Herm. Anders Krüger
Gottfried Kämpfer
Herm. Anders Krüger

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Siebentes Kapitel

In den russisch-türkischen Krieg

Wie es trotzigen Buben oftmals geht, daß sie auf eine gewisse Verfehmung, die ihnen anfangs wohl schmerzlich erscheint, nach und nach geradezu stolz werden, so ging es auch Gottfried und Matthes.

Bei dem härteren Vorstehersohn ging diesem Entwicklungsprozeß natürlich schneller vor sich als bei dem weichherzigen Matthes, für den die ernsten, fast wehmütigen Gesichter seiner Eltern noch immer ein warnendes memento waren. Was bei Gottfried die verletzte Eitelkeit schneller zustande brachte, bewirkte bei dem Pastorsohn das verletzte Gerechtigkeitsgefühl langsamer, aber um so nachhaltiger.

Daneben stand als ständiger Hetzen der gemeinsame Freund Ibikus, dem es eine geradezu mephistophelische Freude bereitete, die beiden Herrensöhne immer aufrührischer und verbrecherischer zu stimmen, sie zu allerlei Streichen zu veranlassen, die zwar weniger Staub aufwirbelten als die Gottesackerprügelei und die Rabenaasaffäre, (schon weil sie fast nie entdeckt wurden), die aber in der Tat weit böswilliger und raffinierter waren und zuletzt wirklich an das Niedrig-Gemeine grenzten. Eine offenbare Schamlosigkeit, 108 auf der das saubere Kleeblatt wahrscheinlich von einem empörten Kameraden ertappt und verraten ward, schlug dem Faß den Boden aus.

Es war Sitte in der Herrenfelder Schule, daß die Schüler vor Schluß der Arbeitszeit abends von ½9 bis 9 Uhr in der Bibel lasen, da ein besonderer Abendsegen für die Tagesschüler nicht abgehalten wurde. Natürlich wurden von den Bibellesern nicht immer die erbaulichsten, sondern meist die interessantesten und spannendsten Bücher bevorzugt. Warum auch nicht? Einem Kinde werden die wechselvollen Taten der Richter und Könige stets interessanter sein als die salbungsvolle Weisheit des Pseudo-Salomo oder die gewaltigen Zornergüsse eifernder Propheten.

Bisweilen war es unvermeidlich, daß ein solcher jugendlicher Leser auf Geschichten stieß, die für seine Jahre wenig paßten oder gar auf Ausdrücke, die in der unverblümten Sinnlichkeit orientalischer Poesie allerlei Dinge und Vorgänge offen beim Namen nannten, die sonst ein keusches oder gar prüdes Herrnhuterkind nie zu hören bekam. Dem Reinen ist alles rein, aber ein einziges unreines Gemüt kann leider sehr schnell als Sauerteig wirken und alles unrein machen.

In der Herrenfelder Schule spielte Ibikus die Rolle des schlechten Sauerteigs. Er, der viel mit rohen Lehrlingen zusammenkam, der frühzeitig die schmutzigen Zoten der väterlichen Gesellen mit stillem Vergnügen verstehen gelernt hatte, war natürlich in allerlei unsauberen Wissenschaften all seinen Kameraden mindestens soweit voraus, wie er ihnen in den saubern nachstand. Und auch Ibikus las jeden Abend seine Bibel mit großem Interesse und eifrigem Fleiß, einmal um den Schein der Ehrbarkeit zu wahren, anderseits weil er mancherlei unerbauliche Geschichten und Ausdrücke des alten Testaments kannte und verstand.

Eines dunklen Winterabends, als das Kleeblatt Ibikus, Gottfried und Matthes wie gewöhnlich zusammen nach 109 Hause ging, kam das Gespräch auf das Bibellesen, und Ibikus merkte gar bald, daß er es mit völlig Uneingeweihten zu tun hatte. Noch am selben Abend säte er das Unkraut, und nur zu bald ging es auf.

Gottfried mußte noch am gleichen Abend in Großmutters Bibel heimlich eine der bezeichneten Stellen nachschlagen, er hätte sonst vor Neugier nicht einschlafen können. Viel schlief er zwar auch so nicht, denn allerlei unzüchtige Bilder und Vorstellungen begannen zum ersten Male vor seiner bis dahin völlig reinen Seele aufzusteigen, und gewisse Wünsche – über all dies Geheimnisvolle Klarheit zu erlangen – regten sich plötzlich.

Auch Matthes ging es ähnlich, nur daß in seinem ahnungslosen Gemüt der Boden für das Unkraut weit weniger vorbereitet war als bei dem Vorstehersohn. Außerdem hatte Matthes die meisten der angegebenen Stellen über Nacht vergessen; er bat daher Ibikus am nächsten Abend, ihm diese Stellen aufzuschreiben, und Ibikus tat es, auch Gottfried erhielt – ohne eine gleiche Bitte geäußert zu haben – einen solchen ruchlosen Zettel und legte ihn achtlos in sein Schubfach.

Wie dieser Zettel in die Hand eines Lehrers und weiter in die des Direktors gelangte, ist nie herausgekommen. Ibikus riet auf hinterlistige Angeberei und vielleicht nicht mit Unrecht, was freilich nicht ausschloß, daß der tatsächliche Angeber wahrscheinlich nur aus echt moralischer Gewissenhaftigkeit gehandelt hatte.

Die Folgen waren jedenfalls tiefgreifend für das ganze Kleeblatt, denn diesmal entging auch der aalglatte Totengräbersohn der strafenden Schulgerechtigkeit nicht. Die Schuldigen wurden öffentlich auf dem Chorsaal, der in den Herrnhuterschulen die Aula vertritt, als Unwürdige vor der ganzen Schule hingestellt, mußten zwei freie Nachmittage eingeschlossen arbeiten, und – das war die höchste und 110 entehrendste Strafe für ein Herrnhuterkind – sie wurden von der Feier des vor der Tür stehenden Kindergemeintages ausgeschlossen.

So wollte es die Kirchenzucht des Bruder Friesen, der jetzt um so weniger vor dem Äußersten zurückschreckte, als er auch seinem eigenen Sohne, über den er so manche stille Träne geweint hatte, endlich ans innerste Herz greifen wollte. Freilich auch diesmal ward der beabsichtigte Erfolg nicht erzielt.

Durch diese Ausschließung von einer kirchlichen Feier, die der bekannten Ausschließung erwachsener Sünder vom heiligen Abendmahl ungefähr gleichkam, ward nämlich Matthes, der gerade im vorliegenden Falle ein recht lebendiges Gefühl seiner Schuld besaß, so gewaltig niedergeschmettert, daß er überhaupt daran verzweifelte, jemals wieder ein braver, anständiger Mensch werden zu können.

Bei Gottfried stand es anders. In ihm empörte sich der falsche Hochmut des unglücklich Erwischten, der immer und immer wieder auf den ärgerlichen Gedanken zurückkommt: andere sind mindestens ebenso schlimm, wenn man nur alles wüßte! Ihn wurmte es erstens, (obwohl er selbst die Wahrheit dieses Vorwurfes empfand) daß ihn der Vater offen einen unsittlichen Menschen genannt hatte, den man von seinen Geschwistern fern halten müsse. Infolgedessen durfte er tatsächlich eine Woche lang nicht mit den Geschwistern reden; und aus Trotz redete er natürlich auch nachher kein Wort mehr mit den Heiligen, wie er sie ingrimmig Ibikus gegenüber nannte. Zweitens empfand es Gottfried, (und zwar mit ehrlichem Schmerz) daß er seine stille, schöne Mama, vor allem sein geliebtes Großmuttel durch seine letzte Schlechtigkeit tief verletzt hatte.

Frau Bürglin war eine fast harte Frau, die jedenfalls nicht allzu nah ans Wasser gebaut war, aber diesmal weinte sie eine ganze Nacht hindurch, und gewiß nicht aus 111 Sentimentalität, sondern aus bitterstem Weh darüber, daß sie sich in ihrem Gottfried so schwer getäuscht hatte. Friedel, der auch schlummerlos in seinem Bettchen lag und Großmutter leise schluchzen hörte, stand schließlich auf, tappte wie früher, wenn er sich fürchtete, mit bloßen Füßen zum Bett der alten Frau hinüber, sank in die Knie und bat unter echten Reuetränen flehentlich um Verzeihung. Die Großmutter schickte ihn rasch in sein Bett zurück, und von dort aus erzählte er nun offen den ganzen Verlauf der Sache, gestand ehrlich seine Sünde ein, betonte aber ebenso ehrlich, daß ihm jede Absicht, die Bibel zu schänden, durchaus ferngelegen habe.

Großmuttel vergab ihm schließlich, verbot ihm jedoch ernstlich jeden weiteren Umgang mit Ibikus. Das war hart, sehr hart für Gottfried, denn der Totengräbersohn war ihm längst ein unentbehrlicher Genosse geworden. Und so sehr er sich auch bestrebte, der Großmutter von nun an Freude zu machen, so wenig konnte er es doch auf die Dauer über sich gewinnen, mit Ibikus, den er jeden Tag in der Klasse sah, mit dem er täglich nach Hause gehen mußte, gänzlich zu brechen. Mehrere Tage, ja Wochen gab er sich die größte Mühe, ihn zu schneiden, dann aber übertrat er doch das Verbot der Großmutter, denn er glaubte nicht mehr anders handeln zu können.

Zwei Beweggründe trieben ihn unwillkürlich dazu, auch wenn er selbst sich darüber nicht klar wurde: einmal die angeborene Freundes- und Mannestreue, die in jedem gut germanischen Jungen fest eingewurzelt ist, und die ihn stets eher zu dem größten Vergehen als zu dem kleinsten Verrate treiben wird; und zweitens die verhängnisvolle Isolierung in der Schule, die letzte und empfindlichste Folge der Bibelschändung für Gottfried.

Was der im Grunde vielleicht verachtete Ibikus mit frechem Leichtsinn, der schon längst nicht mehr voll geachtete 112 Matthes mit hilfloser Ergebung, zuletzt stumpfer Gleichgültigkeit hinnahmen, das fraß an Gottfrieds stolzer Seele wie ein ununterbrochen nagender, quälender Wurm. Er, der einstige Führer der Räuber, die sich jetzt natürlich langsam auflösten, er, der vielleicht geistig Bedeutendste und auf alle Fälle Gefürchtetste der ganzen Klasse, er war jetzt im allgemeinen Bann, er war gebrandmarkt mit einem Makel, einem Klecks auf der Ehre, wie die drastische Schulsprache zu sagen pflegte. Alle anderen vorangegangenen Streiche hatten ihm bei den Lehrern und dem Direktor zwar Ungnade und Strafen, beim Vater Vorwürfe und Schläge, bei der Klasse aber im letzten Grunde doch nur Ruhm eingebracht. Und nun mit einem Male war er eine gefallene Größe; man wich ihm aus, man übersah ihn absichtlich, man nahm sich ausdrücklich vor ihm in Acht, wie vor einem Aussätzigen, und alles nur darum: weil hier ein religiöser Frevel vorlag, den eben kein Herrnhuterkind vergeben konnte, ohne sich selbst etwas zu vergeben. Hätten sie ihn gehaßt, geschmäht, verwundet, alles hätte Gottfried ertragen, aber diese stille Verachtung, gegen die kein Aufbäumen, kein Mut und keine Energie etwas ausrichten konnte, die brachte ihn allmählich zur Bitterkeit, ja zu einer gelinden Verzweiflung; und da verlangte die Großmutter noch, er solle den Verkehr mit Ibikus abbrechen! Unmöglich!

Mit wem sollte er dann überhaupt umgehen? Mit dem Stumpfbold Matthes, der jetzt stets mit seinem chronisch schlechten Gewissen und seiner gequälten Märtyrermiene umherschlich und nicht einmal mehr mit zu schimpfen wagte – nein! Oder etwa mit den Geschwistern, den Heiligen, die ihn seit der Geschichte immer ansahen, als sollten bei ihm nächstens die Teufelshörner und der Pferdefuß herauswachsen – nein, mit denen erst recht nicht! Also – er blieb bei Ibikus – allein bei Ibikus, der war wenigstens stets fidel. Ja, der gab gelegentlich auch einen kräftigen Fluch oder 113 einen gepfefferten Witz zum besten über die »ganze scheinheilige Blase von Tugendgänsen und Muckerseelen,« wie er sich geschmackvoll auszudrücken beliebte.

Gottfried schwieg anfangs zu solchen Ergüssen, dann lachte er, und schließlich schimpfte er weidlich mit.

 

Unterdessen war es wieder Frühling geworden im Lande Schlesien, und gerade der Frühling des Jahres 1877 brach besonders verlockend und berauschend herein, so daß sich selbst in den Herzen der kleinen Herrenfelder Schulbuben etwas regte von der gewaltigen, unbezwinglichen Wanderlust, die schon so manchen blonden Germanensohn zum Süden getrieben hat.

Eines Sonntags Vormittags, als die drei bösen Bibelschänder nach der Predigt sich auf dem Kunkelberge herumtrieben und die Junisonne so gar verführerisch vom blauen Himmel herabschmunzelte, da brach aus des Matthes gequälter Brust mit elementarer Gewalt der alte Seufzer: man könne es in Herrenfeld nicht mehr aushalten, er möchte darum am liebsten ausreißen.

Vom redlichen Matthes war der Wunsch zunächst als ein Ausdruck seines tiefen Mißmutes gemeint, doch die beiden Kameraden verstanden ihn anders.

Gottfried, dem alles Abenteuerliche besonders willkommen war, erörterte die Idee des Matthes ausführlichst und entwarf sofort einen Plan. Auch bei Ibikus fiel der Gedanke der Flucht auf fruchtbaren Boden. Ihn schien jedoch weit mehr die technische Seite der Sache zu interessieren, und so stellte er zunächst die drei schwierigen Fragen: wohin, womit und was dann?

114 Gottfrieds Phantasie schweifte entschlossen zu den gegenüberliegenden, hellblau schimmernden Falkenbergen hinüber. Da brauche man nicht viel Geld, da könne man ein romantisches Räuberleben führen. Das weitere werde sich dann schon finden.

Doch des Ibikus mehr kritischer und praktischer Geist war damit keineswegs zufrieden, er meinte:

»Das Falkengebirge kann nur so mal Station sein, aber leben, nu nee! Wovon wollen wir denn da leben, etwa von Heuschrecken und wildem Honig wie der olle Johannes – ich danke für Backobst – und das Räuberhandwerk – die werden uns was pusten – das legen sie uns balde!«

Nach dieser vernichtenden Kritik schwieg Gottfried, und Ibikus kam nun mit seinen Vorschlägen heraus: erstens brauche man Geld, zweitens müsse man so bald wie möglich über die Grenze, – die sei ja auch nur fünf oder sechs Stunden entfernt, – und endlich müsse man drüben in Österreich versuchen, möglichst schnell etwas zu werden, z. B. Laufbursche, Kellnerjunge, Schiffsjunge, oder irgend so etwas.

Im Grunde gaben die zwei Honoratiorensprößlinge dem weltklugen Totengräbersohne recht; nur nahm Gottfried an dem Kellnerjungen ebenso Anstoß, wie sich der plötzlich ganz elektrisierte Matthes für den Schiffsjungen interessierte. Seemann zu werden, war schon immer das höchste Ideal des Pastorsohnes gewesen; er hatte nur zu Hause nie ein Sterbenswörtlein davon verlauten lassen dürfen, ohne daß seine Mutter in Nervenzustände gefallen wäre. Jetzt sah er mit einem Male eine Aussicht zur Verwirklichung dieses geheimsten Wunsches, und sofort begeisterte er sich für den Plan des Ibikus.

Von nun an arbeiteten die drei Verschworenen, oder wie sie noch immer in der Klasse heimlich genannt wurden, 115 die drei Bibelschänder, eifrig und entschlossen an dem Plane ihrer Auswanderung. Der Atlas wurde studiert, die Stationsorte ganz genau bestimmt und mit Tinte dick unterstrichen; die Sparbüchsen wurden heimlich geleert unter allerlei Vorwänden, die Eltern und die Großmutter des öfteren um Geld gebeten und dabei weidlich gelogen und betrogen, was freilich Matthes sehr schwer fiel.

Am bequemsten machte es sich in dieser Beziehung Ibikus, der zu arm war, um als zahlendes Mitglied ernstlich in Betracht zu kommen, der dafür aber das verantwortungsvolle Amt eines Kassierers freiwillig übernahm. Eine gewisse Remuneration setzte er sich schon jetzt gelegentlich für seine Mühwaltung aus und legte dieses Geld stolz in Zigarren an, um den Lehrlingen seines Vaters damit imponieren zu können. Rauchen konnte Ibikus nämlich schon seit einem Jahre, seit vier Wochen den Rauch durch die Nase blasen und sogar Ringe stoßen.

Als Abreisetermin war der Anfang der Ferien, also Mitte Juli, bestimmt, da hatte man mehr Freiheit, wurde weniger beobachtet und konnte unbemerkt unter dem billigen Vorwande eines Ausflugs abmarschieren, außerdem fiel man dann als Ferienwanderer weniger auf.

Weiterhin hatte der vielgereiste Ibikus auf einem der Vorberge des Falkengebirges eine verlassene, halb zerfallene Windmühle vorgemerkt, bis zu der man in einem Wägelchen allerlei Lebensmittel mitnehmen wollte, um sich hier unbemerkt solange versteckt halten zu können, bis die ersten Nachforschungen vorüber und die Spuren für die Verfolgung verwischt wären. Dann wollte man nachts über die böhmisch-österreichische Grenze wandern, sich dort auf die Bahn setzen und versuchen, bis Triest zu gelangen. Um zu sparen, beschloß man, allerdings gegen des redlichen Matthes Stimme, nur Billets auf kurze Strecken zu nehmen und dann einfach so lange wie möglich im Zuge sitzen zu bleiben. In Triest 116 wollten Matthes und Gottfried, der unterdessen auch Lust zum Seemannsberuf bekommen hatte, in See stechen, während Ibikus meinte, er würde entweder bei einem Seilermeister eintreten, da er beim Vater schon einiges gelernt hätte, oder er würde doch noch Kellner werden. Abermals erklärte Gottfried diesen letzteren Entschluß für empörend prosaisch, ja gemein; allein den praktischen Ibikus, der sich im Geiste bereits mit der trinkgeldgefüllten Tasche klappern und stolz im Frack herumschwänzeln sah, bekümmerte das wenig.

So war alles einigermaßen vorbereitet, als plötzlich die Kunde vom Ausbruch des russisch-türkischen Krieges wie ein Blitz aus heiterem Himmel herniederfuhr. Nicht etwa, weil deshalb die Reise hätte verschoben oder gar aufgegeben werden müssen, im Gegenteil! Nur Ziel und Termin wurden dadurch beeinflußt.

Auf Gottfrieds begeisterten Vorschlag beschlossen alle drei Ausreißer, direkt nach dem Kriegsschauplatz abzurücken und zwar sobald wie möglich. Sogar den schlau ausgedachten Sicherungsaufenthalt in der verfallenen Windmühle wollte man drangeben. Dafür sollte der Wagen nun doppelt bepackt mitgenommen werden, und zwar bis nach Böhmen hinein. Ibikus versuchte zwar einige Einwendungen dagegen zu machen, aber vergebens; vor der plötzlich elementar erwachten Tatenlust des kriegsbegierigen Gottfried und seines jetzt völlig mit ihm zusammengehenden Sancho Pansa Matthes mußte er die Segel der Vorsicht streichen. Mit Mühe und Not konnte er nur durchsetzen, daß man an einem Sonntag Morgen ausmarschiere und nicht etwa am ersten besten der nächsten Wochentagsabende, wie Gottfried zuerst beantragt hatte.

Und – nun wurde es in der Tat ernst. Ibikus kaufte zwei mächtige Brote, zwei Wecken Butter und je eine große Blut- und Leberwurst für den Proviantwagen. Gottfried 117 träumte Nacht für Nacht von Heldentaten und Kugelregen. Ihm war jetzt alles klar: zunächst wollten sie als Troßbuben in die russische Armee eintreten und sich dann in dem wahrscheinlich langen Krieg möglichst schnell zum Offizier heraufdienen. Matthes schliff sogar heimlich sein großes Bowiemesser, das er unlängst von einem Onkel, einem früheren Missionar, geschenkt bekommen hatte. Ja er pfiff zuletzt trutzig entschlossen, wenn auch ziemlich schief, die Melodie des berühmten Bundesverses wieder vor sich hin.

 

In der Sonnabendnacht vor dem Abmarsch konnte keiner der drei jungen Kriegsfreiwilligen ruhig schlafen. Schon kurz nach 6 Uhr stand Gottfried auf, um an einer Partie teilzunehmen, wie er Großmutter vorlog. Er hatte in letzter Zeit das Lügen merkwürdig schnell gelernt.

Punkt 7 Uhr war er am Kunkelturm. Von dort aus sollte der Marsch angetreten werden. Dort hatte man darum auch den Proviantwagen heimlich versteckt. Ibikus war fünf Minuten später zur Stelle; nur Matthes ließ ungemütlich lang auf sich warten.

Ibikus fürchtete schon: es sei vielleicht alles verraten, und er wolle lieber mit dem Wägelchen voraus flüchten; aber Gottfried beruhigte ihn immer wieder und erklärte schließlich: im Notfalle müsse man eben ohne Matthes abrücken, der würde schon nachkommen.

Zwanzig Minuten vor 8 Uhr kam jedoch Matthes, atemlos und aufgeregt, weil ihn die Mutter auf keinen Fall habe fortlassen wollen. Er sei schließlich nur unter dem Vorwand, Liese, der Köchin, Semmeln holen zu wollen, weggelaufen.

118 Jetzt ging es schleunigst ab. Einer nach dem andern spannte sich vor den Proviantwagen, dann zogen Gottfried und Matthes an der Deichsel, während Ibikus hinten schob. Das ging am schnellsten, und es galt, möglichst rasch in das schützende Dickicht des Dusterbusches zu gelangen.

Es war eine herrliche Fahrt durch die sommerreif wogenden Getreidefelder, aus denen die ersten tiefblauen Kornblumen wie freundliche Sterne herübernickten. Auch an einigen lichtgelben Rapsfeldern ging es vorbei, die so lecker wie frischer Quarkkuchen aussahen, so daß man ordentlich Appetit darauf bekam. Die Sonne strahlte an diesem Sonntagmorgen so blitzsauber und frischgewaschen von halber Osthöhe herunter auf die kühnen Kriegsfreiwilligen, daß sie immer wieder übermütig zu ihr aufblinzelten, bis ihnen allgemach die ersten Schweißtropfen über die vor Wanderlust und Aufregung glühenden Wangen rannen. Und nun gar das ferne Falkengebirge am Horizont! Das winkte heute so lieblich und einladend den Wanderern zu, als freue es sich auf den hohen, wenn auch leider nur kurzen Besuch.

Auf der Straße, deren Kirschbäume gerade im Schmuck der ersten glänzenden Früchte prangten, waren nur wenige Menschen zu sehen. Hie und da ein paar vereinzelte, stille Dorfkirchgänger, denen das eilige Knabentrio nicht weiter aufzufallen schien.

Um halb 10 Uhr passierte man jubelnd vor Freude in die hellgrüne Lärchenallee des ersehnten Dusterbuschs ein, durch den ein vielhundertstimmiges Vogelkonzert in unaufhörlichen Variationen schmetterte. Um 12 Uhr gelangte man glücklich auf die Höhe des Hochwaldes, in dem eine feierliche Stille herrschte. Nur das leise Rauschen der Fichten oder ein vereinzeltes Piepen von Spechtmeisen drang an das lauschende Ohr der Wanderer. Gegen 1 Uhr begann sich der Magen zum erstenmale energisch zu melden, da er das gewohnte Mittagsmahl knurrend vermißte.

119 Auf einer kleinen, lauschigen Waldwiese beschloß man daher einstimmig, den ersten Reiseimbiß einzunehmen. Ibikus machte die Hausfrau und schnitt einem jeden eine tüchtige Brotstulle und ein Stück Leberwurst ab. Für sich selbst sorgte er am reichlichsten, obwohl er der kleinste war. Auch ein halb zersprungenes Wasserglas hatte der findige Totengräbersohn auf den Proviantwagen gepackt und holte es jetzt hervor, um es an einem kleinen Wiesenbächlein mehrfach zu füllen. Natürlich mundete dies erste, selbstbereitete Mahl den Reisenden ganz besonders gut, und Gottfried erklärte begeistert, selbst an seinem Geburtstag, an dem er nach Kämpferscher Familiensitte den Küchenzettel selbst bestimmen durfte, habe es ihm noch nie so vorzüglich geschmeckt, wie hier auf der Dusterbuschwiese, der ersten Station – wie er ahnungsvoll betonte – auf dem Wege in den russisch-türkischen Krieg.

Darauf brach man wieder in der alten Marschordnung auf. Mitten auf dem Wege durchs liebliche Leipatal erklärte Ibikus, der Mann der Deckung, mit einem Male: er hielte es doch für geratener, heute den schützenden Dusterbusch nicht mehr zu verlassen, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens sei es draußen jetzt schrecklich heiß. Zweitens sei es am Sonntag Nachmittag durchaus nicht ungefährlich, an den vielen Sonntagsspaziergängern auf der großen Landstraße vorbeizuziehen. Beide Gründe waren stichhaltig, wenn sie auch dem Tatendrange Gottfrieds, der am liebsten im Sturmschritt an die Grenze geeilt wäre, keineswegs entsprachen. Aber er fügte sich und meinte nur, man solle dann wenigstens jetzt ein wenig schlafen, um in der Nacht rüstiger vorwärts kommen zu können.

So machte man denn am Rande des Waldes Halt, schlug sich ein wenig seitwärts in die Büsche und legte sich schlafen. Auf Feldhauptmann Gottfrieds Befehl sollte zwar einer nach dem andern beim Proviant wachen; aber da die Reihe 120 mit Matthes begann und dieser bereits fünf Minuten nach den beiden andern ebenfalls selig entschlummert war, so schnarchten die kleinen Abenteurer bald alle drei um die Wette unter dem schattigen Laubdache einer mächtigen Buche, von deren Zweigen ein gefühlvolles Stieglitzmännchen ein zartes Schlummerliedchen ertönen ließ.

Es war kurz nach 9 Uhr, – die Sonne hatte schon Gutenacht gewünscht – als Ibikus langsam erwachte und sich schläfrig die Augen rieb. Die beiden andern schnarchten noch immer so selig, als lägen sie daheim in ihren wohlgehegten Kinderbettchen.

Ibikus hatte Hunger, sein erster Blick galt daher dem Proviantwagen, der auch unversehrt dastand. Laut Feldmarschordnung sollte nur nach gemeinsamer Vereinbarung gespeist werden, aber die Gelegenheit, das Gebot zu übertreten, war zu verlockend. Mit dem großen Bowiemesser des Pastorsohnes, das bis zum ersten Schlachttage als Wirtschaftswerkzeug dienen sollte, schnitt sich also Ibikus ein großes Stück Brot und ein gleiches Teil Leberwurst von dem Vorrat ab und hielt dann, recht behaglich schmatzend, seine Abendmahlzeit ab. Als er gerade aufstehen wollte, um sich auch noch einen Trunk Gänseweins zu gönnen, fuhr plötzlich Gottfried mit dem lauten Rufe: »Halt ein Dieb!« empor und weckte dadurch auch Matthes.

Nachdem sich der Irrtum aufgeklärt hatte, begannen erst Gottfried, der streng auf die Marschregeln halten wollte, und dann auch Matthes, der selbst Hunger bekommen hatte, weidlich auf Ibikus zu schelten, weil er sich ohne Erlaubnis und heimlich am Proviant vergriffen hätte.

Ibikus war ein geriebener Kunde und ließ sich durch die heftigen Vorwürfe gar nicht einschüchtern. Während er behaglich mit vollen Backen weiterkaute, log er mit Seelenruhe: »Erstens habe ich an Stelle der beiden anderen Schlafmützen«, – hierbei schnitt er ein ungemein verächtliches 121 Gesicht, – »die ganzen Stunden hindurch gewacht und habe mir also mein Abendbrot redlich verdient; zweitens sehe ich gar nicht ein, warum die andern nicht auch zu Abend essen wollen, es ist doch Zeit.«

Auf diese schlagende Replik hin wußten die Honoratiorensöhne auch nichts mehr einzuwenden und ließen sich also ebenfalls einen Abendimbiß zuteilen, der freilich nunmehr von seiten des gekränkten Proviantmeisters nicht gerade allzu reichlich bemessen wurde. Nach 20 Minuten packte man abermals zusammen und marschierte weiter.

Die Dämmerung war unterdessen langsam hereingebrochen. Auf den taufeuchten Waldwiesen wogte ein weißer, gespenstischer Nebel. Die Stimmen der tagesmüden Vögel waren längst verstummt, dafür zirpten aus den fernen Kornfeldern die unermüdlichen Grillen in lustigem Dreivierteltakt herüber, und ihr Gesang klang den Knaben wie ein immerfort wiederholtes: »Zum Türkenkrieg, zum Türkenkrieg, zum Türken-Türken-Türkenkrieg!« Auf der Landstraße war jetzt weit und breit kein Mensch mehr zu sehen; nur von Zeit zu Zeit preschte eine stattliche Adelskarosse herrisch vorüber, ja einmal glaubte Gottfried seine Freunde, die Karpnitzer russischen Rappen, erkannt zu haben.

Als man auf die Höhe hinter Tannewitz kam, – das Schloß ließ man glücklicherweise links liegen – ging dunkelrot glühend der Mond über einem der nahen Falkenberge auf und ward mit hellem Jubel begrüßt. Am liebsten hätte der gefühlvolle Matthes, der zwar nur selten richtig, aber dafür sehr gern zu singen pflegte, irgend ein melancholisches Wanderliedchen angestimmt; jedoch Gottfried erklärte das mit einer nächtlichen Kriegs- und Feldmarschordnung für durchaus unvereinbar, und auch der vorsichtige Ibikus, der immerfort spähende Blicke nach vorn und hinten warf, stimmte ihm bei.

122 So wanderte man eben still durch die duftende, lauwarme Mittsommernacht, weiter und weiter, zuerst beim kargen Licht der funkelnden Sterne, dann bei dem reicheren Scheine des gespenstisch aufsteigenden Mondes, hinein in eins der schlummernden Täler des ragenden Falkengebirges der unfernen Grenze zu. 123

 


 


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