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April 1908

Ö. G. Z. B. D. G.

So nannte sie sich. Ich fand die geheimnisvollen Zeichen auf dem Kuvert eines Briefs, den mir die Post brachte. So und nicht anders muß Belsazar zumute gewesen sein, als ein Finger an der Wand zu schreiben begann. Aber diese rätselhafte Inschrift zu deuten, hätte sich selbst ein Daniel vergebens bemüht. Ö. G. Z. B. D. G. Etwas stand mir bevor. Zögernd besah ich den Brief. Gewogen und zu leicht befunden? Legt mir das Schicksal Strafporto auf? Um der schrecklichen Ungewißheit ein Ende zu machen, entschloß ich mich, den Brief zu öffnen. Da stellte sich heraus, daß besagter Finger einem gleichnamigen Spezialisten für geheime Krankheiten gehörte, der es mit Rücksicht auf die öffentliche Gesundheit für notwendig fand, den Sündern dieser Welt zuzurufen: Ö. G. Z. B. D. G.! Ununterbrochen rief er es. In die Paläste der Reichen und in die Hütten der Armen drang sein Ruf, und wo zwei Übelberatene daran waren, der Stimme der Natur zu folgen, war der Ruf stärker als die Stimme. Ö. G. Z. B. D. G.! Erst später ward mir offenbar, daß es um nichts Geringeres ging als um die Gründung einer »Österreichischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«. Ich hatte es also erraten, denn mir war sogleich beim Anblick der vorsichtigen Chiffre, die sich diese Kampfgesellschaft erwählt hatte, die »Öffentliche Geneigtheit zur Bewahrung des Geheimnisses« in diesem Punkte eingefallen, und ich war nur im Zweifel, ob es sich nicht auch um eine Öffentliche Gelegenheit zum Beweise der Geistlosigkeit handeln könnte. Als ich aber erfuhr, daß der Verein die Veranstaltung einer Enquete vorhabe, da verlor ich die Spur meiner ursprünglichen Auffassung und dachte nur mehr an die Österreichische Geneigtheit zur Betätigung der Gschaftlhuberei. Und siehe, auch diese Deutung brachte mich dem wahren Sinn der Inschrift nahe.

Es handelte sich also um einen Verein, dessen Mitglieder statutengemäß verpflichtet waren, keine Geschlechtskrankheit aufkommen zu lassen. Ich sympathisierte umsomehr mit den Bestrebungen dieses Vereins, als ich mich aus den Zeitungsartikeln, die der Vorstand zum Zweck der Propaganda veröffentlichte, davon überzeugen konnte, daß er auch auf dem einzig richtigen Wege sei, das Ziel der Ausrottung der Geschlechtskrankheiten zu erreichen. Der Vereinsvorstand ging nämlich von der Ansicht aus, daß man ihnen durch Enthaltsamkeit und tadellosen Lebenswandel ein sicheres Ende bereiten könne, und nichts schien mir logischer und unanfechtbarer. Hatte man doch auf Grund wissenschaftlicher Experimente festgestellt, daß die Ursache der Syphilis im Geschlechtsverkehr zu suchen sei. Nur Prüderie und falsche Scham hätten den Vereinsvorstand davon abhalten können, der Welt das einzig unfehlbare Mittel gegen Ansteckung zu verraten! Freilich, so sehr man die Gesinnung anerkennen mochte, die diese Aktion ins Leben rief, so mußte man doch die Schwierigkeiten bedenken, die sich ihr in den Weg stellten, und sich sagen, daß die Welt leider noch nicht auf der Höhe einer solchen Wahrheit stehe. Denn die Menschen sind Heuchler genug, um einem Verein, der so wertvolle Erkenntnisse wie die vom Nutzen der Enthaltsamkeit verbreitet, vielleicht als unterstützende, aber nicht als ausübende Mitglieder beizutreten. Ich fürchtete vom ersten Augenblick an, daß die idealen Bestrebungen dieses Vereines an dem Widerstand des Publikums scheitern würden.

Die Ö. G. Z. B. D. G. ließ sich aber nicht entmutigen, und um den weitesten Kreisen die Zweckdienlichkeit der eingeschlagenen Methode zu beweisen, entschloß sie sich, eben jene Enquete einzuberufen, in der die tüchtigsten und fachlich geschultesten Vertreter der Sittlichkeit dem Publikum eindringlich zureden sollten, den Geschlechtskrankheiten das Feld zu räumen, da ja doch an ein nachgiebiges Zurückweichen der Geschlechtskrankheiten nicht zu denken sei. Noch weniger aber sei Hilfe von der Wissenschaft zu erwarten, die es vorläufig verschmähen müsse, sich mit einem Gegner einzulassen, der seine Macht auf der Basis der Unmoral behauptet. Aus dem Einladungsschreiben, das ich erhielt, entnahm ich zu meiner Genugtuung, daß man zwar von vornherein darauf verzichtet hatte, mich als Vereinsmitglied zu gewinnen, aber den größten Wert darauf legte, mich als Experten in dieser Frage zu hören. Beides schmeichelte meiner Eitelkeit, aber vor allem fühlte ich, daß man in mir den Schriftsteller sah, der das unvergängliche Verdienst hat, in einer Zeit, welche die Geschlechtskrankheiten zwar zu haben, aber nicht zu nennen wagte, als erster das Wort »Syphilis« ausgesprochen zu haben. Denn sie galt bis dahin als eine Krankheit, bei der Diskretion Ehrensache war, ja mehr als das, Hauptsache, und die Zeitungen schwiegen von ihr, als ob es sich um einen Aktienschwindel handelte, oder drückten sich so respektvoll um sie, als wäre die Erlangung einer wirklichen geheimen Krankheit mit dem Exzellenztitel verbunden. Hatte man also die Syphilis bis dahin totgeschwiegen, so schien es jetzt, als ob man sie eher durch »Besprechung« bannen wollte. Hatte man früher heimlich gesündigt, so wollte man jetzt im vollen Lichte der Öffentlichkeit enthaltsam sein. Die neue Methode, die zur Ausrottung des Übels führen sollte, war die ungleich radikalere. Denn wenn es beim Dach hereinregnet, so wird diesem Mißstand durch eine Demolierung des Hauses eher ein Ende bereitet, als durch die Vertuschung des Naßwerdens. Wenn man aber vorsichtshalber auch die Bewohner des Hauses aussterben läßt, so ist die Behebung der Fatalität mit ziemlicher Sicherheit gewährleistet. Der Vorsatz nun, der Lustseuche nicht etwa durch eine Bekämpfung der Seuche, sondern durch Schutzmaßregeln gegen die Lust den Garaus zu machen, hätte mich keineswegs abgeschreckt, an der Enquete teilzunehmen, deren Plan mir im Gegenteil schon deshalb sympathisch war, weil ein Aussterben der Menschheit notwendigerweise auch ein Aussterben der Dummheit nach sich zöge, und in weiterer Folge dann auch jede Enquete zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Keime erstickt würde. Aber leider konnte ich mit der Art, wie die Ö. G. Z. B. D. G. ihre Absichten propagierte, ganz und gar nicht einverstanden sein.

Nach der taktvollen Einführung auf den Kuverts der Ladungen hätte man erwarten können, daß die Vereinsleitung sich mit der Empfehlung der Enthaltsamkeit begnügen und den ohnedies hinreichend verbreiteten geheimen Krankheiten nicht auch noch in einer das Schamgefühl des Zeitungslesers gröblich verletzenden Weise Reklame machen würde. Man kann es ohnehin nicht billigen, daß Spezialärzte von journalistischem Ehrgeiz befallen werden und gegen die Lues auch jene Schmierkur anwenden, die an und für sich schon mit der ärztlichen Schweigepflicht kollidiert. Wohl fand ich in einem Artikel, den der Einberufer der Enquete als ein Mahnwort an die Menschheit veröffentlichte, die Namen der Infektionen, vor denen gewarnt wird, diskret verschwiegen und diese bloß als »eine bestimmte Gruppe von Krankheiten« definiert. Aber dafür beklagte sich der Verfasser über die Heuchelei der Gesellschaft, die sie aus lächerlichen Schicklichkeitsrücksichten nicht einmal mit ihrem wahren Namen zu nennen wage. Nun, die Heuchelei ist gewiß eine noch gefährlichere ansteckende Krankheit, der auch die Ärzte nicht entgehen, und der Verfasser scheute sich trotzdem nicht, sie zu nennen. Wir erfuhren nur noch, daß Gelenksentzündung, Bauchfellentzündung und Wochenbettfieber die Folgen einer anderen Krankheit sind, aber diese selbst mußte sich damit begnügen, als »eine der uns hier interessierenden Krankheiten« bezeichnet zu werden. Leider bewahrte nun der Verfasser seine wohltuende Zurückhaltung nicht auch gegenüber der zweiten uns hier interessierenden Krankheit. Da er es nämlich für notwendig hält, daß wir den Standpunkt der Prüderie in diesen Dingen aufgeben, so ließ er sich dazu hinreißen, glücklicherweise erst ganz zum Schluß des Artikels, uns das Wort »Syphilis« zu verraten. Aber diese Indiskretion verletzte mich derart, daß ich es nicht über mich bringen konnte, der Ö. G. Z. B. D. G. meine Expertise zur Verfügung zu stellen. Und der Verlauf der Enquete war nur zu sehr geeignet, mich in meinem Mißtrauen zu bestärken. Ein Hofschauspieler hatte zwar die ausdrückliche Versicherung gegeben, daß er gegen das Decolleté einer Kollegin Gott sei Dank gefeit sei, daß ihm also die Schönheit nichts anhaben könne, selbst wenn sie nichts anhabe; ich freute mich, daß die Propaganda der Unterlassung wenigstens in Theaterkreisen auf einiges Verständnis stoße, und ich schöpfte die Hoffnung, daß am Ende vielleicht auch die Geistlichkeit sich für die Abstinenz gewinnen ließe, wenn etwa ein Komödiant sich entschließen sollte, einen Pfarrer zu lehren. Aber sonst boten die Sitzungen wenig Erfreuliches, und zeitweise wurde man sogar über den Sinn der geheimnisvollen Initialen wieder in die Irre geführt. Denn manchmal klangs wie Öliges Geschwätz zur Beruhigung des Gewissens. Oder mit der Enthaltsamkeit schien einem das Mittel der Schadloshaltung sozusagen an die Hand gegeben, der Finger an der Wand schrieb seine eigene Schand, und das traurige Zeichen, in dem die Ö. G. Z. B. D. G. zu siegen schien, hielt einem die pädagogische Mahnung gegenwärtig: Öde Gewohnheiten zerstören bald die Gesundheit … Dann aber kam das Thema jener Liebe an die Reihe, bei der nach der landläufigen Ansicht der eine Teil immer der Not gehorcht und nur der andere dem eignen Trieb, nämlich die Prostitution. Hier glaubte man jeden Augenblick, der bekannte Blitzmajor werde als deus ex machina erscheinen, der auf deutschen Sittlichkeitskongressen zum Zwecke der Ausrottung der Prostitution eine schlechtere Bezahlung der Prostituierten zu verlangen pflegt, eine Reform, durch die zwar die Not vergrößert würde, aber wenigstens der eigene Trieb befriedigt werden könnte. Zum Thema der »Sexuellen Aufklärung« hätte ich selbst sprechen sollen. Ich zog es vor, dem Vereinsvorstand abzusagen, und zwar schon deshalb, weil ich fürchten mußte, gerade durch die Besprechung dieser Frage Anstoß zu erregen. Nichts liege mir ferner, schrieb ich, als deren vitale Bedeutung zu unterschätzen. Ich sei ein Freund der Aufklärung; aber was mir darüber zu sagen notwendig scheine, hätte ich oft genug schon gesagt, und ich könnte nur wiederholen, für wie dringend geboten ich es halte, daß die Kinder endlich die Eltern in die Geheimnisse des Geschlechtslebens einführen. Denn dunkel und verschlungen sind die Pfade, auf die es führt, und wie oft strauchelt ein Erwachsener!

Ich zweifelte allerdings, ob mein Schreiben in der Enquete zur Verlesung gelangen werde. Mit Unrecht würde man es für den Ausdruck einer zynischen Lebensanschauung nehmen. Denn ich weiß, daß die Zukunft mir Recht geben wird. Vorausgesetzt natürlich, daß die Menschheit, soweit sie sich der Propaganda der Keuschheit anschließt, eine Zukunft hat. Aber auch jetzt schon kann man an täglichen Beispielen sehen, wohin die Unerfahrenheit der Erwachsenen führt. Hätten die Mitglieder der Enquete sich rechtzeitig von ihren Kindern darüber aufklären lassen, wie rege der Geschlechtstrieb im Menschen ist, sie wären nie auf die Idee verfallen, eine Enquete einzuberufen. Denn die Enthaltsamkeit ist zwar nach Busch das Vergnügen an Dingen, welche wir nicht kriegen, aber Max und Moritz wissen sich zu helfen, und man glaubt gar nicht, wie vergnügungssüchtig die Welt im allgemeinen ist. Sie kriegt lieber Geschlechtskrankheiten, als daß sie auf deren Ursache verzichtet, denn sie ist von ihnen noch immer leichter zu kurieren, als von der Geneigtheit, sie sich unabsichtlich zuzuziehen. Daß die Gehirnerweichung mit der Syphilis zusammenhängt, erfährt sie ohnedies aus den Sitzungsberichten jener Enqueten, in denen ihr zum Schutz gegen die Gefahr die Vermeidung des Genusses empfohlen wird. Sie läßt sich von Sittlichkeitskongressen ebensowenig bange machen, wie von medizinischen Versammlungen, die sich als Sittlichkeitskongresse entpuppen. Die Welt liest Ö. G. Z. B. D. G. und hofft, es werde ihr endlich die Örtliche Gelegenheit zur Betätigung des Geschlechtstriebes verraten werden. Denn diese ist es, die ihr immer durch einen Paragraphenzaun oder durch die Dornenhecke der Moral unzugänglich gemacht wurde. Müßte sie jetzt auch noch aus Furcht vor venerischen Krankheiten auf den Anblick der Venus verzichten – sie würde trübsinnig. Wir wollen aber nicht, daß die Trauer der Wollust vorangeht und diese ihr dann nicht folgt. Wir riskieren lieber die Liebe, als die Niete der Verzweiflung zu gewinnen. Schlimmeres kann uns nicht geschehen, als daß sich die Beschäftigung mit der Lues einigen strebsamen Professoren aufs Gehirn schlägt, so daß deren Beförderung zu Hofräten nichts mehr im Wege steht; und wir gehorchen dem Naturwillen, wenn es auch vorläufig immer noch mehr Titel für die Bekämpfer der Geschlechtskrankheiten gibt, als Mittel zu deren Bekämpfung. Die Spezialisten werden uns vielleicht einmal in der Ordinationsstunde wertvolle Dienste leisten. Wenn sie uns aber in einer Enquete Enthaltsamkeit verordnen, so ist im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der nicht bereut, als über hundert Gerechte, die Karriere machen.


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