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November 1909

Schrecken der Unsterblichkeit.

Denn er war unser. Nämlich der Herren Minor, Kalbeck, Bettelheim, Blumenthal, Holzbock, Lothar usw. Sie werden hervorkriechen, ich ahnte es, sie werden hervorkriechen. Wenn ein Denkmal renoviert wird, kommen unfehlbar die Mauerasseln und die Tausendfüßer ans Licht und sagen: Denn er war unser! Das sind die Leichenwürmer der Unsterblichkeit. Was aber Schillers Andenken zu Recht verkleinert, ist die Möglichkeit solcher Patronanz. Sein Stoffliches war so sehr das Stoffliche aller Welt, daß sich die schwärmerische Impotenz ihm blutsverwandt glaubt, daß sich die Lebensblindheit, die den Blick »gen Himmel« richtet, die Taubheit, die auf Sphärenmusik eingestellt ist, und alles Nichts, das sich durch ein ideales Streben präsentabel macht, an seinem Ehrentag geschmeichelt fühlt. Was immer in Deutschland in seines Nichts durchbohrendem Gefühle krepieren müßte, wenn ein Dichter gefeiert wird, lebt auf, wenn dieser Dichter gefeiert wird. So daß es ungeheuer schwer hält, durch die Schatzkammern der Banalität, die diesem Dichter vor allem andern den Zuspruch der Nachwelt verschafft haben, zu seinem wahren Lebensgehalt vorzudringen. Denn hinter ihm, vor ihm, neben ihm liegt, was uns alle bändigt, das Gemeine. Ja, einen Aufwand übermenschlicher Gerechtigkeit verlangt die Pflicht, dahinter zu kommen, daß Schiller besser war als sein Ruf. Wo sind die Nerven, die, stündlich von den Schmarotzern des Wahren, Guten und Schönen beleidigt, sich zur Ruhe solcher Untersuchung bequemten? Im Kampf gegen sein Gefolge, und möge dabei auch Schiller selbst verletzt werden, wirkt man für sein Andenken am besten. Sein Unsterbliches wird erst erstehen, wenn jene fatale Unsterblichkeit erledigt ist, die ihm eine glückliche Mischung von Minderwertigkeiten erringen half. Ehe wir von dem Künstler reden wollen, muß unbedingt auch nur die entfernteste Möglichkeit beseitigt sein, daß um eine Schillerbüste ein Männergesangsverein Aufstellung nimmt. Daß mir sein zweihundertster Geburtstag vor solchen Zwischenfällen bewahrt bleibe! Und daß bis dahin überhaupt alle kompromittierenden Beziehungen zwischen einem Genius und den gestärkten Vorhemden aufgehört haben – das walte Gott!

Bis zu diesem Termin werden die Leute, die sich heute noch als Kostgänger des Schillerschen Ruhmes lästig machen, ja reichlich Gelegenheit haben, selbst die Unsterblichkeit zu erwerben. Besser, es gelingt ihnen durch die Kraft ihrer Reklame und durch die Ausdauer, mit der sie hinter Särgen gelaufen sind, als daß der Typus noch weiter das Gesichtsfeld der Mitlebenden verunziere oder gar bei späteren Dichterehrungen anwesend sei. Denn es ist dringend zu wünschen, daß die Leute, die, sobald von Kunst die Rede ist, die Schönheit zu reklamieren beginnen, die mit den Idealen auf dem besten Fuß stehen und bei der Anrufung Schillers das Himmelsgewölbe eindrücken, endlich zur Ruhe kommen. Was will das Pack? Wenn Schiller bloß die Verse gedichtet hätte: »Und wirft ihn unter den Hufschlag seiner Pferde – Das ist das Los des Schönen auf der Erde!«, so wäre ja die Aufregung noch begreiflich. Aber so? Warum rückt denn diese ganze freiwillige Feuerwehr aus, wenn Schiller Geburtstag hat? Warum begeht man dieses schreiende Unrecht an Wildenbruch, der doch all das in noch viel handlicherer Form bietet, was ein deutsches Herz zu Schiller zieht, und der doch auch in der Fürstengruft begraben liegt? Was bestimmt die Turnervereine, uns den Ausblick auf Schiller zu verstellen? Muß denn ein Dichter erst hundertfünfzig Jahre alt sein, um der allgemeinen Anerkennung jener teilhaftig zu werden, die bloß der Gedanke berauscht, daß es so etwas gibt, wie das Teilhaftigwerden der allgemeinen Anerkennung? Lebt nicht ein Lauff? Steht er nicht auch schon mit einem Fuß in der Fürstengruft? Und wäre dieser armselige Reichtum an Idealen nicht schließlich sogar durch Herrn Paul Wilhelm der Jugend zu bieten, wenn sich ein Kultusministerium entschlösse, einen neuen Gymnasialklassiker zu kreieren? Diese Jugend, die mit ein bißchen Schall fürs Leben versorgt ist, wird ja erst bei einer Revision ihrer Begeisterungen lebensüberdrüssig.

Da muß man aber doch sagen, daß der einzige ehrliche Kulturfaktor im deutschen Sprachbereich der Burgtheaterdirektor Hofrat Schlenther ist. In stürmischer Zeit, da ihn die Demissionsgerüchte nur so umschwirren, wohnt er am Schillertag, unter der Devise: Die Lebenden fordern ihre Rechte, der Berliner Premiere eines Werkes von Kadelburg bei. Für die Wochentage muß auch gesorgt sein. Dagegen wohnten der Schillerfeier im Königlichen Schauspielhause, wie der Beiwohner Holzbock meldet, einige »Kollegen des großen Dramatikers Schiller« bei, nämlich die Herren Lindau, Blumenthal, Philippi, Lubliner, Zobeltitz, Bernstein usw. Nichts stelle ich mir aufreibender vor als die Repräsentationspflichten, die so eine Berliner Saison an die deutschen Dichter stellt. Eine Zeitungsnotiz vom selben Tage und im Stil der Berichte über die Schillerfeier spricht wieder von dem »Ereignis im Berliner Gesellschaftsleben«, welches das Diner bedeutet habe, »mit dem der Kommerzienrat Jacob seine Wiedergenesung von schwerer Krankheit feierte. Die Literatur war vertreten durch Lindau, Blumenthal, Fulda, Zobeltitz«. Ach, eine einfache Verhebung, wie sie im Zeitungsbetrieb so häufig vorkommt, hat die Verwechslung verschuldet. Natürlich sollten die Herren Lindau, Blumenthal, Fulda, Zobeltitz bei der Schillerfeier als schlichte Vertreter der Literatur erscheinen und bei der Jacobfeier als die Kollegen des großen Kommerzienrats. So weit sind eben die Welten, in denen unsere Zeitgenossen leben, ihr Schiller und der Kommerz, nicht voneinander entfernt, daß der Irrtum nicht begreiflich wäre. Finden wir sie doch geradezu vereint in der Tätigkeit eines Herrn Holländer, der als Dramaturg des Herrn Reinhardt nicht nur mit den großen Dramatikern, sondern auch mit den großen Kommerzienräten Fühlung hat und schon deshalb berufen war, den Kunden des Passage-Kaufhauses mit einem Vortrag über Schiller aufzuwarten. Die entscheidende Anregung zu diesem Entschlusse mag freilich das Gerücht gegeben haben, daß Schiller sich irgendwo selbst als Kollegen des großen Kommerzienrats bekannt habe, nämlich in dem Ausspruch: Euch, ihr Götter, gehört der Kofmich.

»Wie sagt doch Schiller …« Alle jene, die so anfangen, wenn sie zur Quelle ihre Banalität führen wollen, müssen erst vom Schauplatz des deutschen Geisteslebens weggeputzt werden, ehe wir uns überhaupt wieder in ein Verhältnis zu Schiller setzen lassen. Was sie an ihm anbetungswürdig finden, sind Ideen, die als Phrasen gestorben sind, wenn sie nicht als Phrasen geboren wurden. Wenn seines Geistes Blut in ihnen lebte, so gerann es und taugte nicht zum Lebenssaft nachkommender Geister. Von einer Gebärde der Verzückung, die wir als Erbe bewahren, würde unsere Kultur auf die Dauer nicht leben können. Was die Schillerfeierer der Jugend einimpfen wollen, kann in Wahrheit nicht das sein, was wir ihm zu danken haben. Schlimm stünde es um Deutschland, wenn wir mit diesem Schutt einer zu den Sternen emporgereckten Voraussetzungslosigkeit, wenn wir in den baufälligen Wolkenkratzern der Empfindung durch die Jahrhunderte wirtschaften sollten. Ist Schiller nur erst als Ofenschmuck des deutschen Heims entfernt, so kann er noch als Revolutionär in das deutsche Heim zurückkehren und die züchtige Hausfrau, die drinnen waltet, zum Erröten bringen, ja selbst Laura am Klavier an die Tage erinnern, da er noch die Brüste des Weibes »Halbkugeln einer bessern Welt« genannt hat. Damals nämlich, als noch in keinem Haushalt der Zitrone saftiger Kern zu populär-philosophischen Vergleichen gepreßt wurde, da noch nicht des Zuckers lindernder Saft die herbe Kraft des Dichters zähmte, noch nicht des Wassers sprudelnder Schwall seinem Temperament sich vermischt hatte, und überhaupt der Punsch des Lebens ganz anders zubereitet wurde. O, damals lohte noch ein Moralhohn und tobte so laut, daß er heute selbst die Feiertagsglocke übertönen möchte, daß er die ministeriellen Redner verstummen, die Säkularfresser sich erbrechen ließe und alle jene sich bekreuzigen, die im überkommenen Glauben ihr »Denn er war unser« beten. Was heute in Deutschland an Schiller glaubt, an ihn »voll und ganz« glaubt, sind die Leeren und Halben. Die den Gipfel der Poesie darin erblicken, daß sich alles reimt, und vor allem Leben auf Streben. Denen der Fortschritt eine Wandeldekoration ist, vor der sie staunend stehen bleiben. Alle Maulaffen der Zivilisation und alle Dunkelmänner der Freiheit. Alles Ungeziefer des Ruhms: Germanist, Schöngeist und Reporter; Totengräber, Tausendfüßer und Holzbock. Alle, die sich ihrer Persönlichkeit erst bewußt werden, wenn sie die Menschheit ans Herz drücken, und vor dem Sturz ins Chaos sich bewahren, indem sie einen Verein gründen. Pastoren, Demokraten, Schlaraffen, Mitglieder des Vereins »Flamme«, Mitglieder des Vereins »Glocke«, überhaupt Mitglieder. Obmänner, nicht Männer. Alle, die da sagen, daß für das Volk das Beste gerade gut genug sei, und alle, die da sagen, daß uns die Kunst erheben soll, und überhaupt alle, die da sagen, was alle sagen. Sie sind es, die nur eine Frage frei haben an das Schicksal: Wie sagt doch Schiller? Hätte er sie geahnt, hätte er sie heraufkommen sehen, wie sie die Kultur umwimmeln, wie sie mit ihren Plattköpfen an seinen Himmel stoßen und mit ihren Plattfüßen seine Erde zerstampfen, so daß kein Entrinnen ist vor der Allgewalt ihrer Liebe – er hätte sich die Unsterblichkeit genommen!


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