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Es sind wieder, wie immer auf Pfingsten, viele Göttinger Studenten zu Kassel. Die Göttinger Studenten sollten, wenn sie die Philister bekehren wollen, bessere Sujets von Aposteln hierher schicken, als sie zu tun pflegen. Denn die Apostel sprachen am Pfingsttage mit feurigen Zungen, dagegen die Studiosen, die hier sind, mit lahmen. Aber ist es ihnen zu verdenken, den fleißigen, wenn sie, um nicht vom Sitzen in der Studierstube steif zu werden, nach Kassel fahren, um sich hier in den Wein- und Bierhäusern im Stehen zu üben? Sie müssend horrend gesessen haben! Pfui! wenn sich die akademische Freiheit im Graben wälzt und den Straßenjungen einer Residenz zum Hohne wird! –
Ich habe in Marburg und in Göttingen studiert. Beide Orte unterscheiden sich sehr. In Göttingen ist's kalt, fein und stolz. Überall riecht's nach Professoren und Heineschen Personalwitzen. In Marburg ist's warm, grob und zutraulich. In Göttingen gedeihen Kamele, Heidekraut, Professorentöchter und Würste; in Marburg frohe Bursche, Maiblumen, liebe Mädchen und irdene Waren. Ein Ball in Göttingen ist ein Handschuh, den die Damenwelt in den Zirkus der gräßlichsten Langeweile wirft, und den die Männerwelt mit Schaudern zurückholt. Ein Ball in Marburg ist eine lachende Rose, welche die Studenten den Marburger Mädchen schenken. Göttingen hat eine Universität, Marburg ist eine, indem hier alles, vom Prorektor bis zum Stiefelwichser, zur Universität gehört. In Göttingen geht das Laster in Glaceehandschuhen und Vatermördern einher und wird Herr Baron genannt; in Marburg geht es verachtet über die Gassen. Durch die Marburger engen Straßen weht der fromme Geist Philipps des Großmütigen, und die alten hohen Häuser machen ehrwürdige säkularische Gesichter, – oder durch Göttingen weht englische Seeluft und hannöverscher Noblessenwind.
Und doch habe ich in Göttingen die gemütlichsten Stunden verlebt. Es war abends spät, als ich zu Fuße dort ankam und mein Zimmer in der Allee im Hause des Schneiders Grundewald (der Leser besinnt sich auf diesen Namen vergebens) zwei Treppen hoch bezog. In der Stube sahen mich die toten Wände verwundert an. Niemand war mir nahe und vertraut, als mein Ränzchen, das ich auf die Erde gelegt hatte. Werde ich (so fragte ich die fremden Wände) zwischen euch lachen oder weinen, fröhlich sein oder traurig? – Sie waren stumm wie die Zukunft, und das dumme Einerlei des Tapetendessins lachte mich unausstehlich an. Ich ging ans Fenster. Namen früherer Bewohner, gekreuzte Schläger, Eselsköpfe, Mädchennamen, z. B. Vivat Louise! u. s. w. waren in Glas geschnitten. Diese Zeichen erschienen nur wie Menschenspuren in der Wüste. Ich legte mich ins Fenster. Der Sturm hetzte die Wolken über den Mond. Da plötzlich hört' ich zum ersten Male jene wunderbaren Töne, mit denen die Hornisten des Göttinger Militärs den Zapfenstreich bliesen. Es waren lang gehaltene, in Kuhreigenmanier auf- und niederschwebende Töne mit einem vollstimmigen Schlußchore. Der Sturm wehte die rufenden Töne der Sehnsucht weit hin durch die herbstliche Gegend, und die Wolken jagten wie wahnsinnig hinter ihnen her. Aber die Töne und die Wolken fanden so wenig, wie mein Herz, dasjenige, was sie suchten. Ich sehnte mich nach Menschen, nach einer drückenden Freundeshand. An solchen Abenden legt sich der Mensch recht fromm zu Bette. Ich tat es. Im Begriffe einzuschlafen, umsäuselten mich Gitarrentöne, die aus der Stube über mir herab kamen. Eine schöne Baßstimme sang dazu. Beständig jedoch schnarrte eine der Gitarrensaiten auf eine unangenehme Weise. Die Worte des Gesanges, der langsam und feierlich gehalten wurde, lauteten:
Ich hatt' einmal ein Lied,
Das sang ich spät und früh,
Es war ein schönes Lied,
Nach schöner Melodie.
Es klang so stolz und hehr,
Wie himmlisches Gedicht –
Ich sing das Lied nicht mehr –
Vergessen hab' ich's nicht. –
Die Baßstimme zog das letzte Wort in der ersten und dritten Zeile jeder Strophe recht lang und betont' es bitter, als ärgerte sie sich, daß kein weiblicher Reim an der Stelle war. Das Lied klang wie ein Leben ohne Liebe.