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Endlich machte er doch einmal einen Versuch, aber da waren ihm die Beine zusammengebunden.
Als vor Jahren dem Nachbarn Wendel vom Storch ein kleines Mädchen gebracht worden war, durften der Bruder Fritz Wendel und dessen Spielkamerad Daniel Dark (selbst noch junge Storchenbrut, sie saßen noch nicht mal in der Klippschule auf der Ofenbank), da durften sie das Neugeborene besehen. Es schrie, sah im Gesicht rot und unzufrieden aus; steckte steif, wie ein Stock, in den Windeln. Als der Augenschein eingenommen war, bekamen die Knaben den Befehl, dem Vater der Frau Wendel, Großvater Teschner, der am Ende des Dorfes wohnte, freudige Botschaft zu überbringen. Großvater war sehr alt, auch wohl nicht mehr gesund, ruhte meistens im Bett, war aber bei guter Laune. Die Kinder bekamen Äpfel und Nüsse, dem Enkel Fritz strich er über das bräunliche Haar. »Kann sie denn schon laufen?« fragte er. »Ich weiß nicht«, entgegnete Fritz. Daniel aber sagte: »Sie könnte wohl, sie haben ihr aber die Beine zusammengebunden.« Da schmunzelte der Alte, hob Daniel beifällig das Kinn und sagte: »Ja, ja, so gehts. Wir könnten manches, aber man hat uns die Beine zusammengebunden.«
Schon ein volles Jahrhundert vorher war ein Buch, betitelt ›Emil‹, für die Freiheit der Wickelkinder eingetreten, in Lohe aber wurde weiter gewickelt. Man könnte wohl manches, wenn man uns nur nicht die Beine zusammenbände.
Daniel Dark raffte sich also endlich (es konnte ein Jahr seit dem Gespräch mit dem Hökerssohn und mit Mars-Ohm verstrichen sein) auf, einen Ball im Kirchdorf zu besuchen, um mit Springe zu sprechen, vor allen Dingen aber mit Lene zu tanzen und auf das auch ihm zukommende Menschenrecht aufzutrumpfen. Zumal mit Lene Springe wollte er tanzen, als sei er ein Knecht wie andere. Aber da hätte er an Großvater Teschners Wort denken sollen: »Man kann nicht alles, was man könnte, und man könnte vieles, wenn einem nicht zuweilen die Beine zusammengebunden wären.»
Gedemütigt kam er vom Frühjahrsmarkt zurück. Er hatte nicht mit ihr getanzt – bewahre! Hätte es wohl können, wenn er Herr seiner selbst gewesen, wenn er nicht gewickelt gewesen wäre.
Es kam, was kommen mußte. Getanzt wurde im Schwan eine Treppe hoch. Der rote Julius war noch nicht frei, war noch in die Geschäfte und in die Kleidung eines Kellners gebannt, hatte eine grüne Latzschürze vorgebunden, sein beleidigend blondrotes Haar troff von Öl. Als Daniel in die Tür trat, flog er mit einer Präsentierplatte voll heißer Groggläser über die Diele. Er hatte es eilig, stoppte aber auf einen Augenblick, Daniel zu fragen, ob er tanzen wolle, und ohne die Antwort abzuwarten, wo er das Tanzen gelernt habe. »Ut di sülwen?« Mit weit geöffnetem Munde lachte er über seinen Witz, wobei Daniel bemerkte, daß die beiden unteren Eckzähne nicht mehr da waren.
Das Gastzimmer nahm Julius auf, Gelächter und Qualm und Groggeruch drang heraus, Daniel sah erhitzte, angetrunkene Gesichter.
Daniel Dark nahm langsam die Stufen der Treppe zum Saal, schon von unten hatte er die Tanzschritte über der Bodendecke gehört. Julius Kirchner war also nicht oben, das minderte wenigstens etwas die Scham und die Wut über die ihm angetane Demütigung. Er stieg langsam hinauf, das ging schon deshalb nicht anders, weil er sich mitten in einem Schwarm befand.
Oben drehten sich die Tänzer in dichtem Geschwärm. Daniel kletterte auf die Galerie, und es gelang ihm, hinter einer Säule, die das Gewölbe trug, einen Platz zu finden, wo er viel sehen, aber kaum bemerkt werden konnte.
Die Musik spielte zu einem neuen Tanze auf. Helene Springe erschien als Erwählte des ersten Tänzers auf den Brettern. Es war so, wie man ihm gesagt hatte, sie war die Begehrteste, sie war die Schönste, sie ging von Hand zu Hand. So wie sie tat, das war kein Tanzen mehr, ein Fliegen war es, ein Schweben. Sie war ein Engel, und alle wollten den Engel haben. Jedesmal, wenn die Musik zu einem neuen Tanz ansetzte – ein Wettlaufen der Jünglinge: städtisch gekleidete mit ausgesteifter Wäsche, und bäurisch gekleidete, ohne jegliche Andeutung von Leinenwäsche, die Weste bis zum Kehlkopf hin fest zugeknöpft, besser gekleidete vom Dorf mit einem weißen Schimmer in Höhe des Brustkorbes. Und während sie ein Engel war, saß er und verzehrte sich in Eifersucht.
Weshalb das? So fragte er sich, blieb aber und verfolgte sie mit den Augen. Sie lachte ihre Tänzer an, das durfte sie nicht. Wie kam sie dazu, jemand anzulachen, der nicht Daniel Dark hieß? Aber warum stieg er nicht hinab in den Strudel? Er konnte nicht, ihm waren die Beine zusammengebunden. Lene Springe wäre ihm doch weggeschnappt worden, es wären Leistungen herausgekommen, die klafterweit unter seinem sonstigen Können lagen.
Sie war von allen gesucht, tat mit allen freundlich, die sie an der Hand oder im Arm hatten. Wie sie das nur tun mochte! Er hätte es einstmals besser haben können als sie alle. Er hatte im Kirchsteig ihr gegenüber gekniet, hatte sie mit dem Kopf gestoßen, er war mit ihr nach Reiherwisch gefahren, sie hatte auf seinem Schoß gesessen. Hinter der Weide hätte er sie beinahe geküßt.
Wenn sie die faden Gesellen nur nicht so anlachen wollte, mit ihren lieben strahlenden Augen anlachen wollte!
Auf der Galerie saßen alte Frauen und Kinder und ein paar Greisbärte. Da sah sie nicht hinauf. Und wenn auch, er hielt sich hinter der Säule.
Wie konnte sie sich nur so gemein mit Leuten machen, die nicht Daniel Dark hießen? Er sah ihre Freude und Lust. Wie durfte sie Lust und Freude haben, wo er nicht dabei war? Sie fühlte sich als Königin des Festes. Wie durfte sie Kronen tragen, die er ihr nicht aufs Haupt gesetzt hatte? Wie Glanz und Glorie lag es über ihrem wunderbaren, braunen Haar. Ein Glanz, woran er kein Teil hatte: das zumal rührte und erboste Daniel Dark schier zu Tränen. So saß er und biß sich die Lippen wund.
Er biß sich die Lippen wund und dachte an Simson und Delila. Die hatte den Starken mit Stricken gebunden von dickem Bast. Er aber hatte sie zerrissen und hatte die Philister geschlagen und war gegangen. Denn damals hatte sie ihm noch nicht das letzte Geheimnis gestohlen. Er wollte auch gehen, bevor ihm das letzte Heiligtum geraubt worden war.
Er tat es. Als er auf der Ebene des Saales angelangt war, wirbelte die Musik die Paare wieder durcheinander. Er aber ging die Saaltreppe hinab und verließ den Schwan, und Julius lief ihm nicht in den Weg.
Heimlich ging er nach Haus. Der Weg hinter den Gärten von Reiherwisch und weiter über die Schleuse wäre der nächste gewesen, er aber wählte den Umweg der Landstraße.
*
Ein paar Wochen später fragte ihn der Tischler-Ohm, dem Daniel auf den Wiesen begegnete. Tischler-Ohm trug Säge und Hobel und kam von Reiherwisch, wo er ein paar Tage gearbeitet hatte.
»Na, Daniel, wie ist es geworden? Hast tüchtig mit ihr getanzt?«
»Ich habe gar nicht getanzt«, antwortete Daniel. »Mir waren die Beine zusammengebunden.«
Das verstand Ohm natürlich nicht, und Daniel erzählte das vom alten Teschner.
Ohm sah ihn mit listigen und doch ernsten Augen unter buschigen, grauen Brauen an. »Ich glaube, es ist ganz gut gewesen, das mit den Beinen.«
Wie er das meine, fragte Daniel.
»Ich glaube, mein Junge, die kleine Springe ist so gut wie vergeben. Der Wirtssohn, ich meine den Rotkopf, war auf Reiherwisch und, wie die jungen Menschen sich hatten ... In den Gesindestuben munkelte man auch von Braut und Bräutigam und Verspruch.«
Daniel war erstarrt. Er wollte fragen: »Was taten sie denn miteinander?« Tischler-Ohm war aber bereits seine Wege gegangen und zeigte ihm nur noch den alten, breiten Rücken.