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Juni 1909

Die Welt der Plakate.

Schon als Kind war ich weniger darauf erpicht, das Leben aus den großen Werken der Kunst zu empfangen, als aus den kleinen Tatsachen des Lebens es zu ergänzen. Unbewußt ging ich den rechten Weg ins Leben, indem ich es mit jedem Schritt eroberte, anstatt es als eine Überlieferung an mich zu nehmen, mit der der junge Sinn nichts zu beginnen weiß. Die Erwachsenen, die noch immer eine kindische Freude haben, den vor der Tür des Lebens Wartenden den Christbaum mit den Geschenken einer fertigen Bildung zu behängen, wissen nicht, wie unempfänglich sie die Kinder für alles das machen, was die wahre Überraschung des Lebens bedeutet. Meine Neugierde war immer stärker als solche Befriedigung. Instinktiv ging ich der Versuchung aus dem Weg, in mich aufzunehmen, was weisere Leute gedacht hatten, und während meine Kameraden schlechte Sittennoten bekamen, weil sie unter der Bank Bücher lasen, war ich ein Musterschüler, weil ich auf jedes Wort der Lehrer paßte, um ihre Lächerlichkeiten zu beobachten. Ich war früh darauf aus, vom Menschen Aufschluß über den Menschen zu erlangen, und ich ließ eigentlich nur eine Form künstlerischer Mitteilung gelten, die mir das Wissenswerte unaufdringlich an den Mann zu bringen schien: das Plakat. Auch ein sentimentaler Gassenhauer, den am Sommersonntag ein Leierkasten vor unserem Landhaus spielte, hatte Macht über mein Gemüt; ich ließ ab, Fliegen zu fangen, und die Mysterien der Liebe gingen mir auf. Andere, die sich rühmen, daß der Tristan eine ähnliche Wirkung auf sie geübt habe, fangen noch heute Fliegen. Ich war stets anspruchslos, wenn es die Wahl der äußeren Eindrücke galt, um zu inneren Erlebnissen zu gelangen, und ich verschmähte jene starken Reizmittel, welche die schwachen Seelen brauchen, um eine trügerische Wirkung mit vermehrtem Schaden zu erkaufen. Kurzum, die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorbeigekommen bin, hatten sich über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der Genußsucht und Lernbegier auf ihre Kosten kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel sich zu bestätigen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!

Es sind wertvolle Aufschlüsse, die ich den Affichen jener Zeit zu danken habe, da die ersten Versuche gemacht wurden, das geistige Leben auf die Bezugsquellen des äußeren Lebens hinzuweisen. Denn immer deutlicher wurde das Streben, dem Betrachter, dessen Denken von höheren Interessen abgelenkt war, einen vollgültigen Ersatz in den Plakaten zu bieten. Die geistigen Werte, deren er scheinbar entwöhnt wurde, sollte er eben dort wiederfinden, wo er sie am wenigsten vermutet hatte, und umso größer mußte seine Überraschung sein, die Schuhwichse, deren Beachtung er eben noch Kunst und Literatur geopfert hatte, just in Verbindung mit diesen unentbehrlichen Lebensgütern anzutreffen. Bis dahin war also die Erkenntnis von der Zweckdienlichkeit und Billigkeit eines Hosenstreckers eine Angelegenheit, die mit der Malerei, mit der Spruch Weisheit, mit dem Gefühlsleben nichts zu schaffen hatte. Wenn wir aber den Hosenstrecker in der Verpackung künstlerischer oder geistiger Werte erhalten, warum sollten wirs nicht zufrieden sein? Warum sollten wir zwei Wege machen, wenn die Seligkeit auf einem zu erreichen ist? Warum sollten wir für kulturelle Ideale zahlen, die als Emballage für einen Hosenstrecker nicht einen Pfennig kosten? Mochte immerhin bei der Monopolisierung der Lebensgüter durch den Kaufmann die bildende Kunst noch da und dort die Freiheit behaupten, selbst Ware zu sein, anstatt der Ware zu dienen – daß das Wort des Schriftstellers seine Berechtigung außerhalb der industriellen Reklame verlieren müsse, schien gewiß. Nicht als ob das geistige Leben eine Verdrängung durch die merkantilen Interessen zu befürchten hätte. Aber es wird aus seiner brotlosen Beschaulichkeit zu einem sozialen Beruf geführt werden, und manche artistische Begabung, die im Nebel undankbarer Probleme erstickt wäre, wird leben, um der Überzeugung zu dienen, daß »für die Ewigkeit« nur ein Eßbesteck sei und noch dazu staunend billig zu haben.

Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine Warnung vor dem Leben. Ich wußte bald um den Stand des Geistes Bescheid. Mit der Offenbarungskraft eines Erlebnisses wirkte es auf mich, als ich einmal in einem Schaufenster die Darstellung zweier Männer sah, deren einer sich mit seiner Krawatte plagte, während der andere triumphierend danebenstand, auf sein fertiges Werk zeigte und schadenfroh rief: »Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? Kaufen Sie sich Schlesingers Kragenhalter, der hält Ihnen Kragen und Krawatte fest!« Daß die Menschheit einen Anschauungsunterricht in diesem Fache nötig habe, bedachte ich nicht. Ich nahm vielmehr an, daß es eine realistische Darstellung sei, daß in der guten Gesellschaft täglich solche Dialoge geführt werden und daß es viele Menschen geben müsse, deren Zentrum jenes Problem ist und deren Leben bloß einen Vorwand bedeutet, um den endlichen Zusammenschluß von Kragen und Krawatte zu erreichen. Und plötzlich sah ich es auf der Straße von solchen Leuten wimmeln, überall sah ich diese Gesichter, den verdrossenen Kämpfer und den fröhlichen Sieger des Lebens, ich lernte den Choleriker vom Sanguiniker unterscheiden, wiewohl beide einen aufgewichsten Schnurrbart und Schnabelschuhe hatten. Den ersten, entscheidenden Eindruck von einer Menschheit also, die in ihrer überwiegenden Majorität aus Ladenschwengeln besteht, empfing ich von jenem Bilde, und mit einem Male war ich es, vor dem sie sich alle zu der Frage einten: Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? …

Dies trieb mich wieder zu den Plakaten, die mir den Schreckensgehalt des Lebens wenigstens im Extrakt darboten. Gern stellte ich mir vor, daß alle Geistigkeit übernommen sei, daß alles, was die Literatur an Zitaten, die Sprache an Sprüchen, das Herz an Empfindungen bietet, nur mehr dort verwendet werde, und daß das Leben außerhalb der Annoncen ein leerer Schein sei und höchstens eine wirksame Reklame für den Tod. Eines Tages brach die Sintflut des Merkantilismus herein, Gevatter Schneider und Handschuhmacher gebärdeten sich als die Vollstrecker eines göttlichen Willens, und es entstand die Mode, die Köpfe dieser Leute an den Straßenecken zu konterfeien. Da verfolgte mich durch all die Jahre ein Gesicht, in dessen Zügen ich mindestens den Stolz auf eine gewonnene Schlacht zu lesen vermeinte. Ich wurde älter, aber das Gesicht bekam keine Runzeln, und ich wußte, daß es mich überleben und dem Jahrhundert das Gepräge geben wird. Einst war es die Physiognomie Napoleons, die auf die schwangeren Frauen der Zeit so nachhaltig wirkte, daß noch das Gesicht der Urenkel sie der ehelichen Untreue verdächtigt hat. Das Antlitz, das heute einen ähnlichen Eindruck in den Seelen der zeitgenössischen Welt hinterläßt, gehört einem Uhrmacher. Weil er sich rühmt, daß seine Uhren die besten seien, hat er auch den Mut der Persönlichkeit; er gibt seinen Kopf zum Pfand und seinen treuen Blick als Garantieschein … Wo tue ich das Gesicht nur hin? fragte sich manch einer, sann und kam nicht darauf. Er war einem Manne begegnet, hatte ihn wie einen alten Bekannten gegrüßt, und wußte doch nicht, wer es gewesen sei. An der nächsten Straßenecke aber grüßte ihn ein Plakat zurück. Ein Gastwirt wars oder ein Hutmacher oder der uns allen liebgewordene Schmierölerzeuger, von dem wir nur nicht vermutet hätten, daß er uns leibhaftig begegnen könnte, weil ja auch Beethoven nicht von seinem Sockel steigt! Gibts denn ein Leben außerhalb der Plakate? Wenn uns die Eisenbahn aus der Stadt holt, so sehen wir freilich eine grüne Wiese – aber die grüne Wiese ist nur ein Anschlag, den der Schmierölerzeuger im Bunde mit der Natur ausgeheckt hat, um uns auch dort seine Aufwartung zu machen!

Kein Entrinnen! So wollen wir die Augen schließen und in das Paradies der Träume flüchten … Aber wir haben selbst hier die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der gerade das Traumleben für eine passende Gelegenheit hält, sein Gesicht in unsere Nähe zu bringen! Fürchterliches wird offenbar. Der Merkantilismus hat es gewagt, noch die Schwelle unseres Bewußtseins als Planke zu benutzen. Die Welt des Tages bot nicht Raum genug, und so ist die grausige Möglichkeit, deren bloße Ahnung einem die Kehle zuschnürt, betreten worden: man hat als jene hypnagogischen Gestalten, die im Halbschlaf unser Lager umstehen, Reklamegesichter verwendet! Und da es auch hypnagogische Geräusche gibt, Gehörshalluzinationen, denen der schlaftrunkene Sinn geneigt ist, so hat man dazu – ein Schauder erfaßt mich – alle jene Devisen und Rufe bestimmt, die unser Bewußtsein bei Tage erfüllen. Welch eine Mahnung! Wir liegen da und büßen für Macbeths Schuld. Es erscheinen der Reihe nach die Könige des Lebens: der Knopfkönig, der Seifenkönig, der Manufakturkönig, der Ansichtskartenkönig, der Teppichkönig, der Kognakkönig, und als letzter: der Gummikönig. Seine Augen mahnen uns an unsere Sünden, aber seine Züge sprechen für die Unzerreißbarkeit menschlichen Vertrauens. Und doch, und doch! … Ein buschiges Haupt taucht auf und stöhnt: »Ich war kahl!« Und wieder: Hier sind noch Gesichtspickeln, dort sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Ach – ein andres Antlitz, eh sie geschehn, ein anderes zeigt die vollbrachte Tat … Ein »heller Kopf« erscheint; es ist jener, der nur Dr. Ötkers Backpulver verwendet. »Wo ißt und trinkt man gut?« summt's in der Luft und schon öffnet sich ein Maul, um ein Gulasch zu verschlingen, und schon zeigt eines, wie man Bier trinkt. Wer kommt denn dort herein? Wilhelm Tell mit seinem Sohne? »Ich soll vom Haupte meines Kindes –« Da schwankte er! Aber zur Schutzmarke einer Schokoladenfirma gibt er sich her … Seht, seht, wer bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst, ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen; sie ruft: Ich, Anna … Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines Wagens, dessen Lenker mir zuruft: »Sie fahren gut – wenn Sie Feigenkaffee –« »Entfernung ist kein Hindernis!«, unterbricht ihn ein Weltweiser, der der Welt von Herrschaften abgelegte Kleider gönnt. Und nun ist das Chaos der Maximen entfesselt: »Verlangen Sie überall … Schönheit ist Reichtum, Schönheit ist Macht … Verblüffend rasch heilt … Das Entzücken der Frau ist … Fort mit den Hosenträgern! … Geben Sie eine Krone … Wer probt, der lobt … Haben Sie schon Kinderwäsche? … Jeder Firmling wünscht … Weltberühmte prämiierte Olmützer Quargel … Das ist's, was Sie brauchen … Ihr Magen verdaut schlecht … Wollen Sie stark und gesund werden? … Reizend schön wird jede Dame … Leiden Sie an den Folgen … So sehe ich in einem meiner Korsetts mit rationeller Front aus, ohne dasselbe zu fühlen … Der weiße Rabe spricht … Rasiere dich im Dunkeln! … Wenn eine Mutter nicht in der Lage ist … Gratis 10+000 Kronen … Allen, die sich matt und elend fühlen … Wanzen und Insekten jeder Art … Musik erfreut des Menschen Herz –« Ja, sie will mir den Schlaf bringen und lockt zu erotischem Traum. Es erklingt das Lied: »Ich liebe die Eine, die Feine, die Kleine …« Aber ich bin genarrt, denn es handelt sich bloß um eine Pastille. Was tanzt dort in der Luft? »Ich bin ein Gummihandschuh! Kennen Sie mich noch nicht, gnädige Frau?« Romulus und Remus erscheinen unter einem Regenschirm. Wie! Ist die Gründung Roms wegen ungünstiger Witterung abgesagt? »Ein Verbrechen!« brüllt es – begeht jeder, der nicht – – Ich habe Fieber. Aber schon stehen ein Hofrat und fünf Ärzte an meinem Lager, die eidlich begutachten. »Männerschwäche!« murmelt einer von ihnen verächtlich. »Ein Griff, ein Bett!« antwortet es verständnisinnig. »Trinken Sie Sodawasser!« rät ein Unberufener. »Das ist der gute Krondorfer, der fehlt nie auf unserem Tische!« entgegnet es. »Trinken Sie Geßlers Altvater!« höre ich und spüre, wie ein Bart mich kitzelt. »Kauen Sie schon Ricci?« fragt ein Kobold. »Wie werde ich energisch?« wimmert einer, dem in diesem Zimmer angst und bang wird. Und ein Alp, der mir auf der Brust kauert, glotzt mich an und hat nur den einen Wunsch: »Wenn ich Sie persönlich sprechen könnte!« Hilfe, Hilfe! – Ah, wer ruft dort um Hilfe? Wer rennt mit dem Kopf durch die Wand? Rauft sich das Haar? Verzweifelt und frohlockt, jubelt und klagt, springt herum und bearbeitet das Fenster mit den Fäusten? Oh, es ist einer, der unglücklich ist, weil man ihn seine Kleider nicht beim Gerstl einkaufen läßt, und der schließlich doch seinen Willen durchsetzt! »Ich bring mich um –!« droht er, wenn man ihn hält; »Wa–s? ist's möglich!!! « ruft er, weil er die Preise zu billig findet; »Freiheit der Wahl!« brüllt er und bringt damit auch die Demokratie auf seine Seite, wiewohl es sich sofort herausstellt, daß er nur die Wahl der Stoffe meint. Und nun tobt alles durcheinander – ich unterscheide die Branchen nicht mehr – hundert Fratzen tauchen auf – hundert Rufe werden laut. Ich verstehe nur noch Ratschläge, wie: Koche mit Gas! Wasche mit Luft! Bade zu Hause! – Und da das Leben in solcher Fülle mein Schmerzenslager umbrandet und alle Bequemlichkeiten, alle automatischen Wonnen bietet, deren man um diese Stunde nur habhaft werden kann – so merkt ein Waffenhändler, daß ich mich nicht mehr auskenne, und übertönt den Lärm mit der Reklame: Morde dich selbst!


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