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Sie sah ihn erschrocken an. Die Brutalität seines Ausdrucks tat ihr weh und doch – seltsam, sie empfand ein Gefühl der Dankbarkeit dafür.
»Sie sind ein Deutscher,« sprach sie, »Angehöriger eines der größten und stolzesten Völker der Erde! Sie können diese Dinge nicht verstehen. Ich selbst begreife sie ja nur, weil mein Vater und mein Bruder eine so große Rolle dabei spielen. Thrazien ist ein unglückliches Land – – aber – –«
»Hören Sie, Fräulein,« unterbrach er sie, »dort drüben ist das Matterhorn! In anderthalb Stunden ist Mittag. Wollen wir bis dahin einen Spaziergang machen? Wir werden uns bestimmt im Freien aussprechen können. Wollen Sie?«
Sie schwankte einen Moment lang. Der Glanz der strahlenden Sonne lag auf ihrem Gesicht und verwischte die Linien der Trauer.
»Wenn Sie wüßten, wie schön Sie jetzt sind!« flüsterte er. Es war so etwas wie Andacht in seiner Stimme.
»Kommen Sie!« sagte sie und wandte sich zur Tür.
Er hielt sie fest. »Wollen Sie sich nicht vorher umziehen?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Umziehen? Ich habe gar kein großes Gepäck mitgebracht. Aber vielleicht möchten Sie –?«
»Ich? Ich habe da zwar irgendwo einen Sportanzug, doch mir ist's um jede Minute leid, die wir hier versäumen! Vorwärts, wir wollen ins Blaue hineinmarschieren und uns vorstellen, wir haben nichts anderes auf der Welt vor.«
Auf der Terrasse vor dem Hotel war gewaltige Bewegung. Eine große Schar von Gästen war um zwei riesige Fernrohre gedrängt und beäugte aufgeregt den Nordkamm des Matterhorns, auf dem gerade eine Gesellschaft Touristen im Abstieg war. Als Sophie Petroff erschien, wurden die kühnen Bergsteiger jedoch mit einem Male vergessen. Alles starrte dem schönen Mädchen nach, das nun neben Roland schnellen Schrittes auf den bergwärts führenden Weg einbog.
»Na, wir erregen ja einiges Aufsehen,« knurrte er. »Und ich habe mir eingebildet, hier oben könnte man unbemerkt und ungestört – – Hoffentlich sind Sie die einzige Person, die mir aus Genf gefolgt ist!«
»Warum? Fürchten Sie noch andere Verfolger?«
Er lachte. »Ich habe in den beiden letzten Tagen einige Erfahrungen sammeln können!«
»Was heißt das? Nein – verheimlichen Sie mir nichts! Begreifen Sie denn nicht, daß ich alles wissen muß? Es handelt sich doch um meinen Bruder.«
Ein schmaler, steiler Fußsteig zeigte sich. Den schlug er ein, ohne zu überlegen, daß sie mit ihren französischen Schuhen über das Geröll nur schwer vorwärtskommen konnte. Tapfer stieg sie hinter ihm her. So marschierten sie ins Blaue hinein.
An einem kleinen Plateau, das mit gelben und blauen Alpenblumen bedeckt war, machte er Halt. Ein idealer Platz für einen Rundblick über die Welt des ewigen Eises, die sich da vor ihnen in kühnen, trotzigen Gipfeln aufrichtete. In der Mitte dieser schweigenden Feierlichkeit, frei aufragend, in arroganter Einsamkeit, das Matterhorn mit seinen scharfen Steilhängen. Trotzig, unnahbar. König.
»Hier ist es einfach herrlich,« sagte Roland.
Sophie stand neben ihm. »Wundervoll!« flüsterte sie mit verhaltenem Atem. »Ich dachte immer, unsere Berge dort unten seien das Schönste auf der Welt. Sie sind schön, aber sie sind mit Haß und Blut befleckt. Hier ist Ruhe und Frieden. Warum kann das auch nicht dort sein?«
Immer kamen ihre Gedanken auf den Kummer zurück, den sie in sich trug, und der unablässig da war, wenn sie sich auch mehr als einmal von Roland in ein anderes Gespräch locken ließ.
»Sie wollten mir ja alles sagen,« mahnte sie.
»Ich kann mich nicht erinnern, das versprochen zu haben,« erwiderte er, »doch ich schwöre Ihnen, ich täte nichts lieber. Ich muß erst klar sehen, ganz klar.«
Er zog seinen Rock aus, breitete ihn sorgfältig auf den Boden und lud sie ein, Platz zu nehmen. Sie folgte und ließ sich nieder. Er stand vor ihr und konnte sich nicht satt sehen. Die Falte der Ungeduld schob sich wieder auf ihre Stirn.
»Ich hätte Sie für intelligenter und geschmackvoller gehalten,« sagte sie kalt und böse von unten herauf. »Ich weiß, daß ich das bin, was man schön nennt. Ich bin nicht unglücklich darüber, daß mich sogar ein Mann wie Sie in dieser beschämenden und verletzenden Weise anstarrt.«
»Sie sind vollkommen im Recht, Fräulein Petroff,« murmelte er gedemütigt und beschämt, »ich bin ein Flegel, aber Sie haben ja selbst eben den Milderungsgrund angeführt, mit dem Sie mich entschuldigen müssen. Ich werde mich in Zukunft bemühen, Ihnen keinen Grund zum Tadeln zu geben.«
Dann berichtete er ganz kühl und trocken: »Vorgestern wurde ich von zwei jungen Leuten, augenscheinlich thrazischen Patrioten, auf dem Quai in Genf angeschossen. Hier diese Löcher in meinem Hut sind das Zeugnis dafür. Gestern vormittag lauerten mir zwei andere Burschen, abermals thrazische Patrioten, vor dem Hotel auf, um das edle Werk zu vollbringen, das den beiden ersten am Tage vorher nicht geglückt war. Ich roch Lunte, nahm sie mit Hilfe eines Schutzmannes fest und ließ sie auf die Polizei bringen. Dort fand man bei ihnen ihre geladenen Revolver, doch leider nicht die kleinen Phiolen mit Blausäure, mit der sie sich dann vergifteten. Die Polizei weiß bestimmt heute noch nicht ihren Namen.«
Sie war bleich geworden und starrte vor sich hin. »Ist das nicht fürchterlich?« stammelte sie.
»Blödsinn ist es! Wahnsinn! Ich werde nie in meinem Leben den Anblick der beiden Leichen vergessen! Da lagen sie, so jung alle zwei – so jung! Hingeopfert für irgendeinen Wahnsinn – –«
»Sagen Sie das nicht!« flehte sie. »Sagen Sie das nicht! Sie können es nicht verstehen!«
»Möglich. Aber verstehen Sie es denn?« rief er rauh und brutal. »Sie sprechen deutsch wie eine Wienerin – Sie sind auch so gekleidet. Sie sind weder innen noch außen eine Genossin dieser – nehmen Sie es mir nicht übel – dieser überspannten, fanatischen Gesellschaft, die ihr ganzes Heil in Mord und Selbstmord sieht! Sie sind keine Fanatikerin. Was wollen Sie unter den thrazischen Patrioten? Darauf geben Sie mir erst einmal eine Antwort!«
»Mein Vater ist ihr Führer. Und mein Bruder ist sein vertrautester Mitarbeiter. Oder war es! Bis man diese Anklage gegen ihn erhob!«
»Soll ich Ihnen etwas sagen, Fräulein Petroff? Ich habe keine Ahnung von den Leiden Ihres Volkes. Aber das eine weiß ich aus eigener Überzeugung: Ihr Bruder ist ein tadelloser Gentleman. Und ein Gentleman ist nie und nimmer ein Verräter! Das können Sie von mir Ihrem Herrn Papa, dem Patriarchen und den anderen Idi – hm, den anderen Führern bestellen! Und noch etwas: Ihr Bruder hat bestimmt seine Gründe gehabt, wenn er verschwunden ist. Er ist nach Genf gekommen, einzig und allein, um die Verräter selbst zu suchen.«
Ihre Augen leuchteten. Sie war hinreißend schön in diesem Moment.
»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!« flüsterte sie und hielt ihm beide Hände hin. Er griff zu, und ihre Augen trafen sich. Diesmal wandte sie den Blick nicht ab.
»Wer sind Sie?« rief sie. »Das ist meine erste Frage, die Sie mir immer noch nicht beantwortet haben.«
Er hielt ihre Hände noch immer fest. »Ich bin ein ganz simpler Erdenbürger, dem das Leben bis jetzt keine großen Aufgaben gestellt hat, und der, offen gestanden, auch nicht die geringste Lust hatte, sich an solche heranzuwagen. Vielleicht schon deshalb, weil ich mich kenne und genau weiß, was ich kann und was ich nicht kann. Auf einmal bin ich nun in eine Geschichte hineingerissen worden, aus der ich nur heil herauskomme, wenn ich alle meine bescheidenen Fähigkeiten anstrenge. Darüber hinaus habe ich aber das eine Verlangen, Ihnen – Ihrem Bruder und Ihnen zu helfen. Ich bin zwar kein Genie und habe schon bei meinem ersten Versuch, andere Leute hineinzulegen, mich bis auf die Knochen blamiert – wenn ich daran denke, mit welchem Gefühl des Triumphes ich in den Simplonexpreß geklettert bin, packt mich gelindes Grauen. Immerhin will ich's ehrlich versuchen. Ihr Bruder hat mir vertraut. Tun Sie das auch, Fräulein! Wir werden seine Verfolger so lange an der Nase herumführen, bis er seine Aufgabe gelöst hat. Vier Wochen braucht er dazu, hat er mir gesagt.«
»Sie selbst haben mit ihm gesprochen?« Sie war außer sich vor Erregung. Er fühlte ihre Hände, warm und fest, in den seinigen zittern.
»Ja, ich habe mit ihm gesprochen,« erwiderte er. Einen Moment lang zauderte er und überwand seine letzten Bedenken. »Ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß,« begann er. »Ich bin Richard Roland, ein Filmschauspieler von höchst bescheidenem Ruhme –«
»Oh – jetzt kenne ich Sie!« fiel sie ein. »Ich habe Sie in Wien in einem Film gesehen. Dort waren Sie ein ganz verabscheuungswürdiger Charakter. Aber jetzt finde ich zu meiner freudigen Überraschung, Sie sind gar kein Scheusal, sondern – – sondern – –«
Und dann eine echt weibliche Frage. »Warum tragen Sie eigentlich diesen furchtbaren Bart?«
»Dieser Bart ist die Hauptsache bei der ganzen Angelegenheit. Ich habe mich Ihrem Bruder gegenüber verpflichten müssen, ihn vier Wochen lang zu hegen und zu pflegen, damit er sich hinter ihm verstecken kann.« Und kurz, ohne alle Umschweife, berichtete er ihr von seinem Abkommen mit Mr. William Carell Bowers aus Sidney.
»Sehen Sie,« setzte er hinzu, »ich habe mit Ihrem Bruder ein regelrechtes Geschäft abgeschlossen. Dazu gehört außer dem Barte auch die Tulasilberdose und die beim Gehen vorgeschobenen Schultern. Ich habe mich verpflichten müssen, mit keinem Menschen darüber zu sprechen – auch – mit meiner – hm – mit keinem Menschen. Diese Verpflichtung habe ich gebrochen, indem ich Ihnen alle meine Weisheit auspackte, und Ihr Bruder kann mir daher mit Fug und Recht die Bezahlung der in Berlin hinterlegten zweieinhalbtausend Pfund verweigern.«
»Das wird er nie tun!«
»Ich sage Ihnen ja, daß er meiner Meinung nach vollkommen im Recht dazu ist. Ich glaube aber nur in seinem Interesse gehandelt zu haben, wenn ich Sie, seine Schwester, über alles aufklärte. Sie allein können ihn vor Ihrem Vater und dem Patriarchen schützen, denn die sind für ihn momentan gefährlicher als alle diese jungen Desparados, die man auf ihn losgelassen hat. Die sollen nur ruhig weiterhin mir und meinem Schurkenbart nachlaufen.«
»Ich bin ja zu keinem anderen Zwecke mit meinem Vater mitgefahren, als meinem Bruder zu helfen. Aber Sie! Man hat doch bereits einen Anschlag auf Sie versucht! Es ist geradezu Tollkühnheit von Ihnen – –«
»Mein liebes Fräulein Petroff, halten Sie mich nicht für einen Prahlhans, aber so ein bißchen Gefahr schreckt mich nicht sonderlich. Gefahr ist nur dann gefährlich, wenn man sie nicht kennt. Jetzt weiß ich zur Genüge, woher sie kommt und kann mich gegen sie schützen. Wie die beiden Leichen in der Genfer Präfektur bewiesen haben,« fügte er mit leiser, bedauernder Stimme hinzu.
Ihre Hand suchte wieder die seinige. »Sie sind fest entschlossen?«
»So fest man nur sein kann. Probieren Sie es nicht, mich von der Gerechtigkeit des Kampfes zu überzeugen, den Sie führen! Ich war selbst im Kriege draußen und habe am Chemin des Dames meinen eigenen Patriotismus zur Genüge erhärten können. Ich will mit Unterdrückten und Spionen und Verrätern nichts zu tun haben. Ihr Bruder hat mir geschrieben, er hält mich für einen Mann, den ein bißchen Gefahr nicht davon abschreckt, sein Wort zu halten. Alles, was ich möchte, ist, daß seine Schwester dieselbe Meinung von mir behält. Und jetzt wollen wir nach Hause gehen, sonst bekommen wir nichts mehr zu essen.«