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9.

Das Hirn Richard Rolands weigerte sich, zu funktionieren. In solchen Momenten gewaltsamer Überraschung können auch bei den stärksten Naturen die Ganglienzellen den Dienst versagen. Sie sind nicht imstande, die Überrumpelung durch das Unerwartete aufzunehmen und ihr entsprechend zu reagieren. Der Kopf wird leer, hilflos. Roland fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen strömte. Steif, stumm, starrte er das Mädchen an.

»Soll ich den Arzt holen?« hörte er es sagen. »Sie sehen aus, wie wenn Sie in der nächsten Minute umfallen würden!«

Seltsam, der Spott in dieser melodischen Stimme wirkte auf ihn wie ein Sprühregen eiskalten Wassers. Er war nicht bösartig, schelmisch vielmehr und liebenswürdig. Roland kam schamvoll unter ihm zur Besinnung.

Das erste, was er sah, waren die dunkelblauen Augen des Mädchens. Blaue Augen zu schwarzem Haar! Seltenster Schönheitsreiz! Und sie blickten nicht mehr so tieftraurig drein wie in Genf, sondern funkelten ihn an voll Temperament und Herausforderung.

»Na, Sie hätten auch früher erscheinen können!« knurrte er.

Jetzt war sie beinahe so überrascht wie eben noch er. Das Lächeln verschwand. Die Augen verdunkelten sich, wurden beinahe schwarz. Mißtrauen zuckte in ihnen auf. »Haben Sie mich denn erwartet?« fragte sie. Ihre Stimme war auf einmal kalt, herrisch.

Er antwortete nicht gleich. In lächelnder Ruhe maß er sie, prüfend, bewundernd. Sie war etwas über Mittelgröße und hatte eine Gestalt wie eine Göttin. Es war Kraft und Gesundheit in ihrer Haltung und eine betörende, leichtbeschwingte Grazie. Eines jener seltenen Göttergnadengeschöpfe, die vollkommen sind.

Ihr stieg unter seinem Blick über den schlanken Hals das Blut in die Wangen. Zwischen den Brauen, die dicht und leicht geschwungen waren, bohrte sich eine kleine Falte ein. »Nun?« schnellte sie ihm zu. »Das ist die zweite Frage, die ich an Sie richte, und die Sie nicht beantworten.« Sie sprach ein tadelloses Deutsch, sogar mit leichter dialektischer Färbung. Das Deutsch der gebildeten Wienerin. Roland liebte diesen Dialekt viel zu sehr, um ihn nicht sofort zu erkennen.

»Lassen Sie mich doch erst zu Atem kommen, mein Fräulein,« bat er voller Unterwürfigkeit. »Wenn man ahnungslos »Herein« schreit und dann statt des Kellners oder eines betagten Stubenmädchens Sie vor sich sieht, hat man das Recht, überrascht zu sein.«

»Lassen Sie das gefälligst! Haben Sie mich erwartet? Ja oder nein?«

»Natürlich habe ich Sie nicht erwartet. Weder Sie noch irgend jemand anderen, denn ich habe mir kolossal viel darauf eingebildet, aus Genf verschwunden zu sein, ohne eine Spur hinterlassen zu haben. Wie aber das Resultat zeigt, bin ich ein Stümper, und Sherlock Holmes würde mich mit Verachtung betrachten.«

In den dunklen Augen sprühte ein Licht auf, um aber sofort wieder zu verlöschen. »Und?«

»Sie sind mir doch von Genf her nachgefahren?«

»Ja, es war nicht so schwer, wie Sie sich vorstellten.«

»Scheint so! Aber warum haben Sie dann bis jetzt gewartet, um mich durch Ihren Anblick zu erfreu – zu erschrecken? Haben Sie einen Revolver bei sich? Oder eine kleine Bombe? Vielleicht einen vergifteten Dolch? Nein? Na also, wie köstlich hätten wir uns von Genf an unterhalten können. In Montreux! Mondnacht auf dem See! Die schönste Frau, die ich –«

»Sie sollen das lassen!«

»– – bis jetzt in meinem Leben gesehen habe, fährt mir nach, und ich habe keine Ahnung davon! Bitte, malen Sie sich die Katastrophe aus, ich wäre wirklich so intelligent gewesen und Ihnen entkommen. Jetzt säße ich hier und müßte das Matterhorn allein bewundern. Ohne Sie! Ohne –«

»Können Sie vielleicht einen Moment ernst sein und mir meine erste Frage beantworten! Ich habe mich Ihnen als Sophie Petroff vorgestellt und möchte gern wissen, wer Sie sind?«

Halb ironische Verbeugung Rolands. »Ich heiße William Carell Bowers, bin in Sidney in Australien zu Hause, wo ich eine große Schaffarm besitze. Ich habe dreizehn Herden zu je dreitausend Stück. Sie müssen nämlich wissen, meine Gnädigste, die dreizehn ist meine Glückszahl. Ich bin an einem dreizehnten geboren als das dreizehnte Kind meines Vaters, der Kapitän bei den 13. neuseeländischen Füsilieren war. An einem Dreizehnten betrat ich in Triest den Boden Europas und – und heute ist auch der Dreizehnte!«

»Sie sind nicht William Carell Bowers, der Schafzüchter aus Sidney, und der Dreizehnte wird zu einem Unglückstag für Sie werden, wenn Sie sich nicht entschließen, die Wahrheit zu sagen. Sie haben ja gar keine Ahnung, in welcher Gefahr Sie sich befinden! Sie und ein anderer!« setzte sie ernst und eindringlich hinzu.

»Ein anderer?« Unwillkürlich ließ auch Roland den Scherz fallen.

Sie stampfte mit dem Fuße auf, und die Falte des Unmuts erschien wieder zwischen den Brauen. »Tun Sie doch nicht so, als ob Sie nicht wüßten, von wem ich spreche!«

»Ich weiß es bei Gott nicht – –«

Dabei langte er, wie es seine Gewohnheit war, nach der Zigarette. Als das Mädchen die große, schwere Tuladose erblickte, stieß sie einen halblauten Schrei aus und sprang zu ihm hin.

»Da – da! Da haben Sie seine Dose! Und Sie wagen es, mir diese nichtswürdige Komödie vorzuspielen? Wo ist Pawel?«

»Pawel – – Pawel – – –?«

In seinem Gedächtnis begann es zu rumoren! Sie hatte sich Sophie Petroff genannt! Ein Blitzlicht zuckte auf. Pawel Petroff! Was war sie diesem Manne?

»Sie meinen Pawel Petroff?« fragte er langsam.

»Wen denn sonst?« rief sie voller Ungeduld. »Er ist doch mein Bruder!«

Irgend etwas stellte sich bei Roland auf den Kopf. Sie war nur die Schwester – –! Nun! Sie war – –! Aber in der gleichen Minute rückte der Verstand alles wieder zurecht.

Er bot ihr eine Zigarette. Sie lehnte ab, und er zündete sich selbst eine an.

»Sie rauchen sogar seine Marke!« rief sie. »Was geht hier vor? Wo ist er? Wer sind Sie?«

Roland tat ein paar rasche Züge. Die Situation war mehr als kompliziert. Da stand vor ihm ein fremdes Mädchen und warf ihm Fragen ins Gesicht, die er nie und nimmer beantworten konnte, ohne seine Verpflichtungen dem Manne gegenüber zu brechen, der ihm vertraute. Doch in des Mädchens Stimme und Blick war ehrliche Sorge! Es spielte ihm nichts vor. Man mußte Zeit gewinnen.

»Darf ich fragen,« fing er an, »woher Sie wissen, daß ich nicht Mr. Bowers aus Sidney bin? Sind Sie Ihrer Sache so sicher?«

Ein Zug leisen Spottes glitt über die Lippen, die rot waren ohne Hilfe des Farbstiftes. Für einen Augenblick zeigten sich zwischen ihnen weiße, kleine Zähne – – – –

»Sie haben recht, Sherlock Holmes wird auf Sie als Schüler nicht sonderlich stolz sein,« entgegnete sie. »Wir kamen gestern früh in Genf an, denn wir waren benachrichtigt worden, daß mein Bruder unter dem Namen Bowers im Hotel Metropole in Genf abgestiegen war. Im Vestibül sah Sie dann General Dimitrieff – –«

»Ah – der Patriarch!«

»Jawohl, der Patriarch! Wenn Sie ihn näher kennen würden – –! Doch weiter! Er hielt Sie natürlich für Pawel! Ebenso hat mein Vater – –«

»Der Herr mit dem Soldatenbart?«

»Mein Vater ist gleichfalls General. Er hat voriges Jahr den Dienst quittiert. Sogar er und ich ließen uns täuschen. Sie hatten dieselbe Art, beim Gehen die Schultern vorzuschieben, wie es mein Bruder tut.«

»Danke für das Kompliment!«

Sie sah ihn groß an. »Kompliment? Ich verstehe nicht – –«

Er lachte. »Ich hoffe, Sie werden eines Tages verstehen. Doch, bitte, da fällt mir ein: Ihr Vater hat sich doch unter einem ganz anderen Namen im Hotel gemeldet. Falscher Paß? Inkognito?«

»Wir müssen doppelt vorsichtig sein. Erstens Pawels wegen und dann dürfen wir nicht den Spionen unserer Regierung in die Hände fallen. Mein Vater und General Dimitrieff, der als Kaufmann Stratoff reist, sind die Führer der Revolutionäre. Begreifen Sie?«

»Vollkommen. Wenn Sie mir aber endlich sagen wollten –«

»Ich bin schon dabei. Das hätten Sie nicht tun sollen! Sie singen ganz hübsch – na ja – es geht – Sie brauchen nicht gleich vor Stolz anzuschwellen. Mein Bruder Pawel ist aber so unmusikalisch, daß der Liebessang eines Katers noch melodisch im Vergleich zu seiner Stimme klingt. Ich wußte also, daß wir einen Fremden vor uns hatten und ließ Sie nicht mehr aus den Augen – –«

»Was Gott Ihnen lohnen möge – –«

Etwas klang durch den Scherz, das ihr abermals das Blut in die Wangen trieb. Doch sie fuhr fort. »Ich sah, wie der andere Herr Ihr Handgepäck mitnahm, und ich schlich Ihnen nach, als Sie sich selbst nach dem Bahnhof begaben. Vor Ihrem Kupee standen voll Pflichtbewußtsein zwei Männer, denen man die Detektive meilenweit ansah: ich saß vergnügt im Abteil daneben und sah mit aufrichtigem Interesse zu, wie Sie in Lausanne aus dem Fenster in den Simplonexpreß kletterten. Das ist doch einfach, nicht wahr?«

»Sehr einfach!« stöhnte er.

»Ich konnte meinen Vater nicht mehr verständigen, da ich Sie doch nicht aus den Augen verlieren durfte. Ich ließ ihm im Hotel einen Zettel zurück mit der Nachricht, daß ich Sie verfolgen und ihm, sobald ich genaueres wüßte, telegraphieren würde. Da haben Sie nun alles.«

Er überlegte. Durch die weit geöffnete Tür schaute in seiner Glorie das Matterhorn ins Zimmer. Unwillkürlich wanderte sein Blick hinüber und blieb an der stolzen Spitze hängen. Ihr Auge folgte den seinigen. – –

»Mein Gott, ist die Welt schön!« sagte sie.

»Und wir stehen hier und reden Dinge, die so unwesentlich gegen alles das da draußen erscheinen – –«

Sie lehnte jetzt neben ihm an der Balkontür. Ihr Blick wurde traurig. Der leuchtende Glanz darin erlosch.

»Sie wissen nicht, was Sie sprechen,« flüsterte sie. »Mein Bruder ist angeklagt, unsere Sache verraten zu haben. Mein Vater und General Dimitrieff sind ihm gefolgt, um ihn der Strafe zuzuführen.«

»Blödsinn!« sagte Roland voller Überzeugung.


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