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I
Elf Uhr abends. Ein Festtag scheint aus ...
Kerzen, leuchtwehend; – Lichter einer letzten langen Heiligentragbühne schwanken durch schwarzgefüllte Gassen; fernhin.
Aus.
Die Menschen gehn in die Häuser – ein bißl zu schlafen. Nur ein bißl.
Gegen Drei kommen sie vor. Da sind abermals die Umzüge; die Umzüge.
Die Bruderschaften; die Vermummten; die weißen, dunklen, violetten, grünen Kutten, – bloß Löcher für die Augen in der zugespitzten Hülle; wie Totenköpfe grauerig.
Und einhergetragene Himmelsgestalten überlebensgroß ... Noch sind sie weit.
Überall in der Nacht ist jetzo nur Vollmondlicht ... und Kühle.
II
Seltsam – in der dritten Stunde hier. Der zuckrigste Mond um die Giralda, den Glockenturm ... der einst maurisch war; katholisch werden mußte. Wie der ganze Dom; als welcher kein Dom ist: sondern was Verrinnendes und Gefesseltes; was Fliehendes und Beschworenes; was Gleitendes und Gebanntes.
Bräunlich-quadrathaft. Breit, voll Flachdächlein, Balustraden, Emporen, Durchlässen, Luftglück.
Eine Magie von Stein ... mit fletschend-erbitterten Toten, die fortkämpfen, fortkämpfen, fortkämpfen – (während unsereins zu dem Kuppelchen ins Gewölk blickt).
III
Innen: Gotik, Maurik, Lichtungen, Apfelsinenbäume, Goldgitter ... und eine Flüster-Ewigkeit.
IV
Tja, – bis zwei Uhr lag die Stadt verlassen ... jetzt sickern, ah, jetzt strömen sie durch die Gäßlein.
Zehntausend Bürgermädel, bildhübsch (die untersetzt-kurzen gar nicht gezählt). Spanische Madonnen drunter, mit Samtaugen unschuldig. Manche fast fünfzehn; von dunkel-oliviger Innigkeit – mit schwarzstumpfen Buschbrauen ...
Oder: mit einem Ausdruck wie schöne, zarte Affen ... Nein: wie längst verschollene Mohrenkinder.
V
Männer auch. Na, gut ...
Aber die Herren mit rotsamtgefütterten Hängemänteln seh' ich nicht – wie damals, vor achtzehn Jahren. (Solche Mäntel trifft man bloß in Granada noch.)
Zur Sache! der Haarkamm einen Viertelmeter hoch; drüberwallend Spitzen, wie ein Kronenschleier.
Schwarze Tracht – nicht Trauertracht ... Es ist der Süden.
VI
An der Kette zwischen Kathedralsäulen schwingen bei Mond junge Lümmel. (Halblaute Juchzer.)
Ein Geschwirr. Kerls mit bauchigen Korbflaschen auf dem Buckel. Händler in Weiß, mit grüner Schärpe. Bauern mit Moriskenantlitz – unter breitrandigem Blumentopfzylinder.
Und schwarzer Dutt, und hoher Kamm, und schwarzes Spitzentuch.
(Und schwarzer Dutt, und hoher Kamm, und schwarzes Spitzentuch.)
VII
An der Domwand kauern Arme, gehockt, mit Brustkindern. Zwanzigtausend sitzen auf Stühlen. Auf Stühlen schlafen fünfjährige Bürschel.
Amphorenträger. Weinschänker. Zuckerlbäcker ... Doch alles ist kein Geschrei – sondern ein Sang-Hall.
(Laß Madrid, laß Barcelona ... hier ist der Glanz; hier: Zauberei des Alltags; hier: das stehengebliebene Jahrtausend.
Hier trudelt mich die »Zeitmaschine« rückwärts – o Einstein!)
VIII
Die Kutten; die meterhohen Spitzkappen, mit brennenden Wachsfackeln und Kreuz; die Heiligensänften (gehoben auf unsichtbare Schultern); die langsam schreitenden Lichter, in der Nacht, mit Sterbebrüdern. Mit Begräbnismenschen – in dieser stillen Stadt ruhig-linder Lust. Wie eine Todmahnung.
(Sind die Mädel Griechenmädel? Arabermädel? Mohrenmädel?)
Mit heiligen Standarten. Langsam schreitend.
IX
Goya, du Spukmaler, Schattenmaler, Mobmaler – Goya lebt für mich in jeder Nische hier; in jedem Troß. Oh, was auf den Kirchpodesten zusammenklebt. Alle wartend; nicht schlaftrunken, etliche feierverglast – vor der beschienenen Mauer ...
Schattenschreiter (ohne Gesicht) wandern stumm, stockend, zögernd in die beglänzte Nacht. Kinder, singend.
Goldstumpfe Betgewänder; Goldbahren; mit Enakspuppen, goldbestickt; Kruzifixe; Monstranzen; Silbergestäng; Räucherwerk.
(Und immer der schwebend-schreitende Zug von Kerzen. Und neue Himmelswagen, neue Düfte ... durch die Nacht einer Palmenstadt.)
X
Auf jeder Trage die Kerzen schlankhoch-dicht wie ein Wald ... unter silbernem Baldachin.
Dies schwere Goldkreuz. Hüte sinken.
Der Nachtwind weht jetzt. Die Hunderttausende drängen sich zusammen. In der vierten Stunde.
XI
Dies ist (bei Tag) die Stadt mit Apfelsinen in den Bäumen. Die Stadt mit den patios: den Marmorhöfen, Holdgitterhöfen, Blumenhöfen samt etwas Rauschwasser. Mit Zerbröckelungen. Die Stadt mit kurzen Balkons. Die Stadt am Fluß Guadalquivir, auf dem die Meerschiffe schwimmen. Die Stadt, wo beim Schloß Alcázar in verborgner Winkligkeit Arabien blinzt. Die Stadt, wo Murillo und Velasquez zur Welt kamen. Die Stadt, wo der ††† Don Juan gehaust.
XII
Mensch, wer von der Giralda (vormals Minaret!) über die weißen Häuser blickt, ein paar Türme nur wegdenkt: der sieht eine Maurenstadt.
... Auf die Giralda klettern Unteroffiziere mit Zigeunermädeln.
Da draußen die Bewaffneten – warum singen sie nicht? Sind aus der Oper. Die Berittenen, mit roter Ulanenbrust, auf dem Kopf eine verbogene Konfektschachtel, wie 1815 –
warum singen sie nicht?
XIII
Vor achtzehn Jahren war manches einfacher.
Den schönsten Palmenplatz haben sie nun zu grell beleuchtet. Ein Fehler auch, die unsterbliche Schattenkathedrale drin elektro-hell zu machen. Im Dämmer lag ihr Glanz.
Tags hat sie ihn ... Am Abend wird sie obenrum fast evangelisch.
(Nur obenrum.)
XIV
Alle sitzen am Spätnachmittag wieder auf den Gassen. Straßengevierte voll Sessel. Karamellausrufer, Dütenkrämer, Wasserhändler. »Aaagua! aaagua!« ... Hört es nie auf?
Es hört nie auf zu beginnen.
Jetzt goldgestickte Schilde von Karmesinsamt; mit Schildplatt eingelegte Riesenkreuze; Leuchtschreine; Laternen; Meßgewandung brokatschwer.
Da kommen sie, mit schwarz zusammengebundnen Fahnen, bei Trommelwirbel begräbnisernst; bald bei zerschneidend fremdartiger, zwischen Dur und Moll schwankender, absonderlich herber Totenmusik (hierauf mit Blasgeschmetter polkahaft).
Immer ein Wald von Hochkerzen. Werfen goldnen Schein auf die ungeheure Maria. Sie hat einen Samtmantel mit bestickter Schleppe – die weit nachschwebt auf unsichtbarem Gerüst.
Davor, zwischen den Maskierten, den Bruderschaften, den Sargboten einsam ein Mönch. (Dahinter Militär, Bauern, ganz vorn Kavallerie.)
Hüte weg ... Die spanische Muttergottes. Neben ihr auf dem Traggestell Johannes Evangelista. Sie: andalusisch dunkle Augen unter der ungeheuren Leuchtstrahlenkrone, bekümmert und naiven Blicks. Er: mit hinabreichend schwarzem Schnurrbart, ein caballero ...
Die andre Muttergottes – im Strahlenschein: ein dickeres Landgesicht aufwärts äugend.
Zaubervoll beide.
XV
Sieh – unter den Lichtergoldbühnen gucken Träger vor: schwarzbraune Kerle, schweißberonnen, mit Säcken auf dem Kopf ... wenn die schwere Last niedergesetzt wird von Zeit zu Zeit. Aus der Unterwelt lugen sie, in Sklavenstellung, kniend und bäuchlings.
Düstere Trompeten. Die Goldbahre hebt sich mit der Schmerzensmutter. Vorwärts.
Doch ohne Feierlichkeit zwischendurch der Hall: »Aaagua! ... Aaagua!«
Flachkörbe voll Seespinnen, rotgesotten, tellergroß, eßfertig.
Vermummte plaudern beim Halt mit ihrer Freundschaft.
Däumlingskerlchen brechen das überhängende Kerzenwachs der Gruftbrüder. Blusen öffnen sich für Neugeborene. Dreijährige trotten hinter Familien durchs Getümmel. Auf Altanen in schwarzer Tracht mit schwarzen Spitzen, schwarzem Haar, die Frauensbilder –
Goya, Goya, Goya!
Jetzt –? ...! Eine lebende Himmelsbraut, weißgekleidet, zwischen zwei Spanierpolizisten, wird in die Catedral geführt. Ein Symbol-Akt.
(Dazwischen fernes Ächzquiekrülpsen geiler Esel.)
XVI
Wann, wann, wann das Ende?
Vorn die Sterbetrommeln, die Wachsfackeln, die Goldbühnen ... Noch ist das Licht des späten Nachmittags. Doch schon im Schwinden. Der Horizont hat was Zweideutiges, – wenn an der bräunlichen Kathedralmoschee, der für mich eindrucksvollsten Europakirche (was ist der Petersdom!) ... der Horizont hat was Zwielichtiges, wenn an der Kathedralmoschee Goldschein wehender Riesenkerzen in den noch hellen Übergangshimmel rinnt.
Haltet's mich! Die Lichter folgen dem Luftzug, die Menge schattig, die Steinwände braun, die Verhüllten veilchenfarb, die Klosterstäbe silbernd, der Marienmantel flammsamten, die Balkons hoch erdüsternd, die Zwieluft goldfahl. Halten sollt's ihr mich!
XVII
Und jetzt ... Jetzt endlich ziehn die Spitzkappen, die Kerzenträger, die Weihrauchjungen, die Gottesmütter, die Lichtwälder, die Übergestalt des Gekreuzigten, der sein Kreuz schleppt, die Engelbübchen (hochschwebend über Blumenhaufen) ... so ziehn sie ein in den Giganten-Wipfeldom.
In die katholisch gewordene Moschee; umsummt von Lippen, die nicht zählbar sind.
XVIII
Das Dunkel brach herein. Die Menge draußen tastet nur; festgestaut; es riecht nach Parfüms, spanischen Zigarren, nach Ölbraterei unter dem Nachthimmel, nach Weihrauch, nach Orangenblüte, nach gebranntem Holz, nach Kohlenbecken, nach Anis.
Das Fest geht fort.
XIX
Bis die letzten goldenen Lichterbahren spät in ihre Sprengel ziehn. Wenn Sevilla müde wird, – und auf der Plaza San Fernando jener Vollmond wieder durch die Palmen scheint.
(Oben in der Luft: Silberblau; unten: zerstäubtes letztes Gold; schwindend – ins Dunkel.)
XX
Alles dies ist rätselhaft. Fast ein Jahrtausend war das Land moslimisch; man erwartet somit irgendein verborgenes Aufbäumen.
Nichts. Kein Deut von Nachgroll.
War die Inquisition so gründlich?
Priester und Bewohner sind hier eins wie nirgendwo. Ich fühle, warum: der Priester hat auf Heiligkeit verzichtet.
Weltlicher als deutsche Pfaffen sind italienische. Doch fünfmal weltlicher als italienische die spanischen. Von Kirchenallüren entfernt.
Nur anspruchslose Handlanger für den Verkehr mit Heiligen. Das ist es. (Die Oberen scheinen anders!)
Ein spanischer Freund, vormals Mönch, sagt mir: Andalusier kümmern sich nicht um Gott, nicht um Christus – bloß um die Heiligen. Es ist (sagt er) Fetischdienst.
XXI
Etwas, glaub' ich, kommt hinzu: Schönheitsdienst.
Schlürfet – ja, schlürfet so ein Hochamt; morgens; in der Araberstadt ...
Der Erzbischof. Er wandelt im Sevilla-Dom. Umringt von Bischöfen, Gottesmänteln, Tiaren, Weihetrachten. (Sahnenfarb und mattgold.) Vor ihm: knixende Jungpriester. Mancher trägt verschwenderisch die Maria auf das Rückenteil gestickt.
Chorboys. Der schreitende Schwarm huldigt vor den Altären. Verneigung.
Dann ins herrlich durchbrochene Gehäus, in den Mittelkäfig wundersam. Musik. Gedämpfter Baritontenor. Flüsterorgel. Rauschorgel. (Fast Note für Note Tristan.) Kinderstimmen; ferne Geigen; stillere Chöre sonst.
... Alles dies ist unsterblich. Der Blick auf die haushohen Goldgitter, die Wölbungen, die Traumpfeiler, die Farblichtfenster, die Dämmerung, den spanischen Schwarm; dazu der Duftnebel. Unsterblich – als Kunst.
XXII
Er sitzt nun. Von hohen Pfaffen wie ein König bedient; an den Knien sorglich umhüllt mit durchwirkter Schleppe.
Gebändigter Weltmannston. Hebungen, fein, in der Mitte des Satzes.
»El Señor«, sagte er ... (Daß Gott auch »Señor« heißt, überrascht.)
Er spricht. Kein Zeterer: ein Anwalt ...
Schatten über dem Gittergold; verklungenes Wort; Zaubergebraus. Alles hier, mit Wispern und Verwehen, mit stummen Seitenplätzen, mit dem himmelskitschigen Murillobild, wo der kleine Jesus dem Sankt Antonius im Gewölk erscheint, der »niño dios«, der Kind-Gott ... alles das ist, als Kunst, unsterblich.
Als Kunst. Als Kunst.
XXIII
In Sowjetrußland empfand man vor solchen Erscheinungen den hohen Museumswert.
An Moskaus bester Kirche machten die Bolschewiker halt. Metzten bloß ein ... klärendes Wort in den Stein.
Museumswert. Ganz Andalusien ist ein atmendes Museum.
XXIV
Nach dem Hochamt wird rings geschmaust. Kein Südspanier weiß, wie köstlich, – ihm wächst ja alles in den Mund.
Nach dem Speisen: das Blutgefecht zweier Hähne – bis der eine wie ein rohes Stück Fleisch aussieht ... und verröchelt. Es ist grausiger als der Stierkampf – der hernach mit aufgerissenen Pferdebäuchen, blutbeschmierten Menschen, langsam totgemartertem Weidevieh (in zwei Stunden sechsmal hintereinander) vonstatten geht – voll Entladungen der Seligkeit.
XXV
Dennoch schwebt über dem Ort etwas Tonloses.
Nein: etwas Rieselndes; Rinnendes; Ruhiges.
So ist Sevilla.
Welches Sevilla? Das heilige Sevilla? Das blutige Sevilla? Das maurische Sevilla?