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Der Herr Amtmann geht, den berühmten Luftschiffer auffliegen zu sehn, und trifft bey seiner Zurückkunft den jungen Herrn in einem kläglichen Zustande an.
Ein größeres Gewühl von Menschenkindern, versicherte der Herr Amtmann auf seine Ehre und Reputation, habe er in seinem Leben noch nirgends gesehn, als das hier, durch welches er sich mit seinen Freunden hindurchdrängen mußte, um vor das Thor auf den Platz zu kommen, der einer Schanze gegenüber lag, aus welcher Herr Blanchard in die Höhe stieg. Wir sind bey manchen andern Kenntnissen, die wir besitzen, und die, ohne uns zu rühmen, ein artiges ensemble ausmachen, beym ersten Unterrichte in der Fortification, wie im Hebräischen, sehr vernachlässigt worden, – lieber Gott! man kann ja auch nicht alles wissen – meinen aber, wollen es jedoch nicht gewiß behaupten, daß dieser Platz zu demjenigen Theile der Festungswerke gehörte, den man die Contre-Escarpe nennt. Genug, es war ein großer grüner Platz am Stadtgraben. – Doch, so weit sind wir noch nicht. Beym Gedränge im Thore verlohr die Frau Licentiatinn Bocksleder ihre Haube; ein Pfund Pferdehaare, in einen Wulst gebunden, womit der Boden der Mütze, faute de mieux, ausgefüllt war, fiel auf die Erde; der Herr Amtmann, welcher die Dame führte, wollte das Bündel aufheben, ein Schuhknecht trat ihm auf die Hand. Dem kleinen David Bocksleder, einem Kinde von zehn Jahren, das eben erst die Blattern überstanden und noch viel rothe Flecke im Gesichte hatte, riß ein Chor-Schüler aus Muthwillen den falschen Haarzopf aus. Ein lustiger Student aus Helmstädt, der den alten Licentiaten einmal in Schöppenstädt gesehn hatte und dem dieser würdige Mann nicht sehr gefiel, steckte ihm einen Stock zwischen die Beine, worüber er stürzte. Allein durch alle diese kleinen Ungemächlichkeiten des Lebens arbeitete sich dennoch die Gesellschaft hindurch und kam glücklich auf den Platz in der – nun ja! in der Contre-Escarpe an. Die Sonne brannte heiß auf die Schädel; Die wollnen Perücken sitzen wärmer als die von Haaren (das kann man uns auf unser Wort glauben, obgleich wir keine tragen), also litt der alte Herr Bocksleder sehr viel von der Hitze. »Es ist teufelmäßig heiß«, sprach er, »Wenn wir hier lange stehn müssen, so schmelze ich wie Butter zusammen, oder crepire vor Durst.« »Es dauert wenigstens noch eine Stunde«, sagte ein dicker Mann, der mit aufgeknöpfter Weste und einem glänzenden, braunen Gesichte, als wäre es laquirt gewesen, neben ihm stand. »Es dauert wenigstens noch eine Stunde, ehe der Hof von der Tafel aufsteht und herkommt. Dann erst wird mit der Füllung der Anfang gemacht.« »Wenn nur ein Wirthshaus in der Nähe wäre!« seufzte der Licentiat. »Deren giebt es hier genug«, antwortete der dicke Mann. Würklich waren rings umher einzelne Garten- und andre Häuser gelegen, in welchen ächter teutscher Pontac, lübeckscher Franzwein und dergleichen verzapft wurde und unsre Gesellschaft trat in eines von diesen.
Für einen Physiognomiker, für einen Menschen-Beobachter und für einen Maler wäre es ein herrliches Fest gewesen, die Gesellschaft zu sehn, welche hier, theils in den kleinen Zimmern, theils im Vorplatze, im Hofe und im Garten, in einzelne Gruppen vertheilt, ihr Wesen trieb, indeß der grüne Platz, an welchen das Haus stieß und von dem wir geredet haben, einem bunten Gemälde von der Speisung der fünftausend Mann glich, wie man es hie und da in Dorf-Kirchen antrifft. Unsre Gäste aber waren weder Gesichter-Leser, noch Seelen-Späher, noch Künstler; also blieb ihr ganzes Augenmerk auf ein Winkelchen gerichtet, wo sie in Ruhe ihren Durst löschen könnten, und das wies man ihnen in einer Hinterstube unter dem Dache an; denn alle andren Zimmer waren gepropft voll. Indessen fehlte es auch hier nicht an Gesellschaft; Zwey Tische fanden sie umringt von Personen beyderley Geschlechts, an einem dritten war noch Raum für sie; der Student aus Helmstädt, dessen wir vorhin erwähnt haben, ein junger Gelehrter, der mit demselben noch auf der Universität gewesen war, jetzt aber in Gandersheim privatisirte und ein Landchyrurgus aus *** in Sachsen, hatten die eine Seite eingenommen; unsre Leute setzten sich ihnen gegenüber.
Wir fühlen einen unwiederstehlichen Trieb, ein Bruchstück aus dem Gespräche dieser interessanten Gesellschaft hier abdrucken zu lassen, und da wir uns nun einmal in Besitz gesetzt haben, solchen Trieben, unter angehoffter hoher Approbation, zu folgen; so wollen wir mit diesem Dialoge andienen, erlauben übrigens den Rezensenten, sobald wir von unserm Herrn Verleger das Honorarium werden eingestrichen haben, über die Weitschweifigkeit unsrer Erzählung Ach und Weh zu schreyen.
Der junge Gelehrte: »Nun, wahrlich! Es bedarf doch herzlich wenig, um der Menschen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn. Da sind mehr als zehntausend Thoren aus allen Ecken zusammengelaufen, um einen andern Narren einen Bockssprung in die Luft machen zu sehn.«
Der Student: »Aber Herr Bruder! Du hast Dich doch auch eingestellt.«
Gelehrter: »Meinst Du, ich würde deswegen auch nur eine Meile reisen? Originale aller Art zu beobachten, darum bin ich hergekommen. Blanchard habe ich in Frankfurth und in Hamburg aufsteigen gesehn. Vermuthlich wird er sich hier wieder ein Document von fürstlichen und adelichen Personen ausfertigen lassen, daß er so viel tausend Toisen hoch über der Erde geschwebt hat – von Menschen, die, indem sie das schreiben, nicht einmal wissen, was eine Toise ist. Wie sich der Kerl nur einbilden kann, daß er mit einem solchen Zeugnisse bey Gelehrten und Männern von Kenntnissen sich Credit verschaffen werde!«
(Die geneigten Leser werden es nicht ungütig aufnehmen, daß der junge Herr auf die Authorität von Fürsten und Edelleuten in wissenschaftlichen Dingen nicht viel hält. Theils hat er wohl nicht ganz Unrecht, theils ist es jetzt unter den jungen Gelehrten so eingeführt, daß sie alles tadeln, was die höhern Stände sagen und thun, außer wenn sie ihre Schriften loben. Doch geht dieser Widerwillen nicht so weit, daß besagte Gelehrte nicht, wo sichs thun läßt, von Fürsten und Edelleuten Schutz und Wohlthaten vorliebnehmen sollten.)
Gelehrter: »Der Augenschein kann jeden verständigen Menschen überzeugen, daß seine Angaben um mehr als zwey Drittel übertrieben sind. Noch nie hat er sich bis zu der Höhe irgend eines beträchtlichen Berges erhoben. Betrachte man nur die römischen Zahlen auf dem Zifferblatte eines mäßig hohen Thurms! Sie sind mehrentheils über sechs Fuß lang und scheinen, wenn man unten steht, keine Spanne zu messen. Wie fast unsichtbar klein müßte nun nicht ein Ball erscheinen, dessen Durchschnitt ungefehr nur sechsmal größer ist als die Länge jener Zahlen, wenn er würklich zu einer so erstaunlichen Höhe emporstiege! – und nun vollends der kleine, geputzte Franzose mit seinem blauen Wämschen und seinem Federbusche! Wie würde der dem Auge verschwinden!«
Student: »Kann seyn! kann seyn! Wir wollen sehn. Nun, Herr Licentiat! Sie gehen doch diesen Abend in die Comödie?«
Licentiat: »Ich denke wohl –«
Landchirurgus: »Ach! was ist an so einer Comödie? Hören Sie! ich habe in Stuttgard die großen Opern gesehn. Da kamen Pferde und Wagen auf das Theater – Das war noch der Mühe werth.«
Gelehrter: »O ja! so eine italienische Oper ist, wenn man die gesunde Menschen-Vernunft nur zu Hause läßt, gar unterhaltend zu sehn. Wenn da die Capaunen auf Triumphwägen von Papp sitzen, in Reifröcken und seidenen Strümpfen aus der Schlacht kommen, mit ihren Stimmen durch die Nase, im schneidensten Discant Reden voll Heldenmuth an die verkleideten Mousquetiers absingen, welche das römische oder griechische Heer vorstellen; Wenn die Opferpriester in Stiefeletten und Kleb-Locken Processionen anstellen, wobey sie Tritt halten wie auf der Parade, Mützen von Silberpapier auf den Köpfen und mit Goldschaum beschmierte hölzerne Opfer-Gefäße in den Händen tragen; Wenn Schlachten geliefert werden, in welchen jeder nur auf sein eigenes Schild hauet und Mauern niedergerissen, die von Papier gemacht sind; Wenn der Drachen-Wagen, in dem Medea fährt, mit schwarzen Stricken am Himmel festgebunden ist und Apollo, wenn er auf dem bretternen Parnasse sitzt, mit seiner Flachs-Perücke den Staub von den gemalten Wolken abfegt – Ja! es ist wahr; das ist groß, herrlich, rührend. – Pfui! schämen sollten wir uns, daß wir ein ernsthaftes Volk an den Anblick solcher kindischen Vorstellungen gewöhnen!«
Amtmann: »Ey, ey! man kann doch aber nicht auf dem Theater alles so –«
Gelehrter: »Was man nicht mit einiger Täuschung darstellen kann, das muß man lieber gar nicht, als auf so alberne Weise, darstellen. In einem Fingerhute kann man nicht baden und auf unsern armseligen kleinen Theatern kann man keine Schlachten liefern. Sie haben vermuthlich meine neue Abhandlung über die ernsthafte Oper gelesen?«
Amtmann: »Um Vergebung! darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe –«
Gelehrter: »Ich bin der Dichter Klingelzieher; Nun werden Sie schon wissen, wo Sie zu Hause sind. Nicht wahr, das dachten Sie nicht, daß der Mann jetzt an Ihrer Seite säße, der Ihnen vielleicht zuweilen mit seinen Liedern eine genußvolle Stunde gemacht hat? Es weiß auch noch niemand in Braunschweig, daß ich hier bin; ich bin eigentlich gekommen, um einmal mit den hiesigen Gelehrten eine Zusammenkunft zu halten.«
Amtmann: – »Ich bin in der That sehr erfreuet, die Ehre zu haben – obgleich ich gestehn muß, daß ich bis jetzt noch nichts von dem, was aus Dero Feder geflossen –«
Gelehrter: (verächtlich) »Der Herr Amtmann lesen wohl nicht viel?«
Amtmann: »O! zu dienen, ja. Freylich im Fache der Belletters, da ist es nun so etwas. Köhlers Gedichte habe ich indessen noch kürzlich wieder gelesen und neulich fiel mir auch ein kleiner Tractat in die Hände, betitelt: Die Leiden des jungen Herrn Werther.«
Licentiat: »Bruder Amtmann! die Scharteke kenne ich; das ist nichts für uns. Aber apropos! Ich muß Dir doch meines ältesten Sohns dissertationem inauguralem, de feudis oblatis schicken. Sie ist sehr gründlich abgefaßt. Er hat darinn hauptsächlich –«
Student: – »o weh!«
Landchirurgus: »Es ist in der That erstaunlich, was für eine Menge von neuen Entdeckungen jetzt in allen Theilen der Wissenschaften gemacht werden, besonders aber in der Natur-Geschichte, Chemie, Wundarzneykunst und überhaupt im medicinischen Fache. So hat man zum Beyspiel jetzt gefunden, daß zwar die gewöhnliche China-Rinde in periodischen Gesichtsschmerzen, Durchfällen, Fiebern, Brand, Lungensucht und so ferner, herrliche Dienste leistet, daß aber die rothe Rinde der röhrichten weit vorzuziehn ist und noch überdies sichrer und ohne Leibschmerzen würkt. Die Hirnwuth hielt man für unheilbar; Ich selbst habe an einem gewissen unglücklichen Professor Hoffmann in Wien vergebens alle Mittel angewendet; es schlug nichts bey ihm an. Nur kürzlich erst hat man –«
So weit war der Landchirurgus in seiner medicinischen Abhandlung gekommen, als plötzlich von allen Seiten her ein Geschrey erscholl: »Se heft en wedder! – Sie haben ihn wieder! Sie haben ihn wieder!« Die ganze Gesellschaft stürzte nun aus dem Hinterzimmer heraus – »Wen haben sie wieder«, fragte jeder, »Wen?« – »I! den Musche Blanchard; Se heft en wedder.«
O! daß ich berufen bin, in diesem Büchlein, das nur guten Humor erwecken und die Gemüther der Leser erheitern sollte, hier das Bild getäuschter Hofnungen aufzustellen! Aber das Schicksal, das sich gegen die Helden meiner Geschichte verschworen zu haben scheint, – (Im Vorbeygehen zu sagen! dies Werk hat das ganz Eigne, daß nicht etwa nur eine einzelne Person der Gegenstand ist, auf den sich das Interesse zusammendrängt, sondern daß die Schicksale der ganzen Gesellschaft aus Biesterberg, wie wir sie im ersten Capitel auftreten ließen, das Thema sind, welches wir in demselben durchführen. – Ein Plan, dessen, wie wir hoffen, auch diejenigen Kunstrichter, welchen wir die Rezension nicht selbst einschicken, mit gebührendem Lobe gedenken werden) – das Schicksal will es also und ich muß meinen Beruf erfüllen.
So manche Meile war der Amtmann mit seinen Gefährten gereist, um den berühmten Blanchard aufsteigen zu sehen; So manche Wiederwärtigkeit hatte er von dem Augenblick an, da er auf dem Amtshofe einstieg, bis zu dem Momente, wo er nun die Nachricht erwartete, daß der Luftball gefüllt wäre, überwunden; Seinen hofnungsvollen Erben glaubte er der besten Aufsicht übergeben zu haben, glaubte, er stünde jetzt mit ofnem Munde unter dem Haufen der Gaffenden; und ach! er saß in diesem Augenblick – eingekerkert – und wo? Das ahndete sein treues Vaterherz nicht. Noch ruhiger war er über sein eignes Schicksal. Voll Erwartung stürzte er zum Hause hinaus und hoffte nun den Luftwagen über seinen Scheitel daherfahren zu sehn, und – Herr Blanchard war schon vor einer Stunde aufgestiegen; Sie hatten ihn wieder; er hatte sich fern von der Stadt niedergelassen. Die Nachricht, die unsern Freunden der dicke lackirte Mann gegeben hatte, war falsch gewesen. Schon als sie in das Hinterzimmer traten, war der Franzose mit seiner Füllung fertig gewesen und fuhr ab. – Unbegreiflich, daß der Herr Amtmann den Lerm des Volks und die Canonenschüsse nicht gehört hatte! Aber da machte er bey seinem Eintritte der Gesellschaft so viele Kratzfüße; darüber war der Moment vergangen. Nachher herrschte eine große Stille, denn jedermann verfolgte den Ball mit seinen Augen. Viele liefen der Gegend zu, wo sie glaubten, daß er sich niederlassen würde, bis endlich, als die Nachricht erscholl, daß er nun würklich gelandet sey, ein neuer Lerm und der Ausruf: »Se heft en wedder!« unsern Beamten aus seiner Ruhe weckte – aber da war's zu spät.
Vergebens würde ich es versuchen, die verschiednen Ausbrüche des Mismuths und der Verzweiflung zu schildern, denen einige Personen, welche in dem unglücklichen Hinterzimmer das schönste aller Schauspiele versäumt hatten, sich überließen. Andre zogen sich den Unfall weniger zu Herzen. Der Dichter Klingelzieher lachte aus vollem Halse – er hatte nun Stoff zu einem neuen Epigramme. Die Licentiatinn schimpfte auf ihren Mann los (die einzige Art, wie sie sich über jeden Unfall des Lebens zu trösten pflegte!) »Nun es hat nicht seyn sollen«, sprach der Amtmann mit trauriger Mine, »Mir ist es nur lieb, daß mein Valentin und die andern Beyden, die doch auch indeß von Peina werden angekommen seyn, diese Merkwürdigkeit in Augenschein genommen haben, um davon zu Hause erzählen zu können.«
Da sich indessen keine Hofnung fassen ließ, die treuen Gefährten aus Biesterberg in dem Gewühle von Menschen hier zu finden, so dachte der alte Herr Waumann jetzt nur an seinen Rückzug, um verabredetermaßen im goldnen Engel sie wieder anzutreffen. Um neuen Wiederwärtigkeiten in dem Gedränge bey dem Eintritte in die Stadt auszuweichen, beschloß unsre Gesellschaft, durch die Contre-Escarpe nach einem andern Thore hin zu gehn, wo sie vermuthlich weniger Volk finden würden. Allein zum Unglück waren die mehrsten Zuschauer auf denselben Einfall gerathen, so daß hier der Zusammenfluß noch größer war, als vorhin beym Herausgehn. Sich wieder zurück durch alle diese Erdensöhne hindurch zu arbeiten, das ließ sich nicht wohl thun; Nun mußte man aber, um das nächste Thor zu erreichen, sich über eine Art von Teiche oder Graben setzen lassen; Einige tausend Menschen standen am Ufer und harrten auf den Fährmann; es war aber unglücklicherweise nur ein einziger Nachen zum Überfahren da; also gieng es langsam.
Wie hieß doch der Fluß, von welchem die verdammten Heiden fabulirten, daß ein gewisser Charon die Seelen der Verstorbnen da hinüber in die elisäischen Gefilde transportiren müßte? Ohrfeigen habe ich von meinem Informator bekommen, dessen erinnere ich mich noch, als ich bey dieser Stelle im Ovidius nicht Achtung gab; aber wie der Fluß heißt, dessen besinne ich mich nicht mehr. Genug! grade wie diese Wasser-Reise in jene Welt abgebildet zu werden pflegt, so sah es hier aus. So oft der Charon eine Anzahl Pilger hinüber geschafft hatte und nun wieder diesseits landete, war das Herzudrängen der Ungeduldigen so groß, daß würklich Passagiers, die nicht, wie Charons Gäste nur Seelen, sondern zum Theil dicke, mit braunschweigscher Mumme wohl ausgemästete Cörper waren, Gefahr liefen. Schon war der Licentiat Bocksleder nebst seiner sanften Gemahlinn und dem lieben Kleinen im Nachen; da wollte der Amtmann sich nicht von seinem Freunde trennen; Er drängte sich durch den Haufen, wagte einen Sprung und – hier fällt mir aus Wehmuth die Feder aus der Hand. – Wenden wir unsre Blicke nach einer andern Seite!
Herr Carino war kaum mit seiner Beute zum Hause hinaus, als der wackre Jüngling, den er an dem bewußten Orte eingesperrt hatte, nicht ahnend, welch' ein Unfall ihm begegnet war, die Thür des Cabinets ergriff, sie öfnen wollte, aber verriegelt fand. Vergebens wendete er alle Kraft seiner starken Arme an, Holz und Eisen zu sprengen; die Thür wich nicht. Vergebens rief er, schrie er, brüllte er endlich; niemand hörte seine Stimme. Wie Hercules, als er das Hemd der – nun! wie hieß denn das Nickel? – ha! Dejanira ja! das Hemd der Dejanira auf seinem Leichname kleben hatte, so gebehrdete sich Musjö Valentin, so durchschnitt er mit seiner heulenden Stimme die mephitische Luft, von welcher der Leidende jetzt umgeben war – alles umsonst! Als endlich die Kräfte zu sinken anfiengen und die Muskeln, welche seine Lunge ausdehnten (oder liegen da keine Muskeln? Ich weiß es nicht so eigentlich), herabgespannt waren; da gieng sein Gebrülle in Winseln, Klagen und Seufzen über, und seinen Augen entquollen salzige Thränen. Ich bitte meine hochgeehrtesten Leser dieser Schilderung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Sie werden dann finden, daß ich ohne mich zu rühmen, nicht ganz ungeübt in poetischen Malereyen bin, daß ich das Crescendo und Diminuendo gut anzubringen weiß, und daß mein Ausdruck wenigstens eben so edel und kraftvoll ist, als der unsrer mehrsten Romanen- und Comödienschreiber.
Der Schmerz kann nur auf einen gewissen Grad steigen, wie wir Philosophen das wissen, und dann bricht die Welle und es erfolgt wenigstens auf einige Zeit ein Stillstand. Nachdem der junge Herr Waumann lange genug getobt und gejammert hatte, fand er in der Vorrathscammer seiner Vernunft den Trost, daß doch sein Ungemach nicht ewig dauren könne. Er setzte sich also so bequem, wie sich's thun ließ, nieder; seine Augenlieder, vom Weinen müde, sanken – er schlief ein. Was konnte er auch bessers thun? Zwar lagen ihm zur Seite wohl ein Paar Blätter von der frankfurthischen gelehrten Zeitung, die ein Reisender da, nebst einigen Maculatur-Bogen von dem Romane Nettchen Rosenfarb hatte liegen lassen; aber Herr Valentin las nicht gern und wer kann denn auch in einem solchen Zustande mit Aufmerksamkeit lesen? Lassen wir ihn nun noch ein Weilchen schlafen! Es ist hohe Zeit, daß wir uns nach seinem theuren Herrn Vater umsehen. – Der Himmel weiß, wir haben jetzt alle Hände voll zu thun; Man kann nicht aller Orten zugleich gegenwärtig seyn; indessen ist es doch leichter zu verantworten, einen Menschen auf dem Abtritte eingesperrt, als jemand, der nicht schwimmen kann, im Wasser liegen zu lassen. Und schwimmen konnte der Herr Amtmann nicht; Er wurde aber sogleich herausgezogen, und als er am jenseitigen Ufer gehörig abgetröpfelt war, brachte der Ärger über diesen Vorfall und über das laute Lachen der zahllosen Zuschauer seine durch die Kälte des Wassers erstarrten Glieder und betäubten Lebensgeister wieder so lebhaft in den Gang, daß wir weiter keine schädlichen Folgen für seine Gesundheit zu befürchten brauchen. Er eilte nun nach dem Gasthofe zurück, um seinen blauen, mit Golde besetzten Rock auszuziehen und trocknen zu lassen.
Welcher neue Kummer ihn aber hier erwartete, das wissen wir. Indessen fand er seinen geliebten Sohn schon aus der Gefangenschaft erlöst. Er war kurz zuvor erwacht, hatte seine Klagetöne auf's Neue angestimmt und dazu ein so vollstimmiges Accompagnement mit den Fäusten an der Thür gemacht, daß endlich von den Hausgenossen, welche indeß heimgekommen waren, Einer ihn gehört und befreyet hatte. Vater und Sohn klagten sich gegenseitig ihr Leid – es war eine herzbrechende Scene. – Zum Glück war der Werth dessen, was Herr Carino mitgenommen hatte, nicht groß; allein lag nicht in der ganzen Verkettung ihrer Unglücksfälle schon Ursache genug zur Traurigkeit? Doch überließen Beyde sich derselben nicht bis zur Verzweiflung; Vielmehr sorgte der Herr Amtmann für seine werthe Gesundheit, zog die nassen Kleidungsstücke aus, legte sich zu Bette, bestellte ein gutes Abend-Essen und unter anderm eine erquickende Wein-Suppe; Valentin ließ sich's vor seines Vaters Bette wohlschmecken, und gieng dann auch schlafen. Wir wünschen ihnen eine angenehme Ruhe.