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April 1908
Wenn Deutschlands Genius ein Cäsar ist, dessen großes Herz brach und dessen Leichnam noch von den Wunden blutet, die die Verräterwaffe ihm geschlagen hat, so ist Einer da, der auf offenem Forum sich mit dem löcherigen Mantel einer toten Pracht drapiert. Einer, der mit kaltem Pathos, aufgewärmten Reminiszenzen und einer Gebärde der Innerlichkeit, die Steine verhärten und Gehirne erweichen könnte, immerzu »ausspricht, was ist«. Einer, der beinah das Vaterland gerettet hätte, dessen politisches Programm jedoch lautet: »Nun wirk' es fort – Unheil, du bist im Zuge, nimm welchen Lauf du willst«. Einer, der sich als Vollstrecker eines großen Testaments aufspielt, die Verschwornen ein Grüppchen nennt und gegen Brutus und Cassius bloß beweisen kann, daß sie ehrenwerte Männer sind. Aber keinen Augenblick lang wäre das Volk von Rom im Banne eines Mark Anton gestanden, der den Vorwurf politischer Zweideutigkeit durch die Behauptung hätte stützen wollen, daß sie alle, alle normwidrig sind, und daß zumal Portias Bettgenoß in schwierigen Lagen seinen Mann nicht gestellt hat. Er hätte sich mit diesem Versuch in den Augen des letzten Plebejers gerichtet, er hätte den ganzen Kredit eingebüßt, den ihm die Erinnerung verschaffen mochte, daß Cäsar ihm am Lupercusfeste dreimal ein Vanilleneis angeboten hat. Und im günstigsten Fall konnte er sich dann nur durch eine undeutliche Ausdrucksweise den Folgen seines Wagnisses entziehen. Wenn er etwa begonnen hätte:
Mitbürger! Freunde! Nachfahren der im Tiberbezirk von der Wölfin Gesäugten! hört mich an: Cäsarn in die Grube zu senken, nicht mit blinkender Rede ihm seines Wirkens bleibende Spur zu zeichnen, bin ich vor euch, die der Volkheit Wollen eint, getreten. Was Menschen Übles tun, trägt ins Gedenken noch die Viruskraft, wenn mit dem längst verdorrten Leib frommen Handelns Erinnerung die Scholle fühllos deckt. (Fühllos? Die im Frühlenz erneute läßt menschlicher Kurzsicht den mit leiser Tröstung sänftigenden Kinderglauben der Wiederkehr.) So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus hat euch, da er mit flinkem Finger den Schwichtigunggrund erraffte, gesagt, daß Herrschsucht ihm, der gleißende Wurm, am Ziel noch ungesättigt aus dem Auge sah. Wenn dies erweislich wahr ist, kein Rügewort könnte den sichtbaren Fehl so schmerzend treffen, wie ers trotz einem Tag vor Tag an die res publica gebundenen Daseinsinhalt verdiente. Und das grause Ende, das diesem Leben ein Grüppchen der vom Volk Abgeordneten bereitet hat, würde auch den im politischen Handlungdrang noch nicht völlig gewirrten Sinn ein von Dike selbst befohlnes Werk dünken. Hier, mit des Cajus Titus Ämilius Marcus Brutus Willen und der Andern (denn Brutus ist, soweit das Urteil der im Geltungbereich der Sitte Wohnenden zum Ansehn hilft, ein der Ehren, die in der Siebenhügelstadt auch geringern Könnern heut die Stirn beglänzen, werter Mann; und neben ihm, mit ihm, sind alle, die gleiches Hoffen bindet, gleicher Erfüllung wert) – –
Zwischenrufe: »Das Testament! Das Testament!« wären schon an dieser Stelle laut geworden. In dem losbrechenden Lärm versucht Redner vergebens sich unverständlich zu machen. Man merkt nur, wie er sich um die kürzeste Bezeichnung der Stadt Rom herumdrückt, und hört eine Geschichte von der dem Hirtengott bereiteten Wolfsfeier, worunter das schon bekannte Lupercusfest verstanden sein will. Endlich verschafft er sich Ruhe, nennt Cassius einen stillen Mächler und behauptet, daß das Plänchen zur Beseitigung Cäsars von Männern geschmiedet sei, die diesen Namen nicht verdienten, weil ihnen ein kränkliches Wesen eigne, und die politisch gefährlich seien, weil sie, denen der Willenskanal doch nicht völlig verstopft sei, auf ihren warmen Plätzchen flink ein Weltrühmchen haschen möchten. Da diese Anspielungen niemand versteht, halten alle den Redner für den Retter des Vaterlands und ahnen nicht, daß eine enttäuschte Frau hinter ihm steht, eine von jenen, die in der Politik schon einmal ohne Dank sich betätigt haben, als sie nämlich das Kapitol retteten. Darum entschließt sich Mark Anton zu einer deutlicheren Sprache. Von einem der römischen Feldherren wird offiziell zugegeben, er habe seinen Burschen Lucius »unzüchtig berührt«. Solch beschönigender Darstellung gegenüber hält er es für seine Pflicht, nicht nur anzudeuten, sondern auszusprechen, was ist, und nachdem er in Parenthese bemerkt hat: »Nur berührt? Er hat ihn geküßt und versucht, ihm den Chiton herunterzureißen«, bekennt er sich zu einer Tat, auf die ein Repräsentant der Kultur seines Volkes wahrhaft stolz sein kann: »Mein Handeln hat das Verfahren gegen die Mißbraucher der Dienstgewalt, die Verführer junger Soldaten, erwirkt. Durch Zeugen, die ich dem Gericht, als es mich vorlud, genannt habe, ist die Überführung gelungen. Von Dankbarkeit habe ich nichts gespürt.« Und leicht sei es ihm wahrlich nicht geworden. Der Gedanke an das Schicksal dieser Männer ließ ihn »manche Nacht im Fieber durchbeben; der grause, nie völlig wieder aus dem Hirn zu tilgende Gedanke, Menschenglück getötet, Kindern das Bild des Vaters verleidet zu haben. Doch mußte es sein. Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat!« … Das Volk von Rom merkt endlich, daß man es hier mit einem Willensmenschen von säkularer Größe zu tun habe, der aus eigenem Antrieb die ganze Arbeit zu leisten imstande ist, für die ein Dutzend Detektivs bezahlt werden müssen. Er kann sich gar nicht genug tun in der Anerkennung seines Verdienstes, in zwei flagranten Fällen ein Vergehen gegen das Strafgesetz nachgewiesen zu haben, nachdem in so vielen anderen Fällen bloß ein schäbiges normwidriges Empfinden und kein ausgewachsenes normwidriges Handeln an den Tag gekommen war. »Daß Zwei, die allzulange auf fast unnahbar hoher Stelle gestanden hatten, vernichtet werden konnten und allen Soldaten von berufenen Warnern jetzt die Lebensgefahr der Männerlockung, Männerpaarung gezeigt wird, habe ich bewirkt!« – –
Fünfzehn Jahrhunderte später rief Hutten: »Ich habs gewagt!«. Aber durch die Zeitalter schwoll das Pathos der sittlichen Überzeugung dermaßen an, daß es sich schließlich bei einem Berliner Publizisten, der sich sonst nur auf den alten Bismarck zu berufen pflegte, in dem Ausruf Luft machte: »Schon der alte Gehlsen hat gesagt, der Graf L. habe widernatürliche Unzucht mit Männern getrieben.« Deutschland stand damals auf der Höhe der kulturellen Entwicklung. Die christliche Moral hatte seit der Pilatusfrage nach der Wahrheit ungeheure Fortschritte gemacht und war endlich bei der Suche nach dem erweislich Wahren im Geschlechtsleben des Nebenmenschen angelangt. Es war der Weg, an dessen Anfang die Worte standen: »Es ist vollbracht!« und an dessen Ziel die Worte: »Es ist erreicht!«