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Mit dem ersten Zuge, der Anschluß von Visp hatte, kamen Geld und Koffer für Sophie. Sie war schon vorher mit Roland in Zermatt unten gewesen und hatte sich ein paar solide Bergschuhe gekauft. Nach Tisch marschierten sie zum Gornergrat hinauf, wagten sich sogar zum Stockhorn hinüber und begeisterten sich an dem weltberühmten Panorama. Sie hatten keinen Führer mit und waren ganz allein. Ihnen gegenüber ballte sich der Monte Rosa zusammen.
»Mir ist das alles wie ein Traum!« rief Sophie.
Roland widersprach nicht.
Am Abend saßen sie wieder in ihrer Speisesaalecke. Diesmal stand eine Flasche Champagner auf dem Tisch. Sie hatte ein leicht ausgeschnittenes Abendkleid angelegt und sah in ihrer fröhlichen Unbekümmertheit berückender aus denn je. Man entwarf Pläne für die nächsten Tage.
»Morgen gehen wir zum Schwarzsee. Der ist sehr romantisch, schwarz wie Tinte und liegt am Fuße des weißen Matterhorns. Wir werden in Farbenkomplexen schwelgen. Prosit, Gefährtin der Freude, es lebe das Matterhorn und der Patriarch!!«
Sie wollte ihn zurechtweisen. Dieser Scherz war ungeziemend. Aber da fiel ihr wieder aufs Herz, daß sie ihre Pflicht gröblich vernachlässigte. »Was soll ich nur dem Vater sagen?«
»Gar nichts! Warten Sie doch bis er ankommt!«
»Bis er ankommt? Wo? Hier?«
Er schmunzelte. »Nicht wahr, der Schrecken wäre groß? Das Idyll wäre aus. Der Patriarch hätte gewiß kein Verständnis für Mitternachtsgewitter auf dem Matterhorn. Ich habe aber vorgesorgt.«
Angst, Bestürzung sprangen in ihr Gesicht. »Sie haben irgend etwas ganz Fürchterliches angestellt!« stammelte sie. »Ich sehe es Ihnen an!!«
»Ich habe Ihren Papa und den patriarchalischen Wüterich dorthin geschickt, wo sie Ihrem Bruder nicht schaden können. Ich habe Ihnen heute morgen dieses Telegramm gesandt. Belieben Sie zu lesen!« Er holte aus der Rocktasche die Kopie des Telegramms hervor:
»Wanijeff Genf Hotel Metropole. Sofort abreiset Mailand Grand Hotel. Dort erwartet Nachricht von mir.
Sophie.«
Sie erstarrte. Sie traute ihren Augen nicht. Sie wurde so bleich, daß er erschrak.
»Das – das haben Sie gewagt?« zischte sie. Ihre Augen waren tiefschwarz und standen voller Flammen. Jetzt wirft sie mir die Flasche an den Kopf, prophezeite sich Roland.
»Nun, ich habe Rücksicht genug gezeigt, nicht wahr?« suchte er zu besänftigen. »Ich hätte sie doch ebensogut nach Tripolis schicken können. Das liegt im afrikanischen Italien. Mailand ist eine wunderschöne Stadt. Da können sie alle schönen Kunstdenkmäler bewundern. Sehr empfehlenswert ist z. B. …«
Sie stand wortlos auf und ging hinaus. Verwundert sahen ihr die Umsitzenden nach. Auf ein paar Gesichtern erschien boshaftes Lächeln. Schadenfrohe Blicke schielten zu Roland hinüber. Dieser fühlte blutige Gelüste in sich aufsteigen und hielt nach irgendeinem Opfer Umschau, an dem er seine Wut auslassen konnte. Doch äußerlich blieb er kühl. Trank gelassen ein Glas nach dem anderen aus. Rauchte seine geliebte Zigarre zu Ende. Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und schlenderte gemächlich aus dem Saal.
Auf der Treppe machte er zwei Sätze und war oben an Sophies Tür. Er klopfte. Das Herz setzte ihm solange aus, bis er ihre Antwort hörte. »Wer ist's?«
»Roland. Wollen Sie mich nicht anhören?«
»Nein.«
Er spähte vorsichtig um sich. Kein Mensch weit und breit zu sehen. »Ich breche die Tür ein!« drohte er in wildem Flüsterton.
Ein Spalt öffnete sich. Er schob den Fuß dazwischen. »Wollen Sie mir nicht Gelegenheit geben, Ihnen alles zu erklären?«
»Ich brauche keine Erklärung. Ich reise jetzt nach Mailand ab!«
»Pah – es geht kein Zug mehr.«
»Doch, ich habe mich erkundigt. Ich übernachte in Zermatt und habe morgen früh Anschluß.«
»Schön, dann fahre ich auch – –.«
»Das werden Sie nicht tun. Ich habe genug von Ihnen.«
»Ich denke auch nicht daran, Sie nach Mailand zu begleiten. Ich gehe – –«
Unten in der Halle wurden Stimmen laut. Näherten sich der Treppe. Schnell traten die beiden in den neben Sophies Zimmer gelegenen Salon, wo zufällig niemand anwesend war.
»Ich habe etwas getan,« fing er an, »was vielleicht – ach was, Sophie, ich habe das Telegramm geschickt, weil ich einen oder zwei Tage gewinnen wollte. Der Traum sollte mir nicht zu schnell zerrinnen. Ich bin wahnsinnig! Ja, ja. Ich liebe dich, Mädchen; ich beginge noch Schlimmeres, nur um dich eine Stunde länger behalten zu können. Ich liebe dich, Sophie, ich bete dich an – –«
Er sprach mit halblauter Stimme. Ohne eine Geste. Mit herabhängenden Armen. Er stellte eine Tatsache fest. Sein Schicksal.
Sie standen einander gegenüber. Draußen auf dem Korridor klang Lachen. Irgend jemand schrie nach dem Hausdiener.
»Ich habe mich dagegen gewehrt,« fuhr er fort, »denn zur Stunde bin ich nicht frei. Mein Wort gehört einer anderen Frau. Doch es gibt Dinge, die stärker sind als wir Menschen. Sie sehen, was Sie aus mir gemacht haben! Einen Schurken und einen Narren! Bevor Sie in mein Leben traten, war ich ein passabel anständiger Kerl. Jetzt Sophie – Sophie – – ich – ich –«
Es drängte ihn zu ihr hin. Mit einer Gewalt von innen heraus, die unwiderstehlich war. Näher und näher kam er ihr. Sie drückte die Hände auf die Brust. Ihr Mund öffnete sich. –
Und dann war sie in seinen Armen. Hatte er sie an sich gerissen? Das wußte keiner von ihnen. Sie fühlten, daß ihre Lippen aneinandergepreßt waren, und einer den Atem des anderen in sich aufsog. Wirbelsturm. Die Welt versank.
Die Glut, die in ihr auf Erlösung gewartet hatte, brach aus ihr empor. Sie hatte das Kommen der Hochflut gefürchtet und sich dagegen zu schützen gesucht. Aber nun waren alle Dämme, alle eingestürzt. Elementarereignis. Sie hing in seinem Arm und stammelte irre kleine Worte der Leidenschaft.
Er war's, der zuerst zur Besinnung kam. Langsam löste er sich von ihr, ließ sie auf einen Stuhl gleiten und trat auf den Balkon hinaus. Nacht zog über das Matterhorn herauf. Gespenstisch leuchtete der weiße Gipfel in der Dunkelheit, die noch ohne Sterne war.
Was nun? Was nun?
Umfallen? Pater peccavi? Vor sich selber davonlaufen? Das Herrlichste zurücklassen, was das Leben zu geben vermag? Margot?
Er wendete sich zu Sophie zurück. Sie lehnte am Tisch und hatte die Augen geschlossen. Als er auf sie zutrat, hob sie den Blick und suchte den seinigen. Er nahm ihre heißen Hände und legte sie sich auf die Schultern. Seele sprach zu Seele.
Dann wollte er sie an sich ziehen. Doch er fühlte, wie sich ihr ganzer Körper steifte. Leise schüttelte sie den Kopf.
»Ich werde unten auf der Terrasse auf Sie warten!« flüsterte er. Sie nickte und er ging.
Fünf Minuten später standen sie an der Brüstung der Terrasse, die um diese Stunde verlassen war.
»Alles hängt von einer einzigen Frage ab,« begann er. »Liebst du mich? Ja oder nein?«
Abermals ihr Blick; ernst, forschend. Er fühlte ihn bis in die Tiefe seines Wesens. »Diese Frage hat zwei Seiten. Lieben Sie mich?«
»Ja, ich liebe dich! Ich habe bisher im Dämmerzustand gelebt und bin nun erwacht. Das Erwachen ist auch nur das Geschehen einer Minute. Aber du – Sophie – du –?
Sie schob sich etwas von ihm fort. »Ich glaube, ich könnte versuchen, Sie zu lieben,« antwortete sie in die Nacht hinein. »Vorausgesetzt, dieser schreckliche Bart verschwindet. Meine Wangen und mein Kinn sind ganz wund.«
Er wartete.
»Ich habe mich dort oben im Zimmer fortreißen lassen,« sagte sie nach einer langen, schweren Pause. »Ich habe den Kopf verloren. Aber wenn Sie wollen, daß ich ohne Scham an diese Minute zurückdenken soll, müssen Sie tun, was ich verlange. Die erste und wichtigste Sorge ist mein Bruder. Wir sind ihm auch zu Dank verpflichtet, denn ist es nicht er, der uns zusammengeführt hat? Und dann, Richard, Sie haben selbst gesagt, Sie sind nicht frei! Ich bin keine Heuchlerin, ich gestehe Ihnen, ich bin glücklich, mehr als glücklich, aber unser Verhältnis muß absolut rein und durchsichtig sein. Ich kenne die andere Frau nicht. Ich weiß nicht, welcher Art ihre Liebe ist. Meine ist im Sturm gekommen.« Er fiel rasch ein und es war ein halb spöttischer, halb bitterer Ton in seiner Stimme. »Margot Geldern ist nicht das Mädchen, das sich von einem Sturm umreißen läßt. Sie ist klug und hat mich mit imponierender Energie zur Sparsamkeit angehalten. Sie ist außerdem ein anständiger Kerl und wird mich ohne weiteres freigeben, wenn ich ihr auseinandersetze, daß ich bei dir glücklicher zu werden glaube als bei ihr.«
»Es wird ihr wehtun! Sie wird leiden! Oh, ihr Männer fragt ja nie danach, ob eine Frau durch euch leidet!«
Sie war erregt. Er verstand den Kampf, den sie mit sich auszukämpfen hatte, und wollte nicht, daß die Entscheidung gegen ihn ausfiel.
»Sophie –« sprach er auf sie ein. »Ich habe in diesen beiden letzten Tagen an das glauben gelernt, was die Menschen Schicksal nennen. Bestimmung, wie du willst. Unser Schicksal hat uns aneinander geworfen. Wozu da philosophieren? Ich möchte nicht, daß du mich mißverstehst, Sophie, aber ich glaube, dir jetzt in aller Klarheit der Vernunft etwas sagen zu können. Seit der Minute, in der du die Meine geworden bist, habe ich begriffen, daß mein Verhältnis zu Margot Geldern ein ganz anderes war. Es war nie Leidenschaft darin, nie ein solches Selbstvergessen. Gute Kameradschaft, ja. Ehrliche Freundschaft, und das beste Zeichen dafür, daß ich bei ihr so anders empfinde wie bei dir, ist die Tatsache, daß ich dessen jetzt erst gewahr werde. Ich habe eben vorher geglaubt, es kann nicht, es braucht nicht anders zu sein. Du hast alles in mir in die Höhe gerissen, was Margot nie bei mir gesucht hat. Ich kann sie nicht dafür verantwortlich machen. Vielleicht bin ich schuld daran. Man soll in Sachen des Herzens nicht Richter spielen wollen. Ich werde ihr alles auseinandersetzen, und Sophie, so wahr Gott mir helfe, ich glaube nicht, daß sie in einen Weinkrampf verfallen wird. Die Sentimentalität ist nicht ihre starke Seite.«
»Das können Sie nicht wissen, Richard! Und wenn sie Sie nicht freigibt?«
»Sie wird mich freigeben. Ich kenne sie –«
»Aber –«
»Mädel! Ich laß nicht mehr von dir! Das ist das, was heute sicher steht! Alles andere wird sich finden. Ich würde morgen nach Berlin fahren und mit Margot reden, wenn ich nicht durch meine Verpflichtung deinem Bruder gegenüber gebunden wäre. Schreiben kann man so etwas nicht – –«
»Das wäre feige!«
»Stimmt! Also müssen wir damit warten, bis die Zeit um ist. Willst du mir vertrauen?«
Sie drehte sich zu ihm hin und maß ihn mit scherzhafter Empörung von oben bis unten. »Sie wagen es, von Vertrauen zu sprechen, nach dem Telegramm, das Sie meinem Vater geschickt haben? Mein Herr, Sie sind – – –!«
Schon wieder tanzte der Übermut in den blauen Augen. Bei ihr schwankten die Stimmungen. Roland fand sie deshalb nur noch anbetungswürdiger. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie versagte sich.
»Nein, Richard! Um unserer beider willen – das nicht! Das ist die zweite Bedingung, die ich stelle. Ich will warten, bis Ihre – – bis Fräulein Margot Sie freigegeben hat. Aber bis dahin bin ich für Sie nichts als die Schwester Pawel Petroffs, dem zu helfen Sie sich verpflichtet haben.«
»Keinen Kuß? Auch nicht den kleinsten?«
»Nein! Ich warte ja! Ich laufe ja nicht davon.«
»Du schwörst?«
»Ich schwöre!«
Dann begannen sie um die Zeit zu feilschen, die sie sich noch auf Riffelalp gönnen durften. Sie wollte am nächsten Tage abreisen, den Vater treffen und die volle Wahrheit bekennen. Er rang ihr zwei Tage ab, zwei allerletzte.
So machten sie denn am nächsten Morgen den Ausflug nach dem Schwarzsee und kletterten am Nachmittag in die Vispschluchten hinunter. Am anderen Tage marschierten sie mit einem Führer bis zur zweiten Schutzhütte auf dem Monte Rosa hinauf. Die zwei Tage waren herrlich, ungetrübt wie der Himmel, der über ihnen hing. Sie sprachen über alles Mögliche, nur nicht über ihre Liebe. Und ab und zu ein Druck der Hände, ein Grüßen der Augen. Roland wollte sich nicht zurechtweisen lassen. Er liebte dieses schöne Mädchen viel zu sehr. Es war Leidenschaft, die sogar vor der Kritik des Verstandes standhalten konnte. Liebe auf den ersten Blick? Romantik des Abenteuers? Offenbarung war es ihnen beiden. Erwachen. Erfüllung ihrer Bestimmung.
Am Morgen des dritten Tages fuhren sie nach Visp, von da nach Brig und bestiegen hier den Lötschbergzug nach Bern, wo im Hotel Bellevue noch immer das bestellte Zimmer für Mr. Bowers aus Sidney wartete. Ein Telegramm Sophies nach Mailand hatte ihren Vater und General Dimitrieff gleichfalls dorthin bestellt.
Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. Sie waren die ganze Strecke über nie allein im Kupee und Sophie lachte spitzbübisch darüber. Bis er ihr mit aller Brutalität des verliebten und gequälten Mannsbildes erklärte, bei der ersten Gelegenheit alle Abmachungen zu brechen und ihr den Atem aus der Brust zu küssen. Da ließ sie ihm zur Beruhigung die Hand und bewunderte, an seine Schulter gelehnt, die Schönheit der Fahrt. Sie kamen gegen Mittag ins Hotel Bellevue, und Roland trat an das Pult des Empfangschefs, um sein Zimmer zu reklamieren. Er sprach englisch. Er war jetzt wieder der Schafzüchter aus Sidney.
Sophie wartete indessen in der Halle neben dem Gepäck.
»Mr. Bowers, wir bedauern, Ihr Zimmer fortgegeben zu haben,« entschuldigte sich der junge Mann des Empfangsbüros. »Aber ich kann Ihnen ein anderes ebenso schönes geben. Mit Aussicht auf das Gebirge natürlich.«
»Sehr wohl. Ich bitte auch um ein Zimmer für die Dame, die ich hierher begleitete, Fräulein Petroff, die ihren Vater, General Petroff, hier erwartet.«
»Selbstverständlich, Mr. Bowers. Darf ich den Herrschaften die Zimmer zeigen?«
»Bitte schön – –!« Roland wendete sich ab, um Sophie einen Wink zu geben. Mit erhobenem Arm blieb er stehen.
Vor ihm stand, schlank, groß, elegant und kühl – Margot Geldern.