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Roland war bereits abgehärtet. Immer geheimnisvoller wuchs die ganze Affäre an ihn heran, wie ein Gestrüpp, das sich in üppigen Schlingen zusammenschließt. Doch er verlor die Nerven nicht. Er wurde mit einem Male Fatalist. Irgendwo muß ich durchkommen, sagte er sich. Wenn nur das schöne Mädchen – –! Die Augen – – die Augen!
Er begann zu singen. Taubers Lied aus Lehars »Friederike«, »Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich – –« Er war sehr musikalisch und hatte einen nicht allzu starken, aber weichen und einschmeichelnden Bariton. »Mädchen, mein Mädchen –« Ob Nummer 23 merkte, daß ihr das Lied galt?
Mitten im Gesang fiel ihm ein, daß er wohl kaum unbeobachtet mit seinem Gepäck aus dem Zimmer kommen konnte. Er ließ den Polizeikommissar durch den Portier heraufbitten und klärte ihn flüsternd über die Situation auf. Auch zeigte er ihm den geheimnisvollen Zettel.
»Können Sie das lesen?«
»Das ist russisch oder bulgarisch oder serbisch. Ich kann es mir in ein paar Minuten übersetzen lassen und bringe Ihnen die Übersetzung zum Zuge.«
»Ausgezeichnet!« sagte Roland. Laut, für lauschende Ohren bestimmt, fügte er auf Französisch hinzu: »Also schön, lieber Freund. Ich erwarte Sie in einer Stunde im Maxim.«
Der Kommissar ging hinaus, wobei er die Handtaschen und das Necessaire Rolands mitnahm.
Dieser blieb zurück und sang voll Inbrunst: »Dann geh' ich ins Maxim!«
Nach einer halben Stunde verließ er das Zimmer. Als er auf den Gang trat, glaubte er zu bemerken, wie die Tür Nummer 23 leise zugezogen wurde. Einen Augenblick zuckte es ihm in den Fingerspitzen, hinzuspringen und sie aufzureißen. Doch er besann sich. Die Hauptsache war, daß er wegkam. In aller Gemütsruhe stieg er die Treppe hinunter. Vor dem Personaleingang in der Seitenstraße wartete ein geschlossenes Auto, in dem die beiden Polizeibeamten saßen. Zehn Minuten später war er in dem Zug nach Bern, in dem der Kommissar ein Kupee für ihn reserviert hatte.
Dieser selbst war bereits da. Mit der Übersetzung des Zettels.
»Wir erwarten Dich um 11 Uhr auf meinem Zimmer!« Das hatte der Mann mit dem Sarmatenschädel geschrieben.
»Die können lange warten!« lachte Roland und drückte dem hilfsbereiten Polizeikommissar dankbar die Hand. »Ich hoffe, ich bin in vier Wochen heil und gesund zurück. Dann holen wir den Abend im Maxim nach, den wir uns heute versagen müssen. Der Teufel hole Thrazien und seine Patrioten!«
»Dasselbe sage ich auch! Auf Wiedersehen, Mr. Bowers!«
Sie reichten einander die Hand und blickten sich in die Augen wie alte Freunde. Auf Wiedersehen! Selten hatte dieser Gruß tiefere Bedeutung als in diesem Moment gehabt!
»Ich wünsche Ihnen und mir, daß ich Sie gesund und fröhlich wiedersehe,« wiederholte mit ernster Stimme der Kommissar und verließ den Zug. Roland zog die Vorhänge vor und verriegelte die Tür. Vor dem Abteil faßten die beiden Agenten Posten, wie wenn sie an dieser Stelle Wurzel schlagen wollten. Sie waren vollkommen instruiert.
Pünktlich auf die Minute glitt der Zug aus dem Bahnhof. Die Lichter an den Kais versanken hinter ihm in der Nacht.
Lausanne!
Lärmen, Laufen, Schieben. Drängen in der mächtigen Halle. Vier Züge hielten nebeneinander. Die riesigen Maschinen keuchten und dampften abfahrtsbereit. Zwischen sie schob sich der Genfer Expreß. Roland öffnete vorsichtig das Kupeefenster, ließ seine Gepäckstücke hinunter und kletterte ihnen nach. Auf dem nächsten Gleise stand der Simplon-Expreß. Roland öffnete die Tür des Wagens, der gerade vor ihm war, und schlüpfte hinein. Auf dem Perron erklang der Ruf der Kondukteure: »Einsteigen!«
Zwei Minuten später rollte der Expreß ab. Roland ging in das nächste Abteil und setzte sich nieder. Es war leer, und er fühlte sich geborgen. In einer halben Stunde war er in Montreux, stieg aus, fuhr ins Palace-Hotel, ließ sich ein Zimmer geben und begab sich sofort zu Bett.
Am nächsten Morgen fuhr er von Montreux das Rhônetal hinauf nach Visp, nahm die Lokalbahn nach Zermatt, von wo ihn die Zahnradbahn nach der 2200 Meter hohen Riffelalp brachte, dem berühmten Hotel, vor dessen Fenster in seiner unvergleichlichen Schönheit das Matterhorn aufsteigt. Er bekam ein Zimmer im ersten Stock und stand eine Viertelstunde lang auf seinem Balkon, um seine Seele mit der erhabenen Pracht des königlichsten aller Berge vollzutrinken. Die Brust wurde ihm zu eng.
»Hier bleibe ich die ganze Zeit! Hier sucht mich kein Mensch. Margot könnte eventuell nachkommen – –«
Er trat ins Zimmer, um sich zu waschen und umzukleiden. In der einen Handtasche befand sich ein eleganter Touristenanzug, den er in der Garderobe Mr. Bowers gefunden, und den er vorsorglich eingepackt hatte. Mit vor lauter Eile ungeschickten Händen riß er an dem Schloß der Tasche herum –
Es klopfte an die Tür. »Herein!« schrie er, ohne aufzublicken. Der Kellner oder der Portier mit den Meldezetteln. – – – Er hatte den verkehrten Schlüssel erwischt und das Schloß wollte nicht aufgehen.
»Scheußliches Vieh!« knurrte er wild.
»Aber – aber! Ein gebildeter Mann schimpft doch nicht in Gegenwart einer Dame,« vernahm er von der Tür her eine wunderbar weich klingende Frauenstimme. Er fuhr aus der gebückten Haltung auf und erstarrte. Vor ihm stand das schöne Mädchen aus dem Hotel Metropol in Genf.
Die junge Dame zog die Tür hinter sich zu und trat ein, zwei Schritte näher. Mit tiefer Stimme, die ihn nur noch tiefer in den Bann warf, sagte sie: »Ich bin Sophie Petroff, mein Herr! Und wer sind Sie?«