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Daniel Dark war und blieb ein Kreisel, innerlich in rasender Bewegung, äußerlich ruhig. Aber um die Ruhe nach außen zu bewahren, mußte er eine Weile mit sich allein sein. Die Sehnsucht nach Wiederherstellung des Gleichgewichts legte ihm allerlei Empfindungsworte auf die Zunge.
Wenn er hätte fliegen können, nach Lohfelderkamp hin, wenn er auf einem der großen Findlinge hätte Platz nehmen können, zumal auf dem Rücken des großen, dicht am Wiesengraben liegenden, der (anders als die andern) eine breite, ebene Fläche bot, wenn er da hätte ruhen können, angesichts der Wiesen und Moore, oder vielmehr der Nebelnacht, die sie jetzt umschloß ... wenn er in totstiller Einsamkeit hätte austoben lassen dürfen, was ihm Brust und Herz beschwerte, dann wäre er wohl darüber hinweggekommen, eher als hier im wüsten Jubel trunkener Jahrmarktsfreude.
Ein paarmal war er in der Krambudenzeile auf- und abgelaufen, ein paarmal nach dem Tanzlokal zurück, einem Verbrecher vergleichbar, den es nach dem Tatort zieht, ein paarmal hin nach dem Tanzhaus, ohne den Mut zu haben, hineinzugehen. Und nun ... nun saß er wieder im Lindenweg an der Kirchhofsmauer an alter Stelle, die so vieles offenbarte und so vieles verbarg.
Der Mond glitzerte als große Sichel durch das Blätterdach, in den Gründen quoll und rollte weißer Nebel auf. Beleuchtung und Farben anders, sonst aber wie vor ein paar Stunden. Und wieder ein Paar vom Tanzhause her. Die im flimmernden Mondlicht webenden Gestalten hatten ungewisse Formen, die Stimmen aber klangen Daniel bekannt; nun standen sie an der freien Ausbuchtung des Kreises und sahen in den Mond – Julius Kirchner und Helene Springe.
Sie stritten darüber, ob Reiherwisch oder der Schwan verkauft werden müsse, wenn sie sich heirateten, da beide Gewese zusammen nicht zu halten seien. Helene wollte Reiherwisch behalten, machte das sogar zur Bedingung, Julius wollte das nicht, er machte geltend, daß Reiherwisch neuerworbenes, der Schwan aber von Altvordern ererbtes Gut darstelle.
Lene hatte dafür keinen Sinn, sie lachte. »Dein Schwan ist auch was Rechtes. Und wie lange heißt das Haus denn ›Zum wilden Schwan‹?«
»Das hat Vater sich zurecht gedacht, als er die Wirtschaft antrat«, entgegnete Julius.
»Da hat er sich auch was Rechtes zurecht gedacht. Und der Pinselmeister, der es hingemalt hat, wie heißt der?«
»Das hat Maler Meier getan«, antwortete Julius, und in seiner Stimme lag eine Art Bedrücktheit über den Unwert von Meiers Kunst.
Lene Springe schätzte sie auch niedrig ein: »Das soll ein Schwan sein? Und nun gar ein wilder? Sieht aus wie eine Gans, alle Welt lacht darüber, und die Jungs sagen ›Zum Pilkenkücken‹.«
»Das laß sie man tun«, erwiderte Julius, »das Pilkenkücken bringt hübsch Geld ein.«
»Reiherwisch auch«, erwiderte Helene.
»Wenn das man wahr ist.«
Sie hörte nicht darauf und fing wieder von dem Wirtsschild an. »Wenn da wenigstens ein anderes Bild aufgemalt wäre«, sagte sie.
»Was denn für eines?« Sie standen und sahen in den Mond. »Was denn für eines?« wiederholte Julius.
»Nun, wie das da, Mond oder Halbmond. – Aber ich will«, setzte sie hinzu, »da überhaupt nicht hin. Jedem freundlich sein, Grog und Bier und Schnaps bringen und einschenken, Bierringe vom Tisch wischen –ah – bah – danke schön! Da bin ich lieber Frau auf eigenem Hof.«
Julius war von ihrem Einwand nicht sehr erschüttert. Er erwiderte: »Da gewöhnt man sich an.«
Sie setzten sich. »Was machen wir mit dem Klugmeister von Lohfelderkamp?« fragte Julius.
»Wie meinst du das?«
»Du sagtest, dein Vater habe ihn herbestellt, ihn als Schreiber zu mieten.«
»Du meinst Daniel Dark, mit dem ich konfirmiert worden bin?«
»Ja, du sagtest, dein Vater wolle ihn als Schreiber haben.«
»Warum soll er ihn nicht als Schreiber haben?«
»Nein, mein Mädchen, da bin ich nicht mit einverstanden. Da trau ich dir nicht übern Weg. Daß du auf seinem Schoß gesessen hast, habe ich selbst mit angesehen. Und hinterm Teich hast du dich auch mit ihm herumgetrieben.«
»Das ist lange her und er hat sich nicht mehr um mich bekümmert.«
»Und doch sitzt er dir noch immer im Kopf.«
»Hab dich nur nicht so!«
»Na, na!«
»Will nicht sagen, daß ich ihn nicht leiden mag, mag ihn sogar gern leiden; er ist aber zu gut für mich, und dann ist er auch bang vor Frauensleuten.«
»Woher weißt du das?«
»Das hört man so. Und wenn er nicht so bange gewesen wäre, dann hätte er, als wir am Teich Abschied nahmen, bevor noch der Schulmeister hinzukam, mir etwas angetan, was junge, verliebte Leute dann wohl so tun.«
»Na, mein Deern, das war vor Jahren. Damals war er ein Junge, nun ist er groß. Und wenn er auch jetzt noch bange ist vor Frauensleuten, du bist es nicht vor Mannsleuten.«
Daniel hörte das Geräusch, wie wenn jemand halb in Ernst, halb aus Spaß Schläge auf den Rücken erhalte.
»Wenn du das noch mal sagst«, erklärte sie, »dann tu ich das wirklich, was ich nicht tun soll, und dann sind wir quitt.«
»Das brauchst du mir gar nicht zu sagen, da kenne ich dich gut genug zu«, erwiderte Julius. »Und das weiß ich auch, daß du nur mit dem kleinen Finger zu winken brauchst, und er hängt dir an Rock und Schürze.«
Dabei ein höhnisches Lachen. »Der Torfjunge, der Moorjunge!« Was Julius an Verachtung und Geringschätzung aufbieten konnte, lag in dem Lachen, lag in dem Torfjungen und Moorjungen, so wie er es aussprach und sagte.
»Warum priestert er nicht?« fuhr er fort. »Doch nur deinetwegen, Helene.« Julius gehörte zu den feinen Kirchdorfsleuten, die Helene und nicht Lene sagten. »Die Sorte kenne ich«, redete er weiter, »kommt vor lauter Hochmut und Übermut und Schlafsucht zu nichts.«
»Was schnackst du da, Julius, nu hör auf!« Sie rief es in erregtem Ton. »Sonst weiß ich wirklich nicht, wen ich nehme. Du hast Geld und Gut, bist mehr für die Welt, das ist wahr – hast mich auch gefragt, ob ich dich wolle. Daniel Dark sagt nichts und kümmert sich nicht um mich. Das macht, er hat es in sich. Ich glaub sogar, er hält mehr von mir als du. Schade, daß nichts mit ihm anzufangen ist. Leiden und vertragen mag ich ihn viel lieber als dich, weißt das?«
Wiederholung des Gelächters, aber ein wenig gedämpfter. »Siehste, wie recht ich hatte, den Torfjungen in Reiherwisch nicht haben zu wollen?« Und nach einer Weile: »Bist n kleines Lasterchen, aber wir wollen uns vertragen.«
Er umarmte sie, sie wehrte sich. »Laß das, ich hab keine Lust zu Albereien.« Eine peinliche Stille.
»Du«, sagte Lene Springe.
»Was?«
»Als wir in der Achterstube waren, da kam jemand herein.«
Julius schwieg.
»Ich sagte, da kam jemand herein. Hast du gehört?«
Julius Kirchner brummte. »Gehört hab ichs wohl, daß jemand da war, hören taten wirs ja beide. Die Person ging aber gleich wieder weg.«
»Ob er was gesehen hat?«
»Was?«
»Daß wir im Sofa zusammen saßen und du mich küßtest?«
»Es war dunkel in der Stube.«
»Ja dort, wo der Mann war; wir aber hatten Licht. Was meinst du, hat er was gesehen?«
»Und wenn auch, das macht doch nichts das ist doch einerlei.«
»Julius!«
»Oben im Saal, im Ecksofa tat ichs auch.«
»Es war nicht schön, und ich hab den Mund weggehalten, war aber doch was anderes. Wir gelten als Braut und Bräutigam da sieht man schon was nach. Aber beide allein in der Achterstube! Wenn das herumkommt, denken die Leute gleich Häßliches hinzu. Und dann – ich weiß nicht ...«
»Was weißt du nicht?«
»Ich denke immer, er könnte es gewesen sein.«
»Wer?«
»Ach, ich weiß nicht.«
»Aber ich weiß«, behauptete Julius. »Minna Haß war es, die Aufwaschfrau.«
»Nein, die war es nicht; es war keine Frau, es war ein Mann. Ich denke immer ...«
»Was denkst du?«
»Ich sah nicht viel, nur den Schatten, und wie er rückwärts, immer nach uns sehend, zur Tür hinausging. Und ich muß immer denken ...«
»Was mußt du denken?«
»Ich muß immer an den denken, den du den Moorjungen nennst.«
Eine Pause. Es bedurfte einer Vorbereitung für Julius, so zu lachen, wie er dann tat.
»Lach nicht so!« rief sie. Es war aber auch ein empörend rohes Lachen. Und wieder fing er zu lachen an.
»Das wäre wamos!« (Er sprach ›wamos‹.) »Wamos! Wenn das wäre, drei Daler gäb ich für den Schreck und Ärger, den er gehabt hätte!«
»Hör auf!« rief Helene Springe, ihre Stimme zitterte vor Zorn. »Julius, nun will ich dir was sagen. Daß ich Daniel Dark viel lieber mag als dich, hab ich schon gesagt. Aber: wenn du so schlecht und schadenfroh bist wie jetzt dann ekele ich mich vor dir.«
Julius schwieg. Daniel hörte, wie es in ihm arbeitete, wie er durch die Nase schnob, offenbar unter dem Druck großer zorniger Entschlüsse. Dann fing er an zu sprechen. Sein weiches, pappiges Organ klang in dem Bemühen, fest zu erscheinen, rauh und heiser. Aus dem Ton hörte man heraus, in wie finstere Falten sein Semmelgesicht gelegt war.
»Du bist ein lasterhaftes Ding, wirst ja auch dafür angesehen, und ich trau dir nicht übern Weg. Und das sag ich dir: kommt der Torfjunge nach Reiherwisch, dann ist es aus mit uns.«
Sie antwortete nicht. Einen Augenblick blieb sie sitzen, dann erhob sie sich und ging schweigend mit rauschenden Röcken davon. Sie wendete sich nicht einmal, die Schatten der Baumreihe schlossen sich über ihrer Gestalt. Nebel und Dunkelheit entzogen sie den Blicken ihres Bräutigams, und noch immer blieb er auf seinem Sitz. Es mußte wohl eine Art Erstarrung sein, aus der er sich nicht sogleich zu befreien vermochte. Aber als es geschehen war, eilte er ihr in vollem Laufe nach.
Was sich in der Baumreihe ereignete, sah Daniel nicht er hörte nur Helenens durchdringende Stimme: »Julius, du wirst so gut sein und mich allein lassen! Es mag ja sein, daß man nicht zum besten über mich spricht und daß die Leute nach ihrer Art ein Recht dazu haben, mich so anzusehen, wie sie tun. Aber du ... es von dir zu hören, das trennt uns für immer. Du hast kein Recht, mich zu beschimpfen. Und wenn ich bin, wie du sagst – weshalb willst du mich freien?«
Was Julius antwortete, verstand Daniel nicht, aber daß es Abbitten und Entschuldigungen seien, verriet die leise, demütige Stimme. Er fand aber kein Gehör; daran zweifelte der ungesehene Zeuge nicht mehr, als Julius nach wenigen Minuten zurückkam, einen Augenblick still stand, beide Arme zum Mond und Sternenhimmel erhob, tief aufatmete, darauf zähneknirschend in sich hinein fluchte und dann in der Richtung nach dem Tanzhause davonstürmte.