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Lohfelderkamp heißt die neue Ansiedlung, und Andreas Dark ist ihr Eigner und Gründer.
Bei dem Wunder vom See Genezareth am alten Kohlhof stand Johann Butenop neben Lena Ellernbrook und Hans Plöhn an Daniel Darks Seite.
Johann Butenop, ein Schwestersohn von Andreas, vater- und mutterlose Waise und von Darks wie ein eigenes verpflegt. »Der liebe Gott«, pflegte Andreas zu sagen, »hat uns nur ein Kind geschenkt, ein Fingerzeig, uns des verlassenen anzunehmen.«
Johann Butenop war Daniel Dark im Alter manches Jahr voraus. Die Zeit lief, und nun war er ein halberwachsener junger Mann. Nach seiner Einsegnung hatte er bei fremden Leuten gedient, ›Unterschied zu lernen‹, nun aber ist er Arbeiter und Knecht auf Lohfelderkamp. Daniel dagegen ist die große Leuchte der Schule geworden und dort auf den ersten Platz gerückt. Dünn und lang wächst er in die Höhe.
Er hat einen weiten Schulweg. Aber das macht nichts, der lange Weg weitet seine Brust, macht den Atem frei und gibt ihm Zeit und Raum zum Grübeln.
Etwa zehn Minuten Wegs von Lohfelderkamp liegt ein hochstämmiger Buchenwald quer über seinem Weg. Bei tiefverschneiten und aufgeweichten Wegen macht Daniel den Umweg um den Saum, zu günstigerer Zeit läuft er pfadlos hindurch. Er liebt den Wald und sein Rauschen, für ihn ist es die Stimme des lieben Gottes. Und oft glaubt er Gott selbst und Gottes Gewand neben sich zu spüren.
Daniel Dark fühlt sich für und für in Gottes Hut, in seiner Hand und in seiner Nähe, zu ihm hat er sich ein besonderes Verhältnis zurecht gedichtet.
Wie er in der Kleinkinderbewahranstalt auf der Ofenbank bei dem Religionsunterricht alles fallen ließ, was er nicht verstand, so hat er es auch in dem weiteren Verlauf verhalten, als der vorschriftsmäßige Schulunterricht ihm den dreieinigen Gott in der schweren Eisenrüstung vorführte, womit die Kirche ihn belastet. Daniel faßte ebenso leicht mit dem Verstande wie mit dem Gedächtnis, insoweit konnte er allen Anforderungen fragender Lehrer und Pastoren gerecht werden, und wenn sie gar die paulinische Gnadenlehre betrafen. Aber er war noch immer der Knirps von der Ofenbank her und ließ fallen, was ihm nicht paßte; in seinem Innern fand manches keinen Widerhall, was er über die Lippen rollen lassen mußte. Um so tiefer und inniger aber verstand er die Freundschaft, die ihn mit dem Gott verband, den er sich zurecht gemacht hatte, dem er die Gestalt und das Gewand des Erlösers gab. Und dieser Gott schritt für und für zu ihm über den See Genezareth. Und wenn er etwas getan hatte, was ihm selbst nicht gefiel, dessen er sich reuevoll anklagte, dann legte der große Herrgott den Arm um seinen Nacken und schenkte ihm Worte des Trostes und der Vergebung. Zu den Dingen, die er fallen ließ, gehörte vor allem auch die Dreieinigkeit, der Gott, mit dem er verkehrte, war der alleinige und allliebende Gott, der gütige Herr des Himmels und der Erde.
Und diesem gütigen Gott erbaute er eine Kapelle. Unmittelbar vor dem Abfall des Waldsaumes vom Loher Forst nach der Niederung hin stiegen, wie von einem Baumeister hingesetzt, vier Buchen mit glatten weißen Säulenschäften empor, wundervolle, den Platz überdachende Baumriesen. Wenn irgendwo das Bild vom Waldesdom Gestalt gewonnen hatte, so war es hier. Der Knabe mußte den Kopf energisch in den Nacken werfen, um nur die Höhe zu ermessen. Und oben schlossen sich in großartig prächtiger Verzweigung die Strahlenrippen der Strebepfeiler zum Fächergewölbe zusammen.
Am Jakobsbrunnen wurden zur Samariterin die Worte gesprochen: »Es kommt die Zeit, wo ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten« – und weiter die ewigen: »Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten« – der Allgegenwart des Weltenvaters entsprechend jeder Ort zur Andacht geeignet und bestimmt. Und doch das allgemein menschliche Bedürfnis nach Festlegung eines Orts, der als Träger der Stimmung, als Erreger der Phantasie die milde, fromme Gesinnung in uns weckt. So fühlte auch Daniel Dark an diesem Ort mehr als an dem des Alltags das liebe Wort der Gnade und der Liebe. Gen Westen, hart an der Kapelle die weiten Wiesen. Sie wurden, so oft es Daniel gefiel, zum See Genezareth. Die heiligen Wellen wuschen und berannten die Ufer, und mitten im Sturm und Drang der große Gott seiner Phantasie. Aber seltener fielen Worte des Trostes und der Vergebung, für und für wies sein Gott und Erlöser hinauf in die Sterne.
*
Er war ein eigener Knabe. Den Befehlen Gottes nachzukommen, wie er sie verstand, war für ihn selbstverständliche Pflicht, Lärmen und Prügeln nicht nach seinem Sinn; bedauernd hörte er oft dem Bubenton seiner Mitschüler zu.
Als sein Pflegebruder Johann sich einmal bei Mutter Grete über die Schikane eines Nachbarn beklagte und Grete Dark, geborne Schott, unbedachterweise sagte: »Laß nur, es trifft sich wohl mal wieder«, gedachte Daniel des göttlichen Gebots, überall und ohne Menschenfurcht Gottes Wort zu verkünden.
»Mutter«, fing er an und gab sich einen Stoß. Er war eben von der Schule nach Hause gekommen und aß sein Vesperbrot. »Mutter«, sagte er, »in der Bibel steht doch: ›du sollst nicht Böses mit Bösem vergelten‹.«
Vater Andreas saß vor der Schreibklappe seiner Schatulle, seine wirtschaftlichen Aufzeichnungen in Ordnung zu bringen. Als er die Bußpredigt seines Daniel vernahm, verwunderte er sich, drehte sich um, maß den Mahner mit den Augen in der Höhe und in der Länge, wollte ein ironisches, überlegenes Gesicht machen, was aber nicht gelang, und sagte schließlich, die Bleifeder in der Hand, jedes Wort dehnend: »Nu hör mal den! Der will ja wohl Pastor werden.«
Da gab Daniel sich den zweiten Stoß, faßte sich ein Herz und entgegnete: »Ja, Vater, wenn ich darf, möchte ichs wohl.«
Vater Andreas fragte: »Und wer soll Lohfelderkamp haben?«
Und Daniel versetzte sich den dritten Stoß und entgegnete: »Ist Johann nicht da?«
Als er das gesagt hatte, saß Andreas schon wieder vor seiner Klappe, räusperte sich noch eine Weile, redete aber nichts mehr.
Daniel Dark hatte sich schon lange mit dem endlich geäußerten Gedanken getragen. Schulmeister oder Pastor – das liegt in solchen Fallen einem Dorfknaben am nächsten.
»Daniel Dark will Pastor werden« – das Wort blieb und wurde umhergetragen, mehr noch im Dorf als im Hause von Lohfelderkamp. Und bei der nächsten Schulprüfung kam der Stein ins Rollen.
Wieder hatten sich alle Frauen über den klugen Jungen der Grete Schott, verheirateten Dark, gewundert, der die Schulaufsicht führende Pastor auch. Erst wurden Andreas und Grete in des Lehrers Stube gerufen und dann Daniel auch.
Ob er Pastor werden möchte, fragte Pastor Rabe. – »Ja.« – Der Geistliche faßte den Jungen väterlich unters Kinn. Lob und ernste Hinweise. Und an die Eltern die Mahnung, es werde Zeit, ihn auf die Gelehrtenschule zu schicken, wenn was daraus werden solle.
Aber davon wollte Andreas nichts wissen. Daniel solle älter und reifer werden, ehe er sich entscheide. Sei er von Gott wirklich zu dem Berufe ausersehen, dann werde er der Schwierigkeiten noch immer Herr werden. Daniel solle, meinte der Alte, bis zur Konfirmation in der Dorfschule bleiben, ja sogar zwei Jahre noch älter werden als die anderen. Das möge der Prüfstein sein. Wenn er dann noch auf seinem Sinn beharre, dann in Gottes Namen!
»Hat auch was für sich«, entgegnete Pastor Rabe, »ist aber ein Wagstück, eine starke Belastungsprobe, das einen festen Willen voraussetzt.«
»Was meinen Sie dazu, Herr Frahm?« wendete er sich an einen Mann, der seinen Stuhl bescheiden an die Wand gerückt hatte.
Ein langer, klug aussehender Mann in einem gelblichen Anzug, nicht mehr blutjung, etwa Mitte der Dreißiger. Das war der sogenannte Reisemeister Frahm, ein vorschriftmäßig geprüfter, in gutem Ansehen stehender Schulmann, der die Wunderlichkeit hatte, sich wohl zu Vertretungen, nicht aber zu festen Anstellungen herzugeben. Der alte Vollborn wird nach einigen Wochen in Pension gehen, Frahm wird einstweilen das Schulamt übernehmen, das war auch der Grund seiner Anwesenheit. Den Beinamen »Reisemeister« hatten ihm seine Fußwanderungen durch Deutschlands Gaue, was damals noch etwas Besonderes war eingetragen.
»Was meinen Sie, Herr Frahm?«
»Ich denke wie Sie, Herr Pastor. Es ist eine starke Belastungsprobe, um so besser, wenn sie bestanden wird. Und ich denke, Daniel wirds machen.«
Andreas Dark kam nicht wieder zum vollen Gefühl der Gesundheit. Als Lohfelderkamp fertig geworden und die gelehrte Laufbahn seines Daniel in Frage gekommen war, trat ein Rückfall seiner Krankheit ein. Er ließ den Notar kommen und setzte seinen letzten Willen auf.
Frau Grete blieb, so bestimmte er, nach seinem Tode einstweilen »Herr vom Kram«, vor Eintritt in das siebzehnte Lebensjahr sollte Daniel nicht konfirmiert werden, Entschloß er sich dann, Pastor zu werden oder einen anderen gelehrten oder technischen Beruf zu ergreifen, dann erhielt Johann Butenop Lohfelderkamp. Der dafür anzurechnende Wert wurde für beide Erben gleich hoch festgesetzt. Sonst hatte Daniel das Vorrecht auf den Hof. Und bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahr sollte ihm die Wahl auch für den Fall vorbehalten bleiben, daß er sich entschließe, zu der Beschäftigung seiner Eltern und Voreltern, zum Bauerntum, zurückzukehren.
Vater Andreas erholte sich wieder, aber was nachfolgte, betrachtete er als geliehene Zeit und wandelte als ›trüber Gast auf dunkler Erde‹. Ein paar Monate gingen hin, da kam sie denn auch wirklich wieder, die große Krankheit, und mit ihr der Tod. Die Angeln der Himmelstür waren geölt. Sie knarrten kaum, als Andreas Dark »angetöffelt« kam, noch mit Zweifeln im treuherzigen Gesicht, ob es nun wohl passe oder ob er noch mal zurück müsse. Wie er aber Petrus sah, wußte er Bescheid, denn der lachte über das ganze Gesicht und rief: »Bist recht, Andre! Nun komm man rein!«