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November 1908

Politik.

Mein Verhältnis zur Politik drückt sich etwa in dem teilnahmsvollen Dialog aus, den ich neulich führte: »Und wer soll denn Handelsminister werden?« »Der jetzige bleibt.« »Ah,« rief ich überrascht und setzte nach einer Pause hinzu: »wer ist denn der jetzige?« … Ebenso angelegentlich bin ich für die auswärtige Politik besorgt. Wenn ich für die Spannungen eines Kriminalromanes zu haben wäre, dann übten die Gestionen der Diplomatie einen noch größeren Reiz auf mich, als sie ohnedies tun: ich könnte mich nicht satt sehen an dem Schauspiel, wie die Staaten von einer internationalen Verbrecherbande steckbrieflich verfolgt werden. Wenn ich sage, daß mich die Politik nicht interessiert, so mögen es mir die glauben, die durch die Politik um ihren Verstand gekommen sind. In Wahrheit ist mir die Politik zwar nicht Beruf, aber gerade deshalb Problem. Was mich in der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt, ist die Tatsache, daß es Politik gibt. Ich halte sie für eine mindestens ebenso vortreffliche Manier, mit dem Ernst des Lebens fertig zu werden, wie das Tarockspiel, und da es Menschen gibt, die vom Tarockspiel leben, so ist der Berufspolitiker eine durchaus plausible Erscheinung. Um so mehr, als er immer nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mitspielen. Aber ist es nicht in Ordnung, daß der Kiebitz zahlen muß, wenn das geduldige Zuschauen seinen Daseinsinhalt bildet? Gäbe es keine Politik, so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn ausfüllen könnte. Spannungen kann ihm nur der Rohstoff des Lebens bieten. Die Kunst läßt ihn darin im Stich, aber Politik und Verbrechen sind Rohstoff. Je größer die Handlung, desto geringer die geistige Anstrengung, die Handlung zu erfassen. Und je größer das politische Ereignis, umso auffälliger tritt die geistige Armut hervor, die sich damit beschäftigt. Politik ist Bühnenwirkung. Wenn Shakespeare über die Szene ging, hat noch jedem Publikum der Waffenlärm die Gedanken übertönt. Die Größe Bismarcks, der den politischen Stoff schöpferisch gestaltet – und warum sollte einem Künstler nicht ein Abenteuer im Kehricht zur Schöpfung erwachsen? –, wird mit dem Maß der theatralischen Handlung, des Effekts der Auftritte und Abgänge gemessen. Und wenn wir Deutschen Gott und sonst nichts in der Welt fürchten, so respektieren wir selbst ihn nicht um seiner Persönlichkeit willen, sondern wegen des Geräusches seiner Donner. Rhythmus ist alles, nichts die Bedeutung. Als die Hinterbliebenen in Friedrichsruh einem ungebetenen Gast den Sargdeckel vor der Nase zuschlugen, war Größe in dem Vorgang; aber das zuschauende Volk spürte sie nicht, denn es hatte nur mehr Aug' und Ohr für Gebärde und Tonfall des Mannes, der im Rohstoff der Politik rumort wie keiner vor ihm. Gibt er nicht restlos alles dem Volke? Hand aufs Herz, was ist dem Volke lieber: »Der Müller und sein Kind« oder »Wenn wir Toten erwachen«? Wer außer den Politikern, die sie begehen, beklagt denn die Dummheiten in der Politik? Sind die Gescheitheiten in der Politik gescheiter? Bietet das Schweigen mehr Spannung als das Reden? Ein Gespräch – und sechs Millionen hätten beinahe in den Krieg ziehen müssen, heißt es. Aber das ist nicht schlechte Politik, sondern gute Politik. Die erwachsene Menschheit weiß sich keinen besseren Zeitvertreib, als auf der Lauer ihrer Spannungen zu liegen, und das Mißverhältnis zwischen Ursache und Wirkung ist der ganze Inhalt des politischen Sports. Darum ist es töricht, vom politischen Standpunkt die Ursache anzuklagen. Je größer die Gefahr, desto reicher die Befriedigung des politischen Interesses, und je größer das Ereignis, desto greller erhellt es die geistige Leere, aus der es geboren ist. Wieviel ein Kaiser spricht, das ist das Um und Auf unserer Lebenssorgen. Dieser Nexus ist mein politisches Thema. Denn wenn wir einen Monat lang; von nichts anderem sprechen, so verfehlen wir mehr die Kultur, als ein Gespräch die Politik verfehlt hat. Wohl sehe ich ein, daß es keine Privatsache ist, sondern politische Folgen hat; aber eben daran ist die Politik schuld, die man zum Schweigen bringen müßte, um die Gespräche eines Kaisers ungefährlich zu machen. Politik zu treiben, wenn ein Erlebensdrang ihren Stoff nicht zum Kunstwerk formt, ist das traurigste Geschäft dieser Welt. Aber eher noch könnte ein Kaiser eine persönliche Beziehung zu seinen Irrtümern haben als ein Journalist zu seinen Wahrheiten. Es ist die schlimmste Möglichkeit der Politik, daß ein politischer Fehler einem geschlissenen publizistischen Ansehen hilft, und die größte Gefahr der Reden Wilhelms II. sind die Antworten des Herrn Harden. Das Interview des Kaisers war von Übel; aber ist es nicht weit bedenklicher, daß die deutsche Nation plötzlich erfährt, es handle sich gar nicht um das Interview, sondern um »die Interview«? Wenn England, Frankreich, Rußland, Italien und Österreich sich zum Krieg gegen Deutschland verbündeten, es wäre gewiß eine bedauerliche Folge des politischen Unfugs. Aber wäre es nicht entsetzlicher, wenn wir dann auch lesen müßten, daß der King, Mariannens Vormund, der Reußenherrscher, Umbertos Sproß und der austrische Greis sich zur Fehde gegen den das deutsche Reichsgeschäft Führenden gebündet haben? Die Folgen wären nicht auszudenken! … Wie man sieht, ist der Standpunkt, von dem ich die politischen Dinge beurteile, ein ziemlich niedriger. Mein Horizont ist so klein, daß Kulissen darin keinen Platz haben. Ich beurteile den geistigen Inhalt eines politischen Ereignisses nach der Beschaffenheit der Menschen, die es beschäftigt, den Wert des Samens nach der Qualität des Weizens, den er blühen macht. Und ich sehe, was Deutschlands Bierbänke und Zeitungsspalten okkupiert, und daß deutsche Herzen deß voll sind, weß ein Mund übergeht. Inzwischen starb ein großer deutscher Humorist, einer der größten, die je zu deutschen Herzen vergebens gesprochen haben: Rudolf Wilke, der sich vom Tod nicht um die beste Schaffensfülle betrügen ließ und als Sterbender hereinbrachte, was sonst nicht oft einem lachenden Leben beschieden ist. Der im Krankenbett Zeichnungen schuf, die in der leisesten Linie ihres Hintergrunds mehr Beziehung zur Welt haben als alle Handlung, die auf der politischen Szene spielt, und einen zeitlosen Hohn, der alle Narreteien des Tages in die Tasche steckt. Das Leben dieses Rudolf Wilke ist den meisten Deutschen entgangen, weil die Stoffe, in denen es lebte, ihnen zu unscheinbar waren und weil ihre Gestaltung des Anlasses entbehrte. So ist ihnen auch sein Sterben entgangen, und ihre Zeitungen haben für den Tod eines Künstlers nicht dreißig Zeilen Raum, und wenn das politische Leben seine Rechte fordert, nicht drei. Markerschütternd dringt dies Schweigen durch den Lärm des Tages. Es ist das Stigma der journalisierten Zeit: Weil das Leben eines Kaisers so aktuell ist, muß der Tod eines Künstlers im Übersatz bleiben.


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