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Barcelona

 

I

Diese Stadt bleibt grundgetrennt von allen spanischen Städten, die ich hier beschwor. Grundgetrennt bleibt ein ganzer Landgau: Catalonien.

Ist Catalonien ein Teil Spaniens – oder ein Gegensatz zu Spanien?

In jedem Fall: es bedeutet mehr als den stärksten Teil Spaniens. Nämlich: den starken Teil Spaniens.

Und dieser Teil von Spanien will kein Teil von Spanien sein ...

So liegt, mit Stumpf und Stiel und Stock und Stein, der Fall.

 

II

Was ist in der spanischen Symphonie Barcelona? Das Allegro molto des letzten Satzes? der klingende Gipfel?

Nein. Denn jedes sieghafte Presto des Schlußsatzes ähnelt im Bau dem Beginnsatz. Barcelona jedoch ähnelt gar keinem früheren Satz.

Sondern es erscheint plötzlich als erbittert-selbständige, sehr neue coda – (welche den Rest Spaniens für ihre kleine coda hält).

 

III

Wie steht es zu diesem Rest?

Catalanen, das iberisch-griechisch-römisch-gotisch-arabisch-französische Mischblut – Catalanen sind flink. Als Arbeiter. Als Mittler. Als Rechner. Als Wertschöpfer.

Zum Unterschied gelten Castilier für saumselig; halten darum ihre Abkunft sehr hoch.

(Indes die Andalusier aus ihrer Faulheit keinen Blutstolz herleiten; sondern halt nur faul sind.)

 

IV

Ich möchte sagen (das Wort »Substanz« kaufmännisch, nicht spinozistisch genommen):

Der Catalane schafft die Substanz. Der Castilier lebt von der Substanz. Der Andalusier lebt ohne Substanz (– von der Sonne).

Kurz: der Andalusier hat Behagen; der Castilier Haltung; der Catalane Sprungmacht.

 

V

Und jener neue Mensch der Halbinsel, der von Catalonien, ist Republikaner. Er birgt ein Kämpferherz – bei der Verdienerhand.

Er hegt eine Wut gegen die spanische Wirtschaft. Gegen den Hof. Gegen das Dasein in der Vergangenheit.

Catalonien ist wie ein Künstler, der sich vom Agenten freimacht.

 

VI

Barcelona ... »Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn.«

Ich sah es einmal; drüben; in der Neuen Welt.

Wie das flutet, unter Barcelonas Platanen. Wie das strömt, beim Lärm der Zeitungsrufer, zwischen Häusern, Bäumen, Kiosken, beim grellen Lichtgeschwirr.

Ein übersetzter Boulevard; ein verkleinter Broadway. Tages Arbeit, abends Gäste. Bilderbuntes Angebot; von gleißenden Laternen hingestrahlt mit frischer Technik.

Nachthelle Gewölbe; Glashäuschen mit Langusten, Brathühnern, Würsten, Sülzen, Ragouts, Muscheln, Salami, Pasten, Zitronen, Schinken – und gegenüber vom Ladentisch das Getränk, hundertfältig. Achtjährige Mädel verkaufen dazu singschallend Zeitungen. Getümmel und Gewimmel.

Man ahnt hinter alledem schon Argentinien.

 

VII

Bei Tage: die Straßenpalmen, mit hochgehißten Fächern (sehn wie Indianerkopfschmuck aus). Darunter volkhaftes Getrieb von Männern in weißen Leinwandschuhen. Hanfsohlen; Mütze; Wolltuch.

Fischpaläste, Fleischpaläste, Fruchtpaläste.

Was Selbstbewußt-Emsiges. Es weht eine neue Luft – über einem begünstigten Schlag.

(C-Dur.)

 

VIII

Morgens der Blumenmarkt. Mit Narzissen; mit Kamelien, weiß und rot wie aus Wachs; mit Nelken, Kalla, Anemonen; mit Goldregen, dunkelvioletter Iris – und wieder Hyazinthen, Hyazinthen, Hyazinthen. (Veilchenströme vergaß ich fast.)

 

IX

Dieser Markt – mit allem Reichtumsbrodem der Morgenfrische! Plattsilbriges Meergetier mit roten Flossen.

Tintenfische. Schnecken. Sardinen. Blutig mit dem Beil durchklopfte Seehechte. Polypengewirr. Kleinfischhügel.

Dann Berberfeigen: die Kaktusfrucht (sie ist wie ein erweichter, grüner Tannenzapfen voll dicken Saftes, bei vielen Kernen). Hier Artischocken, Bananen, Pfefferschoten, Trauben, Grünspargel – und Blumenkohlgigantenköpfe; seltsam blauschwarze darunter. Oliven, Ananas, kandierte Frucht, Tomatenberge, Sellerie.

Dann wieder Hummerkrebse, durchsichtig (verblüfffend schlank). Und ein Aalgezücht – Kinder!

 

X

Mitten auf den breiten Baumstraßen, auf den Ramblas (das kommt vom arabischen Wort »ramla«, welches etwa Strombett heißt ... und hier wirklich ein Menschenstrombett ist; die ganze Stadt hieß einstens Bardschaluna – sarazenisch) ... auf den Ramblas ist ein steter Vogelmarkt mit Papageien und Kanariensängern, die ungewohnt fett und gelb sind; mit fremdblütigen Finken unter einem roten Hahnenkämmlein. Kolibris wie Schmetterlinge. Und Märchenkakadus. Und rings ein Gedonner der Trambahnen – durch das volkreiche Seegewimmel ... von Bardschaluna.

Von Bardschaluna.

 

XI

Die Stadt scheint aus Männern zu bestehn.

Frauen und Mädel, die Minderzahl, gehen oft ganz in Schwarz. Zwar fesch und volkhaft – dennoch ganz in Schwarz.

Es rollsegelt langsam eine fette, breite Catalanin, wieder in tiefem Schwarz, mit schwarzem Spitzenkopftuch. Sie holt Luft, mit schwarzem Spitzenfächer.

 

XII

In der mächtigsten Großgewerbstadt Spaniens gibt es leckere Veduten.

Dort, im Palacio-Viertel mit der Columbussäule. Mit jener »Lonja« (das Börsenhaus ist schon 1382 gegründet – o junge, grüne Burgstraße von Berlin!). Sitz des Seehandels; der Rechenstuben. Dort wird Baumwolle verfrachtet, entfrachtet, Seide, Maschinen, Töpferei.

Doch in der calle San Fernando kannst du Lichteres erblicken.

Augenweiden gibt es. Schildpatt; Parfüms; Edelmetall; Spitzen; Seidenstoff; Hüte; Spielsachen; Hemden; Bonbons; Juwelen; Fächer; damasziertes Gold; Kinkerlitzchen – und sonstwas.

 

XIII

Die Ramblas aber sind noch der alte Stadtteil. Der Paseo de Gracia ganz neu. Er will Champs-Elysées oder »Linden« sein. Recht absichtsvoll großstädtisch.

Ein freigebiger Zug herrscht in Avenuen.

Voll Unternehmungsgeist ist hier Grellneues. Unternehmend wie Barcelonas Taschenseidentüchlein mit wildbuntem Muster.

 

XIV

Oder wie Cataloniens Architektur – mit ihrer Neuphantastik.

Es ist kein Expressionismus. Den schuf zwar in der Malerei ein Spanier (wie im Sprachstil ein Deutscher – seinen Namen werdet ihr nie erfahren) ... doch jener Picasso hat ihn längst schon aufgesteckt. Er malt wieder gebändigt oder naturnah – und lacht.

Die catalanische Neuarchitektur ist manchmal bauchig gewellt: so daß ich an Yvette Guilberts Häusel vor den Wällen von Paris denken muß – welches auch so eine wogige Vorderseite hat; so schmiegig, beugig.

Die Architektur der Neucatalanen liefert hierzu noch gelegentlich eine Schrecküberraschung – nicht ohne Geist.

 

XV

Hochöfen, Fabrikessen. Kleines Gewühl von Schloten vor der Stadt ... So das neue Merkmal von Barcelona. (C-Dur.)

Das alte steckt in der düsteren Catedral voll ernster Gotik – wo im Kreuzgang Feigenbäume, Riesenpalmen stehn und im Steinwasserbecken ein Gänseschwarm haust.

(Diese scheußlichsten aller Vögel sind hier Dauergäste des Doms. Ein Sinnbild für den unfeierlichen Zug der spanischen, der volkstümlichsten Katholizität.)

 

XVI

Der Idealismus von Barcelona ruht nicht im Dom. Auch nicht in der Belénkirche, der ganz matt-dunkelgoldenen ... Eher in der Technik des Handels. Drittens jedoch in einer Bodenerhebung – dicht bei der Stadt, an einem Halbrund, am blauenden Meer. Das ist der Berg Tibidabo.

Er liegt bei Barcelona noch dichter als der Zobtenberg bei Breslau.

Jedenfalls ist er voll von Apfelsinenbäumen bis man hinaufkommt.

Weißgelbe Landhäuser, quadratisch, mit Flachdach. Mit Geländern aus hellem Stein. Eukalypten. Tolle Blumen. Veilchenfarbene Kletterblüten. Palmen. Johannisbrotwipfel ...

Über vieles blickt man mit staunender Pupille von oben – über sämtliche Goldorangen weg, auf jenes blauende (manchmal ganz gefallsüchtig-blaßblaue) Meer.

Ja, alles ist hellfarben an dieser Goldmuschel oder concha d'oro; – doch concha d'oro heißt auch bei Palermo der See- und Landstreif, so du von Monreale herabguckst ...

Es gibt halt mehrere Goldmuscheln in der Welt.

 

XVII

Item: hier, vom Tibidabo schaut ein Mensch auf die machtvolle, besonnte, gelbe Stadt. Er blickt auf Baumgrün, auf Nacktfels, auf einen Hochstock – neben weit sich hindehnendem Gewimmel der Häusertausende.

Das alles mit seinem Glanz ist sehr C-Dur.

 

XVIII

Die ganze Männerstadt Barcelona ist es; von Arbeitslüsten, durchhaucht; mit Recht überschnappend in allerlei Zukunftshoffnung.

Voll Trotz auf die eigne Mundart. Das Wort Cataloniens ist ja fast provenzalisch.

Ähnlich dem Wort gestorbener Troubadours. Der Franzose Mistral schrieb noch gestern in verwandter Sprache sein Gedicht »Miréio«.

Statt »O notre amiral, ta parole est franche« sagt so ein Mistralvers: »O noste amirau, ta paraulo es franco.«

Im Gedächtnis bleibt mir, seit ich Altprovenzalisch vor Zeiten geschlürft, der Anruf eines Liebessängers an sein Mädel (das vielleicht eine Frau war), kräftig und frisch –: »Wenn süße Luft herüberweht, von deinem Heimatland, dann wird es mir, als röch' ich ... den Wind vom Paradies.«

Quan la douss aura venta
      Deves vostre païs,
Vejeire m' es quieu senta
      Un ven dou paradis ...

Das ist tausend Jahr alt. Hoffentlich schrieb ich es recht. Immer noch lebt jene Mundart – hier im Wochentag.

 

XIX

Catalonien will mehr als eine Mundart.

Zwar ein Andalusier wispert mir zu: Cataloniens Autonomie sei höchstens der Traum von »vier Menschen«. Das Ganze sei kaum ernst zu nehmen.

Nicht jeder denkt so ... Beispielshalber Spaniens Regierung nicht.

Keinen Funkspruch auf catalanisch befördert sie. In der Troubadoursprache darf nicht telegraphiert werden.

Gegen Landsgenossen ein kleinliches Mittel.

(Immerhin ... Selbst eine kleinliche Regierung ist mir zehnmal willkommener als eine schlappe, schlappe, schlappe, die jeden Hohn hinnimmt – und sich mit offenen Augen selber die Urne gießt.)

 

XX

Catalonien kennt in Wahrheit zwei Ziele. In der Staatsform: Unabhängigkeit. In der Wirtschaft: Sozialismus.

Der Vergleich mit dem Kampf der Flamen und Wallonen bliebe falsch: weil Cataloniens Wort ja lateinisch ist wie das castilische – während in Belgien zwei getrennte (Rassen – hätt' ich fast gesagt) ... zwei verschiedene Sprachstämme sich balgen.

 

XXI

Ist hier ein Kampf nicht vermeidbar? – O tätigt nur eine Gewichtsverschiebung ... an Stelle des Kampfs! Darin liegt alles.

Mancher spanische Freund bangt um Spaniens »Anschluß an Europa«.

Ist nicht Catalonien (auch örtlich!) zu Europa der Übergang –?

Ist nicht hier ein Beginn der Sozietät ... an Stelle der Vereinsamung?

 

XXII

Catalonien harrt nicht, still, gegenüber von Afrika.

Sondern reibt sich und rührt sich im Seegetrieb dieser mittelländischen Bucht. In Hall und Hauch.

Dies Ostgeheg stachelt sich zum Wettrennen. Ermüdet sich heiter im Entwicklungslauf; mit juchzender Überflügelungsgier – voll Schlafscheu.

(C-Dur.)

 

XXIII

Wer Barcelona erlebt, weiß heute: daß Spanien eine Zukunft hat.

 

Barcelona-Postscriptum

Aus Barcelona kam das Pronunciamento des Generals Primo de Rivera – im September 1923 ... Denkwürdiger Umstand.

Denn Catalonien, industriesozialistisch, bedeutet ja das andre Ende der spanischen Wurst.

Professor R. Campalans von der Universität Industrial in Barcelona, den ich menschlich nicht kenne, schickt mir eine Schrift (catalanisch abgefaßt), welche die Gegenströmung belichtet.

Sie heißt: »El socialisme i el problema de Catalunya«. Vertritt nicht nur Handarbeiter, sondern alle Wertschöpfer.

Auf der ersten Seite hat er, was ich im April drucken ließ, in deutschen Lettern wiederholt: »Und dieser Teil von Spanien will kein Teil von Spanien sein.«

Er schließt mit den Worten an seine Landsleute: »Amies: Visca la República Social de Catalunya!«

(Dies ist eben das andre Ende der spanischen Wurst.)


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