern erschienen, und zwar mit der festen Absicht, einer Bestrafung ihres Lieblings vorzubeugen. Kurz entschlossen ging sie allein zum Vorsteher auf sein Amtszimmer, und schon das war unklug. Hätte sie weiterhin ihre Absicht diplomatisch in die Form eines von ungefähr in ihr aufgestiegenen Wunsches gekleidet, oder hätte sie ihre Tochter Angelika zur Vermittelung herangezogen, so hätte sich der Vorsteher wohl bereit finden lassen, die Strafe Gottfrieds wenigstens zu mildern.

Leider tat Frau Bürglin nichts dergleichen, sondern trat ziemlich erregt mit der offenen Forderung an ihren Schwiegersohn heran: er solle dem armen, mißverstandenen Jungen nichts tun.

90 Der Vorsteher wies das Ansinnen kurzerhand ab und bat seine Schwiegermutter, zunächst noch ganz ruhig, ihm und seiner Frau die Erziehung ihrer Kinder allein zu überlassen. Die alte Baslerin, dadurch sofort tief gekränkt, erklärte ziemlich spitz:

»Erstlich glaube ich, lieber Ehrentraut, daß ich gerade für Gottfrieds Erziehung unter den jetzigen Verhältnissen doch auch ein wenig in Betracht kommen dürfte. Zweitens muß man ein Kind, das man erziehen will, bis ins einzelne hinein beobachten und kennen lernen. Bei deinen vielen Amtspflichten und der seit einem Jahre getroffenen Vereinbarung über Gottfrieds Wohnung ist dir das doch gar nicht möglich.«

»Eben gerade darum«, erwiderte der Vorsteher, noch immer an sich haltend, »dürfte es besonders angebracht sein, den Jungen von nun an mehr unter meine persönliche Aufsicht zu nehmen und ihn zugleich auch meine väterliche Zucht etwas mehr merken zu lassen.«

»So!« fiel Frau Bürglin heftig ein, »also weil du dich, mit Respekt zu sagen, gestern vergaloppiert hast, soll der Junge und ich darunter leiden?«

Jetzt brauste auch der Vorsteher auf.

»Ich mich vergaloppiert, bitte wieso? Ich muß mir dergleichen Ausdrücke ganz entschieden verbitten. Der Junge hat seinen völlig unschuldigen und viel schwächeren Bruder verprügelt, noch dazu in einem fremden Hause, er hat dann wertvolles fremdes Eigentum in seiner Rauflust geschädigt und seine Eltern dadurch in die nicht gerade angenehme Lage gebracht, dafür Abbitte zu leisten – er hat schließlich bei meinem durchaus gerechtfertigten Verweis trotzig aufbegehrt – und nun soll er für das alles auch noch straffrei ausgehen? Das hieße die Flegelei systematisch in ihm groß ziehen! Nein, so weit sind wir denn doch noch nicht! Der Junge bekommt seine Tracht Prügel, wie er sie 91 verdient hat, und wird überdies solange eingesperrt, bis er sein Unrecht eingesehen hat und um Verzeihung bittet!«

»Das ist eine unerhörte Ungerechtigkeit, Ehrentraut. Du bestrafst den Jungen, ohne ihn vernommen zu haben. Du weißt ja nicht einmal, wie alles gekommen ist. Sie haben Räuber und Prinzessin gespielt. Der Gottfried war Räuber und hat die Prinzessin Guido rauben wollen. Der Furchthase hats natürlich mit der Angst bekommen und ist heulend davon gelaufen. Voilà tout! Dann haben sie Ritter gespielt, die Karpnitze haben ihm statt eines Schwertes die Elle gegeben, er hat kaum gewußt, daß es eine Elle war. Und dann, als das Unglück geschehen war, hat er kommen und dich um Verzeihung bitten wollen, du aber hast ihn gleich vor all den Leuten angefahren und ihn blamiert. Ja, so war die Sache und nun, nun wird der arme Junge einfach geprügelt. Warum schließlich? Weil er ein bischen aufgemuckt hat, wie das jeder Junge in diesem Falle tun wird, wenn er noch einen Funken Ehrgefühl im Leibe hat. Ich würde mich eher im stillen freuen über einen solchen Zug, der doch den künftigen Charakter ahnen läßt – würde ihn zurechtweisen, ja sicherlich, – aber schlagen, wozu immer gleich schlagen, vollends so plebejisch prügeln – das muß ja ein Kind erst recht verbittern! Nun tu meinetwegen, was du nicht lassen kannst; der Vater bist du, da hast du recht, ich bin ja nur die Großmutter und eine alte, unmoderne Frau, aber das sage ich dir, Ehrentraut: das Herz deines Gottfried wirst du auf diesem Wege nie gewinnen. Da kenne ich den Jungen viel zu gut, den gewinnt man nur im guten, aber nicht mit drakonischer Strenge oder gar mit Ungerechtigkeit!«

Der Vorsteher schwieg, als seine Schwiegermutter geendet hatte, gleichsam, als habe ihn die Wahrheit der letzten Worte verblüfft. Dann aber war es, als bäumte sich sein Mannes- und Vaterstolz dagegen auf, dieser Frau 92 so völlig recht zu geben, und er meinte mit verhaltener Bitterkeit:

»Sich mit Liebe in die Herzen der Kinder einzuschmeicheln, ist sicherlich leichter und dankbarer und hat darum Frauen immer näher gelegen, als sie leidenschaftlos zu bilden und zu stählen für den bevorstehenden Kampf des Lebens. Diese letztere schwerere Pflicht fällt meist den Vätern zu, und das mag in der Natur der Geschlechter seinen Grund und seine Berechtigung haben. Also werde auch ich meines mir von Gott zugeteilten Amtes als Vater warten, ohne Eifersucht gegen dich oder Angelika zu empfinden, aber auch ohne einen Schritt von der notwendigen Objektivität abzuweichen. Ich werde Gottfried nicht ungehört verurteilen; da kannst du beruhigt sein, aber seine Strafe wird er erhalten, wie er sie nach meinem Ermessen verdient. Und damit wollen wir die unerquickliche Verhandlung zwischen uns erledigt sein lassen. Nur um eines möchte ich dich noch bitten, da wir heute einmal auf Gottfrieds Erziehung zu sprechen gekommen sind: Bitte, sprich nicht auch noch mit Angelika darüber; ihr ist so wie so das Herz oft schwer bedrückt wegen des Jungen. Ihr Mutterherz leidet mehr als du denkst unter der Trennung. Wir haben ihn dir seinerzeit hinüber gegeben, um dir einen Wunsch damit zu erfüllen; wie du weißt, wurde uns das nicht ganz leicht. Wir sind beide überzeugt, daß Gottfried bei dir in den besten Händen ist, aber das jetzige Verhältnis hat trotzdem seine Gefahren, auf die ich dich, liebe Mama, in aller schuldigen Ehrfurcht aufmerksam machen muß. Gottfrieds Charakter neigte von jeher zu einer gewissen Isolierung, Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit. Jetzt ist er meiner Meinung nach auf dem besten Wege, sich alle Eigenheiten sogenannter einziger Kinder anzugewöhnen, und das möchte ich verhindern. Er soll also von nun an mehr mit seinen Geschwistern zusammen sein und 93 dabei sein schroffes, rücksichtsloses Wesen ein wenig abschleifen. Er soll ferner mehr bei uns, seinen Eltern, sein, damit er sich nicht ausschließlich an dich gewöhnt, und dereinst vielleicht eine Kluft eintritt zwischen ihm und uns, weil er – was Gott verhüten möge – das Vertrauen zu uns verloren hat.«

»Mit einem Wort«, unterbrach ihn hier die alte Baslerin ziemlich empfindlich berührt, »ihr seid doch eifersüchtig auf mich, lieber Ehrentraut. Sags nur grade heraus. Ich verwöhne den Jungen oder, wie du vorhin so schön sagtest, ich schmeichle mich in sein Herz. Das ist aber nicht wahr! Das fällt mir gar nicht ein! Ich hab den Bengel lieb, gewiß, ich liebe vor allem seine offene, natürliche Art und glaube ihn zu verstehen auch in seinen Fehlern, deren er gewiß eine gut menschliche Portion besitzt, und darum soll – ich ihn nun hergeben? n'est-ce pas?«

»Davon ist keine Rede«, begütigte der Vorsteher, dem seine vorangegangene Erregung schon wieder leid tat, »Gottfried soll nur heimischer bei uns werden als bisher, denn chère maman, schließlich ist doch hier sein Elternhaus und nicht in der neuen Gasse. Und nun laß uns Frieden machen. Es ist mir nicht unlieb gewesen, daß diese Sache die Veranlassung dazu ward, uns einmal über Gottfrieds Erziehung gründlich auszusprechen, und zu seinem Schaden soll es auch nicht gewesen sein, selbst wenn ich ihm die verdiente Strafe heute nicht erlassen kann.«

Damit trennten sich der Vorsteher und Frau Bürglin, indem sie sich scheinbar versöhnt die Hände gaben.

Und doch blieb in der Seele beider ein geheimer Stachel sitzen, wider den keines recht zu löcken vermochte, so sehr es sich auch dazu zu zwingen suchte.

Als Gottfried zu Mittag aus der Schule kam, ward er zum Vater gerufen und eingehend über den Fall in Tannewitz verhört. Er sah sein Unrecht wirklich ein und bat 94 den Vater um Verzeihung. Dieser gewährte sie ihm auch gern, aber die Strafe schenkte er ihm nicht.

Das konnte Gottfrieds Bubenlogik nicht ganz verstehen, um so mehr, als er fest darauf gerechnet hatte, durch Mutters und Großmutters Fürbitten ohne Schläge davon zu kommen.

So verhärtete sich sein trotziges Herz von neuem, und die Beschränkung seiner Freiheit, die mit den neuen Anordnungen über den Umgang mit den Geschwistern und den Aufenthalt im Elternhause Hand in Hand ging, war erst recht nicht dazu angetan, ihn milder zu stimmen. Er fühlte sich nur beengt, gleichsam unter polizeilicher Aufsicht; sah in den Geschwistern, besonders in dem noch so kindlichen Guido, eine aufgezwungene, geistig unebenbürtige Gesellschaft, der er von vornherein mit einer Unlust und Unliebenswürdigkeit gegenüber trat, die sich mitunter bis zur Unleidlichkeit steigerten.

Jedenfalls wurde das Ziel, das der wohlmeinende Vater angestrebt hatte, unter solchen Umständen keineswegs erreicht. Das pädagogische Experiment, denn das war es doch schließlich, mißglückte vollständig, ja es endete geradezu mit einem der ursprünglichen Absicht entgegengesetzten Resultat.

Das Elternhaus ward Gottfried mehr und mehr zum verhaßten Zwinger, während Großmutters Wohnsitz ihm bald wie ein Paradies vorkam. Die Gesellschaft der zurzeit etwas wüsten Klassenkameraden, insbesondere des Ibikus, ward sein eigentlicher geistiger Umgang, während ihm die leiblichen Geschwister, vor allem der einzige Bruder, immer fremder, ja widerwärtiger wurden.

Und das waren leider noch nicht die einzigen Folgen des Tannewitzer Vorfalls und der damit zusammenhängenden Anordnungen des Vaters.

 

95 Bisher war Gottfried ohne Frage einer der besten Schüler seiner Klasse gewesen. Mehrfach hatte er im Laufe des Sommers den Primusplatz eingenommen, aber selten dafür ein anerkennendes Wort vom Vater erhalten. Der Vorsteher sah diese Leistungen bei der guten Begabung seines Sohnes für selbstverständlich an, und auch im Herbst, als Gottfried tatsächlich als Erster in die dritte Klasse versetzt wurde, hatte er nur wenige Worte der Anerkennung für ihn, setzte vielmehr ungehalten hinzu; die Zensur für Betragen (es war genügend) passe sehr wenig zu den Zensuren für die Schulfächer.

Obwohl Gottfried dies selber als richtig empfand, so bäumte sich sein Primusstolz doch gegen diesen Mangel an Anerkennung sofort auf. Nicht, daß er nun etwa in edler Scham nach einer Verbesserung der Betragenzensur gestrebt hätte, o nein, das hielt er für durchaus überflüssig – er beschloß nur, die Zensurenharmonie auf Kosten der Schulfächernoten herbeizuführen.

Mehr als sonst beschäftigten sich jetzt seine Gedanken auch in der Schule mit den Vergnügungen der Freizeit, vor allem mit Spielen und allerlei Abenteuern. So war kürzlich an den düsteren Herbstabenden (er hatte jetzt als Dritter erst nach der Abendarbeitszeit, d. h. um ½9 Uhr direkt zur Großmutter zu gehen), ein ganz neuer Sport aufgekommen: nämlich die Klassenüberfälle am Kirchhof. Da oben wars still und menschenleer, ein gewisses Gruseln half die Romantik verstärken, und Platz zum Jagen und Prügeln war genügend vorhanden.

So fanden hier am Ort ehrwürdigen Friedens fast allabendlich gewaltige Kämpfe statt, von denen manch einer mit blutiger Nase oder verstauchtem Finger für den einen oder andern Beteiligten ablief. Schließlich kam doch einmal – trotz der stets sorgsam ausgestellten Wachen – die löbliche Ortspolizei dahinter und meldete die Sache nach 96 Vorschrift dem Vorsteher, der sich diese taktlose Störung des Kirchhoffriedens kurzer Hand beim Schuldirektor verbat.

Nun gab es ein großes Hallo! Der alte, etwas bequeme Bruder Thierbach stellte diesmal doch eine eingehende Untersuchung des Falles an, bestrafte die Schuldigen mit einer halbtägigen Strafarbeitszeit und meldete das dem Vorsteher zurück, nicht ohne sich die kleine Genugtuung dabei zu gönnen, als einen der Haupträdelsführer bei der fatalen Sache des Vorstehers eigenes Söhnchen namhaft zu machen.

Auf diese Weise erhielt Gottfried einen zweifachen Denkzettel; in der Schule die Strafarbeitszeit, zu Hause eine so derbe Tracht Prügel, wie sie ihm bisher noch nie zuteil geworden war. Zur Verinnigung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn trug der Vorfall eben so wenig bei, wie zur Beruhigung der alten Frau Bürglin, die sich gleichsam mit bestraft fühlte, so oft ihr Liebling etwas abbekam.

In Gottfried regte sich immer wieder von neuem der alte Trotz, der sich aufbäumte gegen jegliche Ungerechtigkeit, und eine solche sah er und mußte er sehen in dieser doppelten Bestrafung. Als er daher vierzehn Tage darnach bei der Monatsreihe vier Plätze herunterkam, erfüllte ihn dieses Schicksal mit einer bisher noch nicht gekannten, ingrimmigen Genugtuung, als läge darin eine Art Vergeltung für des Vaters allzustrenge Bestrafung.

Um diese Zeit näherte sich Gottfried auffallenderweise seinem alten, jetzt recht ungefährlichen Rivalen, dem Pastormatthes. Das gemeinsame Unglück führte die Herzen beider zu einander.

Auch Matthes glaubte ein unverstandener Sohn zu sein und gelegentlich von seinem Vater ungerecht oder wenigstens über Gebühr bestraft zu werden. Pastor Friesen war zwar eine weit gutmütigere und weichere Natur als der Vorsteher, aber er hatte wie viele Pastoren einen unbeugsam doktrinären Zug in seinen pädagogischen Ansichten, strafte nach 97 allgemeinen Prinzipien und nicht nach Maßgabe des Einzelfalls und schoß darum in der Tat öfters über das Ziel hinaus.

Matthes war im Grunde ein einfaches, ehrliches Gemüt, von vornherein sympathischer als der kompliziertere Gottfried; aber sobald Matthes einmal in ein schlechtes Fahrwasser gekommen war, steuerte er auch mit der ganzen schwerfälligen Wucht solcher einfachen Charaktere in der verhängnisvollen Richtung weiter. Und so fühlte er sich nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule von Tag zu Tage unglücklicher. Er war nicht sonderlich ehrgeizig, aber den Verlust der Klassen- und Parteiführung, die ihm vermöge seiner Körperkraft zugefallen war, empfand er recht schmerzlich. Und bei dieser Einbuße blieb es nicht. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist bekanntlich nur ein kleiner Schritt. So ward Matthes, der gefallene Führer, sehr bald zu einer etwas komischen Figur im Kreise der Klasse. Man hielt ihn ja weiter für den guten Kerl, der er ohne Frage war, aber man nutzte gerade diese anerkannte Gutmütigkeit, um ihn zum besten zu haben.

Besonders Ibikus glaubte seine mit Gottfrieds Hilfe errungene Häuptlingsstellung gar nicht besser befestigen zu können, als wenn er seinen Vorgänger Matthes recht oft dem Gespött der Kameraden preisgab. Offen tat er das freilich nie, dazu war Herr Ibikus viel zu sehr der bekannte Mann der Deckung, auch fürchtete er im geheimen wohl immer noch des Matthes respektable Fäuste. Aber den sozial hoch über ihm stehenden Pastorsohn durch einen schlechten Scherz lächerlich zu machen oder ihm tückisch eine Falle zu stellen, in die der ahnungslose Matthes regelmäßig einging, – daran fand der nichts weniger als vornehm veranlagte Sproß des Totengräbers eine ganz unbändige Freude.

 

98 Eines Mittags gingen Ibikus und Matthes wieder zusammen nach Hause, und ganz von ungefähr kam Kamerad Kranich auf Gesangbuchverse zu sprechen.

Die Anknüpfung des Gespräches war durchaus harmlos und vertrauenerweckend. Die Schüler der Herrenfelder Anstalt hatten nämlich jede Woche einige Verse aus dem Brüdergemeingesangbuch auswendig zu lernen, konnten sie allerdings nicht immer fehlerlos hersagen. Auch an diesem Tage hatte es wieder Unglück gegeben, und die Schuld, die ein echter Schuljunge zunächst nie bei sich selber suchen wird, ward natürlich dem etwas schwierigen Gedankengang und dem überladenen Bilderschmuck der Zinzendorfschen Poesie zugemessen.

Herr Kritikus Kranich faßte sein maßgebendes Urteil dahin zusammen:

»Mir sind ja eigentlich solche Verse furchtbar schnuppe, ja ich finde sie riesig komisch. Wozu man solches Zeug nur lernt? Überhaupt Gesangbuchverse! Und nun gar die aus dem alten, großen Gesangbuch, das mein Vater zu Hause noch hat. Da stehen erst verrückte Verse drin!«

»Ists wahr?« fragte Matthes neugierig.

»Na und ob! Platzen muß man vor Lachen!« lockte Ibikus weiter.

»Ach weißt du nicht vielleicht so 'nen recht komischen Vers«, bat Matthes schüchtern.

»O ja«, sagte der Totengräbersohn mit faunischem Lächeln. Nun war er endlich am Ziele und rezitierte stolz:

»Ich bin ein rechtes Rabenaas,
Ein wahrer Sündenknüppel,
Der seine Sünden in sich fraß
So wie der Rost die Zwibbel.

Herr Jesu, nimm mich Hund beim Ohr,
Wirf mir den Gnadenknochen vor
Und schmeiß ich Sündenlümmel
In deinen Gnadenhimmel.«

99 Diese übrigens nicht alteVon Friedr. Wilh. Wolff 1840 in die Schles Provinzialblätter (Bd. 112 S. 359) geschmuggelt., auf die Rechtfertigungslehre der lutherischen Orthodoxie gemünzte Parodiestrophe stand natürlich keineswegs in des Totengräbers großem, alten Gesangbuch, sondern Ibikus hatte sie von irgend einem sauberen Lehrjungen oder Gesellen seines Vaters (der nebenbei auch Seilermeister war), aufgeschnappt und wollte nun den dummgläubigen Matthes damit nasführen. Das Experiment glückte auch vollkommen.

Der Pastorsohn, gut orthodox erzogen, war starr über diese religiöse Komik, die ihn zwar zuerst als gemein und frivol abstieß, dann aber wie alle Frivolitäten einen gewissen prickelnden Zauber auf ihn ausübte. Als nun Ibikus, der heimlich triumphierte, vollends noch mit sachlichster Ruhe hinzufügte: ja, solche Verse habe man in der SichtungszeitSo nennt man in der Brüdergemeine den Zeitabschnitt, in dem das ältere Herrnhutertum eine philadelphische Entartung durchzumachen hatte. Auf diese kurze Ära beziehen sich übrigens die meisten jener Märchen von herrnhutischen Bräuchen, wie sie noch immer von ganz gebildeten Leuten verbreitet werden, als da sind Gütergemeinschaft, Wundenkultus, Fußwachen, Losehe usw. viel gemacht, so gebe es z. B. im Schwesternhause noch alte Liturgienbücher, in denen ganz ähnliche Lieder ständen wie der: »Ei, ihr Schwestern, ei, wie wärs, singt mir mal den Bundesvers.«

Nunmehr war Matthes völlig überzeugt von der Echtheit der sonderbaren Rabenaasstrophe und ruhte nicht eher, bis er sie auswendig konnte und gleichsam Mitbesitzer des interessanten Fundes geworden war. Wie es oft mit solchen Frivolitäten geht, – sie brennen dem Wissenden gleichsam auf den Lippen, er muß sie verbreiten und verbreitet sie auch mit einer Unermüdlichkeit, um die ihn jeder Evangelist beneiden könnte – so ging es auch Matthes. Am liebsten hätte er schon bei der Abendmahlzeit dem Vater, der doch 100 immer die alte Gemeinzeit so pries, das Fundlein unterbreitet, aber vielleicht hätten die Nachteile der väterlichen Erregung die Vorteile seiner Schadenfreude überwogen, und so schwieg er klüglich.

Aber gleich nach dem Essen ging er zu Gottfried Kämpfer, den er jetzt als Freund betrachtete, und beichtete ihm die famose Rabenaasstrophe. Die Zeilen vom Bundesvers fügte er als Zugabe hinzu.

Gottfried fand die Poesie einfach wundervoll und beschloß, sofort Propaganda dafür zu machen. Am nächsten Tage gab er sie bereits seinen Räubern unter dröhnendem Beifall zur Parole, und als ein musikalisch veranlagter Miträuber gar noch eine passende Melodie dazu fand, wollte die Freude schier kein Ende nehmen. Sobald der Hauptmann Unfried intonierte: Ei, ihr Räuber, ei wie wärs – fiel der ganze Räuberchor mit dem »Bundesvers« donnernd ein:

»Ich bin ein rechtes Rabenaas!«

Die Gendarmen wurden ordentlich neidisch auf diese neueste Errungenschaft der Gegenpartei, und Ibikus, der sich die ganze Sache sehr anders gedacht hatte, bedauerte im stillen, nicht selber auf diesen klugen Einfall gekommen zu sein und sich diesen ungeahnten Effekt gesichert zu haben, umsomehr, als er doch für den eigentlichen Entdecker des schönen Liedes gelten durfte.

Doch bald sollte sich das Blättchen wenden, und wieder war der unglückliche Matthes, der Pechvogel, der Vater allen Unheils.

Nichts ahnend saß er eines schönen Herbstabends zu Hause in seiner Stube, die Kinderstube hieß, obwohl Matthes das einzige Kind der Pastorleute war. Er bastelte an einem Pappkörbchen, war seelenvergnügt und, um seiner behaglichen Stimmung gebührenden Ausdruck zu geben, summte er das neue Bundesverslein vor sich hin: »Ich bin ein rechtes Rabenaas!«

101 Zufälligerweise ging gerade die Mama vorüber, eine äußerst strenggläubige Gemeinschwester. Sie liebte ihren einzigen Sohn abgöttisch, aber in jener Weise, die leicht zur Qual oder zum Verhängnis für den Geliebten werden kann. Sie wollte natürlich, daß ihr Matthes der beste und bravste, der fleißigste und frömmste Knabe Herrenfelds sein sollte, und da er das seiner Veranlagung nach eben nicht sein konnte, so machte sie dem armen Jungen bei jeder Gelegenheit die ergreifendsten Vorwürfe über den großen Kummer und das tiefe Herzeleid, das er durch seine Fehler und Sünden über seine Eltern bringen werde.

Matthes, der wirklich ein seelengutes Menschenkind war und sicherlich auch gern der beste aller Söhne gewesen wäre, sah sie bei solchen Vorwürfen stets wie ein getretener Hund mit wehmütigen Augen an. Er wußte niemals, wie er eigentlich zu all seiner Schlechtigkeit gekommen war. Zugleich hatte er freilich die tiefe Betrübnis seiner Mutter vor Augen und mußte wohl oder übel von der Wirkung auf die Ursache schließen. Dann packte ihn oft eine wilde Verzweiflung; er verachtete sich selbst und wußte doch nicht, wie er besser werden sollte, denn niemand zeigte ihm den Weg dazu.

Auch heute sollte er die gleiche Erfahrung machen. Die Mutter, die atemlos dem entsetzlichen Spottverse gelauscht hatte, stürmte außer sich vor Entsetzen herein und überschüttete den völlig ahnungslosen Sohn mit einer wahren Flut von Vorwürfen: Matthes sei ja der gottloseste, verworfenste Junge auf Gottes Erdboden, er werde die »grauen Haare seiner armen Eltern noch mit Schande in die Grube bringen« und selbst seines Seelenheils für Zeit und Ewigkeit verlustig gehen usw. Erst nach dieser gewaltigen Bußpredigt, als Matthes schon völlig zerknirscht war, fragte die Mutter auch, woher er das schreckliche Lied habe.

102 Matthes, der vor Schluchzen kaum noch sprechen konnte, meinte ausweichend: aus der Schule; denn Ibikus anzugeben, dazu war seine vornehme Natur nicht imstande.

Schwester Friesen geriet in die höchste Wut: »Also solche Sachen lernst du in der Schule, wahrscheinlich wieder von dem gottlosen Schlingel, dem Gottfried Kämpfer, aber wartet nur, ich will euch das Handwerk schon legen!«

Sprachs, stand auf und rauschte hinaus, stracks zu ihrem Manne, um ihn von ihres einzigen Kindes neuestem Frevel zu unterrichten.

 

Pastor Friesen hatte eine ruhige Natur; bei allem Doktrinarismus blieb er stets ein durch und durch human denkender Mann, der wohl strafte, aber selten verurteilte. Nur einen Punkt durfte man bei ihm nicht berühren, und das war sein Glaube. Jeder Angriff auf seine heiligste Überzeugung, zu der er sich im Laufe eines langen Lebens nach vielen Kämpfen hindurch gerungen hatte, traf ihn ins Herz; jeden Zweifel, jeden Spott darüber empfand er doppelt schmerzlich. Am allerverhaßtesten war ihm die Frivolität, seiner Meinung nach der feigste und unwürdigste Angriff, den man auf etwas Erhabenes, etwas Göttliches unternehmen konnte. Und jetzt stieß er zum erstenmale in der Erziehungsarbeit an seinem Sohne auf diesen häßlichen, niedrig gemeinen Zug. Erst wollte und konnte er es nicht glauben, doch sein Weib stand ja als Zeuge vor ihm. Da war es allerdings um seine sonstige Fassung geschehen. Wie vernichtet sank er in einen Sessel und stützte das Haupt in die Hände, versunken in unnennbaren Schmerz.

Vergebens waren alle Trostversuche seiner treuen Gattin, der nun erst recht weh ums Herze ward, als sie sah, wie 103 tief dieser Schlag ihren Mann verwundet hatte. Sie bereute schon, es ihm überhaupt mitgeteilt zu haben, vollends wenn nun gar eine große Geschichte daraus werden sollte. Und das sah sie schon voraus: auf ihrem Matthes würde sicherlich wieder die Hauptschuld sitzen bleiben. Pastor Friesen bat seine Frau, ihn allein zu lassen, er müsse sich erst im Gebet ein wenig sammeln und dann überlegen, was zu tun sei – aber das stehe ihm jetzt schon fest, getan müsse etwas werden, und zwar diesmal etwas Ordentliches.

Matthes hockte unterdessen in der Kinderstube wie ein armer Sünder, der nur weiß, daß es ihm ans Leben geht, aber noch nicht weiß, wie seine Todesart sein soll. Er sann und sann, bald über seine Schuld, bald über die Folgen; eins blieb ihm so unklar wie das andere. Dann schlich er zur Mutter und bat sie um Verzeihung. Diese wies ihn zum Vater, setzte aber recht ermunternd hinzu:

»Kind, Kind, was hast du angerichtet, ich habe Vatern noch nie so gesehen.«

Natürlich entfiel Matthes nun vollends der Mut zum Vater zu gehen, er wollte und wollte nicht, sondern wimmerte nur immer still vor sich hin:

»Aber ich kann doch nichts dafür, ich kann doch nichts dafür!« – Da kam auch schon der Vater mit tiefernstem, betrübtem Gesicht herüber und holte ihn.

Matthes erwartete die übliche Tracht Prügel und freute sich schon im voraus, daß dann alles vorbei sein würde. Aber nein, es kam diesmal anders. Der Pastor hatte beschlossen, von jeder Bestrafung abzusehen und es nur mit einer eingehenden Ermahnung zu versuchen, um so dem Sohne seine Verruchtheit klarer zu machen.

Matthes hörte sich die ganze lange Rede des Vaters schweigend an, aber er verstand kein Wort, denn von all den Voraussetzungen des Pastors war keine einzige in seiner Seele vorhanden. Andererseits wagte er auch nicht 104 dreinzureden oder gar sich zu verteidigen, denn er fühlte sich in der Tat sehr schuldig; nur warum er es war, das war ihm nicht klar. Schließlich fragte der Vater:

»Und nun sag mal, mein Junge, wirst du auch weiter den bösen Lockungen des Teufels dein Ohr leihen? Oder willst du nun tapfer sein und dem bösen Feinde mutig Widerstand leisten?«

Matthes dachte gerade an den heillosen Ibikus, gegen den er allgemach eine beträchtliche Wut gefaßt hatte, und sagte dann:

»Jawohl, Vater, der solls schon kriegen, das nächste Mal!«

Der Vater schüttelte trübe das Haupt, er merkte, daß er tauben Ohren gepredigt hatte. Aber daß er über den Kopf eines kaum elfjährigen Knaben weg – vielleicht für eine gebildete Gemeine – gesprochen hatte, das merkte der gute Friesen nicht. Mißmutig schickte er seinen Jungen weg, er hielt ihn doch schon für einen verstockten Sünder, während Matthes tatsächlich nur ein noch allzu naives Kind war.

Dann nahm Pastor Friesen Hut und Stock und ging zu Bruder Thierbach, um dem schon ältlichen, allzu nachsichtigen Direktor einmal reinen Wein einzuschenken über den sittlichen Zustand seiner Schule. Bruder Thierbach erschrak des blassen Todes, denn auch ihm wie jedem echten Herrnhuter gingen Frivolitäten ganz besonders an die Seele. Er versprach, die Sache aufs allergenauste zu untersuchen und die Rädelsführer, unter denen jedenfalls wieder Gottfried Kämpfer sein würde, energisch zu bestrafen. Und in der Tat, es geschah.

Matthes und Gottfried wurden zuerst verhört, dann jeder Räuber einzeln, auch einige Gendarmen, und nahezu alle wurden bestraft, nur der Autor Ibikus, der kluge Mann der Deckung, ging leer aus.

Matthes schützte ihn durch seinen Stolz, da er sich energisch weigerte, seinen Gewährsmann anzugeben, er 105 wollte nicht klatschen. Bei Gottfried kam noch der Ehrgeiz hinzu. Er wollte auch hier wieder als Macher des Ganzen erscheinen. Was waren ihm zwei Tage Schularrest, was war ihm die jetzt unvermeidliche Tracht Prügel? Wenn nur sein Ansehen bei der Klasse stieg! Und es stieg gewaltig, ja sogar das des verachteten Matthes, der so mannhaft geschwiegen hatte, begann sich langsam mit zu heben.

Das war aber auch der einzige Trost, der den beiden Übeltätern, die nun das gemeinsame Unglück mehr und mehr zusammenführte, übrig blieb; denn nicht nur ihre Eltern, auch der Direktor und die Lehrer, ja fast jedes gläubige oder wenigstens scheingläubige Mitglied der Gemeine Herrenfeld sah in den beiden Honoratiorensöhnen von nun an ein paar schwarze Schafe.

Bruder Friesen behandelte das peinliche Vorkommnis, – um seiner Seele Ruhe zu verschaffen – mit großem Ernst in einer engeren Gebetsversammlung, zu der nur erwachsene Gemeinmitglieder Zutritt hatten. Daraufhin warnten mehrere Eltern ihre Kinder ernstlich vor dem gefährlichen Umgang mit dem bösen Vorsteherfriedel und dem gottlosen Pastormatthes.

Insbesondere tat dies Bruder Seewolf, der auch auf der Bierstube die Sache in einer für die ganzen Konferenzgeschwister wenig schmeichelhaften Weise mehrfach behandelte. Ja, als der Vorsteher in diesem Winter – im Einverständnis mit Oberbehörde und Ältestenrat – einen Teil der Alleelinden kappen ließ, erklärte der Sattlermeister geradezu: Man dürfe sich eigentlich nicht groß darüber wundern, daß der Gottfried Kämpfer ein solches Früchtel sei, der Apfel falle eben nicht weit vom Stamme. Der Vater schände die Gemeine durch Baumfrevel, der Sohn mit nächtlichem Radau am Kirchhof und gemeinen Versen. Wenn das so weiterginge mit dieser Kämpfergesellschaft, dann 106 bliebe einem frommen Gemeinchristen nichts anderes übrig als zum Herrn zu beten: Erlöse uns von dem Übel.

Trotz alledem wurde die verhängnisvolle Rabenaasstrophe noch manchmal angestimmt, freilich nicht als öffentlich sanktionierter Bundesvers der Räuber, – da hätten jetzt allzu viele Bubenkehlen aus angeblicher Heiserkeit nicht mehr mitgesungen – sondern heimlich in Großmutters Gartenecke an der Roßweide. Und dann lachten wohl drei junge, trotzige Stimmen – denn Ibikus war nun wieder mit dabei – über allerlei Sitten, Einrichtungen und Personen der Gemeine Herrenfeld.

Und dieses Lachen klang so schadenfroh und bitter, gleich als hätte der böse Feind, den Bruder Friesen seinem Sohne wie der Gemeine gegenüber an die Wand gemalt hatte, nun wirklich seine Hand mit im Spiele. 107

 


 


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