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Der Dienst erst war es, was die Glieder schuf.
Auf hartem Grund erlief den harten Huf
Das Roß; das Fassen bildete den Daumen,
Das Beißen hörnte, zähnte dann den Gaumen.
Ungestört erreichten die Wanderer Cliffhouse, den beliebtesten Erholungsplatz der feineren Gesellschaft San Franziskos. Das einstöckige Gebäude liegt auf einer Felsenklippe, die den Seespiegel an ihrem Fuß um etwa zwanzig Ellen überragt. Ein der ganzen Länge vorgebauter Altan muß bei starkem Westwinde durch eingesetzte Glasfenster vor dem Gesprüh des Salzwassers geschirmt werden. Heut aber stand er völlig offen und bot ungedämpfte Aussicht auf den unendlichen Ozean.
Kaum einen Büchsenschuß vom Ufer erheben sich aus der hier sogleich ziemlich tiefen Flut drei oder vier kleine Felseneilande, vom Wogenschlag ausgemeißelt zu einem Gewirr von Spitzen und Spalten, Strebpfeilern, Thorbögen und Höhlen, und kegelförmig von vierzig bis zu siebenzig Fuß aufragend. Um dieselben herum und auf ihnen wimmelt es von Seehunden jener pacifischen Art, welche ihrer Größe und wohl auch ihrer Stimme wegen meistens als Seelöwen bezeichnet werden. Ein Staatsgesetz, das bei längerer Gefängnißstrafe jeden Schuß im Umkreise von zwei Meilen verpönt, hat diese ergötzlichen Lustigmacher in wirksamen Schutz genommen und sie der Menschenscheu allmälig entwöhnt. Ihr Klettergeschick ist bewundernswürdig. Viele Centner schwer, wissen sie mit den plumpen Flossenfüßen gleichwohl ziemlich rasch bis auf die Gipfel der Felspyramiden zu klimmen und sich am steilen Gezack noch weit schneller wieder hinunterzurollen, um dann, in ihrem Element angelangt, bald mit einander spielend, wahre Nixenreigen aufzuführen, bald einem erspähten Fisch nachzutauchen. Die erschnappte Beute verzehren sie dann an einer bequemen Uferstelle ihrer Eilande, gönnen auch zuweilen dem Weibchen oder einem Jungen Antheil an der Mahlzeit. Aber jeden andern ungebetenen Gast ihrer Sippe warnen sie erst mit zornigem Gebrüll und fallen, wenn das nicht hilft, mit ein paar stets bereiten Verbündeten her über den allemal noch jugendlichen Attentäter, um ihm Respekt beizubringen vor dem in dieser Seehundsgemeinde schon geltenden Eigenthumsrecht.
Angesichts dieser Wasser- und Felsenbühne voll schwimmfüßiger Clowns setzten sich die Beiden draußen auf dem Altan in heiterster Stimmung zur Mittagsmahlzeit. Von den Gerichten seien erwähnt: die eröffnenden, überaus zarten, aber, im Widerspruch zu ihrer Herkunft aus dem größesten der Weltmeere, zwerghaft winzigen Austern in dünnen Schälchen, von denen wenige die Größe eines Markstücks überschritten; der fortsetzende, erst lebend vorgezeigte Hummer von köstlicher Frische; der beschließende Braten von der sogenannten Reisetaschen-Ente (canvassbag-duck), dem gastronomisch berühmtesten Geflügel Nordamerikas; vom Nachtisch endlich nur die dunkelrothen Erdbeeren von so würzig erfrischender Saftigkeit und Süße, wie sie diese Krone aller Früchte der Erde außer in der Umgebung San Franziskos nur noch in den »Vierlanden« bei Hamburg erreicht.
Während sie noch mit den letzteren beschäftigt waren, stellte der Kellner auf einen etliche Schritte links vom ihrigen für eine Person gedeckten Tisch eine Platte voll Austern. Gleich darauf trat aus der Glasthür auf den Altan heraus ein wettergebräunter junger Mann. Am hellbraunen Sommeranzug und besonders an dem breitkrämpigen Panamahut, den er, mit leichter Verbeugung nach rechts grüßend, abnahm und auf die Wandbank hinter sich legte, um dann alsbald seine Mahlzeit zu beginnen, erkannten Hildegard und ihr Vater sogleich den Spurenmesser.
Der Graf saß mit dem Rücken nach Norden. Ohne durch eine Wendung Neugier zu verrathen, konnte er das edel geschnittene Profil des Fremdlings betrachten. »Wo nur,« fragte er sich, »habe ich genau dieselben Züge schon gesehen?« Doch er fand keine genügende Antwort. Zwar erinnerte die Gestalt, obwohl etwas niedriger und minder breit in den Schultern, ein wenig an die des Pastors Ulrich Sebald. Auch der Blick der großen Augen und die Wölbung der Stirn hatten etwas an jenen Stammvetter Gemahnendes. Doch sonst war die Gesichtsbildung eine wesentlich andere, die Spur von Aehnlichkeit jedenfalls viel zu schwach, um aus ihr jenen ersten Eindruck zu erklären, der ihm die Ueberzeugung eines Wiedersehens geweckt hatte. »Ich kann mich nicht entsinnen,« dachte er, »wo das geschehen, aber eine Photographie oder ein Porträt dieses Herrn muß einst meine Aufmerksamkeit gefesselt haben.« Damit beruhigte sich der Graf und versuchte nun, statt weiter zu grübeln, aus der Erscheinung des Ankömmlings ein Urtheil zu gewinnen über seinen Charakter. Schon aus der Art, wie derselbe, die kleinen Schalen zierlich mit dem Daumen und Zeigefinger der Linken haltend, die Fleischblättchen der zarten Seethiere mit der verbreiterten Messerzinke der kurzen Silbergabel geschickt ablöste und hastlos speisend zu Munde führte, schöpfte er die Ueberzeugung, einen wohlerzogenen Mann von guter Herkunft vor sich zu haben. Denn die zur Gewohnheit gewordene, mühelos anmuthige Haltung, die selbst in bester Gesellschaft nicht vollkommen zu erlernen ist ohne ein von mehreren Vorgenerationen überkommenes Erbtalent, zeigt sich immer am deutlichsten bei Tafel, und bei keiner andern Tischbeschäftigung so leicht erkennbar als gerade beim Austernessen.
Hildegard saß mit dem Gesicht nach der See, also in gleicher Richtung wie der Fremde. Sie hütete sich vor der geringsten seitlichen Wendung. Schon beim Heraustreten des Ankömmlings den Ausmesser ihrer Stapfen erkennend, war sie erröthet bis unter die Haare. Auch ihr hatten sich gleichzeitig und noch weit eindrucksvoller die beiden Wahrnehmungen aufgedrängt, welche ihr Vater zu machen geglaubt: die einer schwachen und sehr unvollkommenen Aehnlichkeit dieses Mannes mit Ulrich, welche sie für eine rein zufällige halten mußte, da sie während ihres kurzen Verkehrs mit dem Letzteren nichts davon erfahren, daß ein Bruder von ihm in Amerika weile, und einer andern frappanten und vollkommenen mit einem irgendwo lebendig oder gemalt gesehenen Gesicht. Einer persönlichen Erinnerung war sie sich schon Ulrich gegenüber durchaus nicht bewußt geworden, weil damals an der alten Eiche der Schreck über ihre Verwundung durch den Hirschkäfer sie verhindert hatte, sich den Knaben auch in der Nähe genauer anzuschauen. Noch weniger aus dem Gedächtniß auftauchen konnte ihr jetzt das Schülergesicht Arnulf's, den sie bei jenem Waldabenteuer überhaupt kaum bemerkt hatte. Jetzt war ihre Röthe einer fast marmornen Blässe gewichen. In ihre Züge kehrte etwas zurück von jenem ernst entsagenden Ausdruck, welchen erst diese transatlantische Reise verscheucht hatte, mit dem guten Erfolg des Geschäfts, mit dem mannigfaltigen Naturgenuß, vor Allem aber mit der Beobachtung der so frisch als gewaltig pulsirenden Thatkraft, die sie hier in der Union im Zuge sah, mit allen Künsten und Kenntnissen der alten Kultur, aber ohne die tausendfachen Hemmungen und Vorurtheile ihrer europäischen Ruinen und Traditionen, einem so eigenartigen als menschenwürdigen Dasein das große neue Völkerhaus zu begründen.
Während der Graf und Hildegard an seinen Zügen vergebens herumräthselten, hatte Arnulf desto zweifelloser entdeckt, mit wem er hier zusammengetroffen. Zwar seine Erinnerung an Hildegard's Kindergesicht wäre für sich allein kaum deutlich genug gewesen, um es im Antlitz der Erwachsenen wiederzufinden. Doch seine Falkenaugen hatten die Zeichen, die des Bruders Brief so anschaulich geschildert, die Hirschkäfernärbchen am Saume der Stirn, aufglühen gesehen. So war ihm zur Gewißheit geworden, was er schon zu vermuthen gewagt, als er ihr Sohlengepräge bewundert und ausgemessen.
Die Erdbeerschüssel war verschwunden, der Kaffee getrunken; aber immer noch, seit der Erscheinung des Fremden, hatten Vater und Tochter, jedes in seine Gedanken vertieft, kein Wort gewechselt. Jetzt verlangte den Grafen nach einer Cigarre. Er ließ sich die Umhängetasche zureichen und öffnete dieselbe.
»O weh!« rief er dann ziemlich laut. »Das Papiertäschchen ist ganz durchweicht von der Nachbarschaft Deiner Strümpfe. Meine armen Havannas! Einen halben Dollar Gold per Stück! Schwammnaß! Werde mein Gelüste stillen müssen mit des Kellners zweifelhaftem Kraute.«
Schon langte er nach dem Drücker der Springfederglocke. Da stand neben ihm der Fremde und hielt ihm eine Cigarrentasche von Alligatorhaut geöffnet hin.
»Herr Landsmann, darf ich aushelfen mit einer nicht ganz übeln, und dafür,« setzte er mit einer Verbeugung vor Hildegard hinzu, »auf Erlaubnis des Fräuleins hoffen, auch zu thun, was ich mir sonst nicht gestattet hätte?«
»Ich nehme Ihre Freundlichkeit dankbar an,« versetzte der Graf, indem er sich eine große schwarzbraune Regalia von sorgfältigster Arbeit herauszog. »Ich bin der Gutsbesitzer Wallinger.«
Durch den Inkognitonamen ließ Arnulf sich nicht irre machen. Das Gut Wallingen war ihm wohl bekannt, auch hatte Ulrich's Brief den Ankauf desselben seitens des Grafen erwähnt. Doch schien es ihm räthlich, Vergeltung zu üben und auch seinerseits wenigstens halb anonym zu bleiben.
»Ich heiße Arnulf, bin Geolog, auch ein wenig Astronom, seit etlichen Jahren betheiligt an Bergwerksunternehmungen in Kalifornien und Nevada.«
»Herr Arnulf – meine Tochter Hildegard,« sagte vorstellend der Graf.
Jetzt erst schauten die Beiden einander groß an. Arnulf that es mit ruhiger, fast kritisch kühler Aufmerksamkeit; Hildegard noch immer mit der vergeblichen Frage an ihr Gedächtniß, wo sie dasselbe Gesicht schon gesehen, zugleich mit einer Korrektur ihres ersten Eindrucks. »Wie konnte ich ihn nur Ulrich ähnlich finden,« dachte sie; »er sieht ja ganz anders aus!«
Damit freilich schoß sie über die Wahrheit hinaus, da es den beiden Brüdern an einer gewissen Verwandtschaft ihrer Züge doch nicht ganz fehlte, wenn auch Ulrich mehr das Gesicht seines Vaters, Arnulf noch weit entschiedener das seiner Mutter geerbt hatte.
Uebrigens blieben bei dieser Schau die Herzen Beider völlig frei von irgendwelcher Vorspielregung der Verliebniß. Hildegard fand ihr Gegenüber sehr wohlaussehend; doch knüpfte sich daran auch nicht der leiseste Gedanke an ein Aufgeben ihres Vorsatzes, unvermählt zu bleiben. Sie freute sich nur auf die unterhaltenden und belehrenden Mittheilungen aus der Wissenschaft, aus den amerikanischen Erlebnissen des neuen Bekannten. Dabei schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß dieser Herr Arnulf ein Ersatz werden könne für den schon oft auf dieser Reise vermißten Professor Marpinger.
Der Denkart Arnulf's lag es allerdings nahe, Hildegard's Eigenschaften zu vergleichen mit den Forderungen, die er einst zu stellen gedachte bei der Wahl seiner Frau. Einige derselben glaubte er hier erfüllt zu finden, ja, eine der allerobersten sogar in ganz ausgezeichnetem Maße. Doch der stärkste seiner angeborenen Triebe war sein Familiengefühl. Dem Entstehen einer Neigung, die nicht verträglich war mit seiner schwärmerischen Verehrung des geliebten Bruders, standen in seinem Gewissen schwer überwindliche Hindernisse entgegen. Den ersten aufglimmenden Funken einer erotischen Leidenschaft, welche ihn zum Nebenbuhler Ulrich's gemacht hätte, würde er sich mit dem entrüsteten Verbote solchen Frevels wie mit einem Sturzbad von Eiswasser ausgegossen haben. Aber von der Gefahr solcher Entzündung durch Hildegard verspürte er nicht das Mindeste. Ja, er fing an zu bewundern; aber was diese Bewunderung leise flüsterte, das lautete nur: »Die soll Ulrich zur Frau bekommen, und wäre sie noch so katholisch.«
Die Cigarren waren angezündet. Das Lob, das der Graf ihrer Vortrefflichkeit zollte, eröffnete eine Unterhaltung, an der sich anfangs alle Drei gleichmäßig betheiligten, in heiterster Stimmung und mit jener unverhohlenen Freude an dem immerhin seltenen Genuß, in fernem Lande mit Heimatgenossen von gleicher Bildung in der Muttersprache zu plaudern. Bald aber spielte das Gespräch fast nur noch zwischen Arnulf und Hildegard, da deren Vater, die feinen Weihrauchwölkchen in sparsamen bläulichen Ringeln ausblasend, oder zu gründlichstem Kosten ihrer wunderbaren Winzigkeit langsam durch die Nase entlassend, sich dem Schwelgen in seiner Havanna so sehr hingab, daß er nur mit halber Aufmerksamkeit zuhörte, jeden etwa noch auftauchenden eigenen Gedanken als eine Störung empfand und ihn auf der Hälfte des Weges vom Hirn zur anders beschäftigten Zunge zum Ungeborenbleiben verurtheilte.
Das possierliche Treiben der Seelöwen vor ihnen wurde das erste Gesprächsthema der Beiden. Arnulf erklärte, was den Thieren an dieser Stelle die Furcht vor dem Menschen so gut wie ganz aberzogen habe.
»Wir haben also vor uns,« bemerkte Hildegard, »eine Art von Seehundsparadies.«
»Ganz recht,« versetzte Arnulf. »Doch wird auf die Länge das Paradies auch diesen Insassen schwerlich gut bekommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie hin, dort, nach dem höchsten, gegen siebenzig Fuß aufragenden Felsenkegel. Geben Sie Acht auf den feisten Burschen, der dort auf dem Absatz in halber Höhe verschnaufend ausruht. In einer Minute wird er weiter klettern. Richtig, schon thut er's. Den kenn' ich persönlich. Die Stammgäste von Cliffhouse nennen ihn den Falstaff. Er mißt seine zwölf Schuh von der Schnauze bis zum äußersten Zehenstrahl seiner Flossenfüße und muß allermindestens acht Centner wiegen. Dennoch macht er die Kletterpartie vom Wassersaum bis zum Gipfel sechs-, siebenmal täglich, und öfter. Dort oben ist nichts für ihn zu holen. Wozu also? Denke, Sie werden es bald merken. Warten wir ein Weilchen. – Nun ist er oben angelangt und keucht vernehmlich. Sobald er zu Athem gekommen, werden Sie seine Stimme hören. Ich glaube, wenn man die Zeitintervalle seiner Aufsteigungen mit dem Chronometer mäße und aufschriebe, so würde man finden, daß der Moment bis auf einen Sekundenbruchtheil feststeht, in dem er so genau wie ein Posaunist in der Oper mit seiner obligaten Baßnote einsetzt. Schon reckt er den Kopf und den Vorderleib in die Höhe. Jetzt kommt's. – Da! – Nun, was haben Sie herausgehört aus diesem auf eine Meile vernehmlichen, langgezogenen »Uuooh«, das einem Löwen keine Schande machen würde? Was drückt es deutlich aus?«
»Langeweile.«
»Vollkommen richtig. Er hat Muße in Uebermaß. Das Gekletter ist sein Zeitvertreib, und selbst dieser ist ihm schal geworden. Oben angelangt, sieht er, wie schon hunderte von Malen zuvor, die neugierigen Zuschauer auf diesem Altan, das Meeres- und Himmelseinerlei, und brüllt verdrossen in der Seehundsprache: ›Immer dasselbe, immer dasselbe!‹ um sich dann ärgerlich, wie eben jetzt, wieder hinunter zu wälzen. Selbst der Nahrungssorge ist er durch häufige Fütterung mit geringen Fischen großentheils überhoben. Was er aber, wenn auch schwerlich mit Bewußtsein, so doch mit der Empfindung einer drückenden Leere zumeist vermißt, das ist die Gefahr. Seine Stammgenossen außerhalb des Schutzes der Menschen sehen ihr Leben unaufhörlich bedroht, aber auch würzend ausgefüllt von der nothwendigen Wachsamkeit, den Kämpfen und Listen zur Selbsterhaltung. Was er dort gen Himmel brüllt, ist ein dunkles Vorgefühl, unrettbar erschlaffen, schwach und dumm werden zu müssen in solchem – Paradiese.«
Hildegard schaute betroffen auf, als Arnulf das zuerst von ihr angeschlagene Wort mit einigem Nachdruck und nicht ohne anklingende Ironie als Schlußpointe aussprach. Sie glaubte eine leise Anspielung auf die religiöse Bedeutung des Wortes herauszuhören. So mußte sie abermals an Marpinger denken. Sie spürte mit erster schwacher Witterung, daß von den Pfaden, welche der Professor sie geführt, die Richtung dieses Geistes weit abweichen dürfte.
»Sie meinen also,« frug sie nach kurzem Sinnen, »daß diesen Thieren die menschliche Wohlthat schaden werde?«
»Ist zum Theil schon erwiesen. Zuweilen wagt sich einer dieser Paradiesbewohner über den gevehmten Bezirk hinaus. Dann soll es vorkommen – doch habe ich das nur von Fischern erzählen gehört und kann es nicht verbürgen – daß er von den völlig wilden Seelöwen als halbcivilisirt erkannt und umgebracht werde. Erlegt aber werden solche Ausreißer fast immer, weil sie eben keinen Begriff haben von der Gefährlichkeit des Menschen und ihn ohne Furcht nahe kommen lassen.«
»Wie kann man aber wissen, daß die erlegten sich von hier verirrt hatten?«
»Sehr leicht. Das Kennzeichen will ich Ihnen augenscheinlich machen.«
Er suchte aus seiner stark mit Papieren gefüllten Brieftasche zwei Blätter mit Zeichnungen hervor und legte sie entfaltet auf den Tisch.
»Bitte, betrachten und vergleichen Sie aufmerksam diese von mir nach sorgfältiger Messung in einem Zehntel natürlicher Größe ausgeführten Abbildungen. Dies erste Blatt zeigt hier den rechten vorderen Flossenfuß eines verirrten Cliffhouse-Seelöwen, welcher halbwegs von hier nach Santa Cruz geschossen wurde, daneben dasselbe Glied eines wilden von derselben Spezies; dies zweite Blatt von denselben Gliedern die von der Haut und den Muskeln befreiten Gerippe. Gewahren Sie den Unterschied?«
»Ich müßte ja blind sein, um ihn zu verkennen. Die Tatze des wilden erinnert mehr an eine Fischflosse, die des halb zahmen mehr an den Fuß eines Landthiers. An jener sind die Zehen mehr verwachsen und fast gar nicht hervorragend, die Krallen spitzer, mehr anliegend, mehr versteckt in der Haut; an dieser die Zehenknochen unter der aufgewölbten Haut in ihrem ganzen Verlauf deutlich zu erkennen, wie fünf eng zusammengelegte ungetrennte Finger; die fünf Spitzen stecken weiter heraus und die Krallen sind breiter, Fingernägeln ähnlicher. An der Zeichnung der Gerippe sieht man das noch deutlicher. Die Knochen im Fuße des wilden sind dünner, grätenartiger, die Gelenke dazwischen weniger scharf abgesetzt. Der Unterschied ist handgreiflich.«
»Bravissima! Sie blicken scharf. Ja, handgreiflich. Mit diesem Wort haben Sie mir die allereigentlichste, treffendste Bezeichnung des Unterschiedes eingegeben. Eine erste kurze Station der sehr weiten Reise vom ererbten Schwimmfuß zur Greifhand sehen Sie zurückgelegt von diesem Gliede eines verunglückten Auswanderers aus dem Seelöwenparadiese bei Cliffhouse. Wie diese Umgestaltung erworben wurde, das hat Ihnen der Falstaff dort vor Augen geführt. Gleich ihm sind der Urgroßvater, Großvater und Vater des erschossenen Ausreißers, deren Gemahlinnen und schließlich auch er selbst auf den Felskegeln vor uns herumgeklettert. Dies Klettern hat die Stärkung und Umbildung ihrer Gliedmaßen bewirkt, welche sie dann zu beständiger Steigerung vererbten. Dürfte diese Seelöwengemeinde ihr geschütztes Treiben hieselbst ein Jahrhundert oder zwei fortsetzen, so würde dadurch zuletzt eine ganz neue, mehr landlebige Thierart erzogen werden. Sie würden ein Stück Weges nach dahin zurückkehren, woher sie gekommen sind, bevor sie Seehunde wurden.«
»Was …« rief Hildegard langgedehnt, indem sie aufsprang, »was fabeln Sie da? Sie meinen doch nicht …«
Sie stockte und schaute ihn an, erst vorwurfsvoll verwundert über den mißtönig eingeworfenen frivolen Scherz, dann erblassend und mit dem Ausdruck des Entsetzens, als er ganz ernsthaft blieb und nur seinerseits erstaunt erschien über ihren Schreck.
»Was ist Ihnen, Fräulein?« frug er theilnehmend.
»Was hast Du, Kind?« frug auch der Graf, den die Betrachtung der Zeichnungen und das an sie geknüpfte Gespräch vom Halbschlummer seiner Rauchandacht geweckt hatten, ohne indeß ihn im mindesten aufzuregen.
Hildegard setzte sich wieder. Mit erzwungenem Lächeln, und die Aufregung, die sie verbergen wollte, erst recht verrathend durch das vergebliche Bemühen, zurückzukehren zur unbefangen heiteren Tonart der bisherigen Unterhaltung, gab sie zur Antwort:
»Ich habe mich verblüffen lassen. Ich nahm Ihre Andeutung, daß die Seehunde etwa vom Kameel abstammen, für Ernst, statt für eine groteske Münchhausiade. Ihren, vielleicht an nicht ganz geeigneter Stelle angebrachten Witz hielt ich für eine Bombe, welche die ganze Schöpfung in die Luft sprengen solle.«
»Ich habe ganz und gar nicht gewitzelt, Fräulein!« entgegnete Arnulf. »Es unterliegt für die Wissenschaft keinem Zweifel, daß die Säugethiere des Meeres, unter ihnen sogar der Walfisch, von Landthieren herstammen, und diese Seelöwen, wenn auch nicht geraden Weges vom Kameel, so doch vermutlich von einem bärenartigen Wesen, welches, wie der heutige Eisbär, erst ein halbes Wasserleben führte, bevor es sich im Lauf unzähliger Generationen dem feuchten Element fast ausschließlich anpaßte. Eben so gewiß freilich ist es, daß die Vorfahren der meisten Festlandsbewohner aus dem Meer an's Ufer gestiegen sind. Jede Bildung, jedes Glied ist nur allmälig erworben worden durch Arbeit. In Ihrer eigenen Hand schauen sie das höchst vollendete Denkmal solcher Arbeit einer unermeßlich langen Ahnenreihe verschiedener Wesen während ungezählter Jahresmillionen.«
»Habe mir's immer gedacht,« warf der Graf ein, »daß die Welt etwas älter sein müsse, als die sechs- oder siebentausend Jahre, welche die Bibel ihr zugesteht.«
»Sie sind ein fürchterlicher Mensch!« rief Hildegard. Dann stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
Ihr war wie Dem, der zum ersten Mal ein starkes Erdbeben erlebt und das in seinen Vorstellungen unerschütterlich Feste, den Boden, unter sich stoßen und wirbeln fühlt, zu Rissen aufklaffen und Wogen schlagen sieht, wie die sturmbewegte Meeresfläche. Ihr hatte wirklich eine Sprengbombe in die Schöpfung eingeschlagen.
Vor ihren geschlossenen Augen entfaltete sich die Vision einer bisher nachtbedeckt unsichtbaren Landschaft, die nun plötzlich schmerzhaft blendend beleuchtet wurde von einem Strahlenkegel. Dieser ging aus vom runden Glase einer Zauberlaterne, und leuchtete, immer breiter werdend, wie ein ungeheurer Kometenschweif, bis hoch hinauf in den Himmel. Der die Zauberlaterne hielt, war Arnulf. Den irdischen Hintergrund der Landschaft bildete das Lindenwäldchen bei Sebaldsheim. In einer wolkenumrahmten Himmelsöffnung über den Lindenwipfeln, von Engelsköpfen wie auf Rafael's Sixtinischer Madonna umgeben, saß der uralte Weltkünstler, eben eine Menschenhand meißelnd. Auf dem Rain vor dem blühenden Kleefeld im Vordergrunde stand Marpinger und hielt die Lupe über das Fallschirmsämchen. Jetzt wurde sein Gesicht aschbleich. Denn voll auf ihn warf Arnulf den Strahlenkegel und zugleich auf jene scheinbare Himmelsöffnung. Da verrieth sich diese als ein vom Professor selbst gepinseltes Kartonbild, das er auf dem Kopfe trug und für Hildegard in den Himmel hinaufgetäuscht hatte. Rauchumqualmt versank er im Boden zusammt seinem Bilde. Ein tiefer dröhnender Baßton durchhallte die Luft wie Posaunenruf des jüngsten Gerichts.
Aber nein! Der Baßton klang hier in der Wirklichkeit und machte die Vision erlöschen. Es war wieder das langgezogene »Uoh« eines brüllenden Seelöwen.
Sie blickte auf. Der Vater sah sie verwundert an, Arnulf mit ernster, forschender Theilnahme.
Sie erhob sich und trat an die Brüstung des Altans. Der Himmel blaute so klar wie zuvor. Breiter und prächtiger als zuvor glitzerte westwärts bis zum Horizonte des Meeres der Spiegelstreif der Sonne, die noch reichlich eine Stunde vom Untergang entfernt war. Ihr aber legte sich dämpfend ein grauer Schleier über die Schönheit der Welt.
Dieser Mann hatte sie widerstandslos emporgerissen in eisig kalte Schwindelhöhen. Da fühlte sie das Herzblut erstarren. Unten aber sahen ihre Augen, fürchterlich geschärft, die feste Ordnung der Gottesgeschöpfe aufgelöst in eine wilde Wechselmaskerade, in ein stillstandloses Verwandlungsgewühl um neue Glieder kämpfender Bestien, und ihre eigene Hand war nicht mehr das Meisterwerk einer unbegreiflich hohen, vorberechnenden Wunderkunst, sondern auch nur Bestienerbschaft.
»Fort, fort!« dachte sie, mit der Hand über Schläfen und Stirn streichend. Aber das Tollhausgewimmel von aufdringlichen Fratzen wollte nicht weichen. Da krochen Fische aus der Spülwelle zum Gestade hinauf und ihre Flossen reckten sich aus zu Eidechsbeinen. Da sprangen aus Baumwipfeln garstige Meerkatzen herunter, ergriffen abgebrochene Aeste als Stecken und schritten aufrecht. Ihre langen Ringelschwänze vertauschten sie mit Frackschößen und Seidenschleppen. Von den Pfoten schüttelten sie die abgeriebenen Haare und steckten sich Diamantringe an fleischfarbige Menschenfinger. Sie riß die Augen weit auf, um die sonnige Meeresfläche in sich hineinscheinen und diese quälenden Halluzinationen überblendend auslöschen zu lassen. Aber vergebens. Immer verworrener und wahnwitziger, wie das verfolgte Gethier und die Meute des wilden Jägers, wurde der Hexensabbath dieses wachen Foltertraumes.
Endlich, endlich erblaßte, verschwand er; denn dort, nordwestwärts, am äußersten Saume des Gesichtskreises, fesselte jetzt etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war so winzig, so schwach unterschieden von der Farbe des Himmelsrandes dahinter, daß sie, bei gespanntester Anstrengung, weiter nichts zu sein, als nur Sehkraft, doch einige Zeit verbrauchte, um ihre Augen zur höchsten Schärfe einzustellen und so die Ueberzeugung zu gewinnen, daß sie nicht wieder nur Eingebildetes, sondern wirklich Vorhandenes schaue.
Nun sagte sie, zwar vollkommen ruhig, aber in einer sehr markirt neuen, von der ihres letzten vorwurfsvollen Ausrufs gänzlich verschiedenen Tonart, die für Arnulf so deutlich als gebieterisch die Forderung eines Themawechsels ausdrückte:
»Bitte, Herr Arnulf, treten Sie her. Sehen auch Sie dort die Horizontlinie des Ozeans wie gezähnelt? Ich erkenne da ein winziges Zäckchen und zwei flache Auswölbungen; – nein, dort, weiter nördlich, ist noch ein viertes feines Spitzchen schwach angedeutet. Nur durch einen leisen Stich in's Violette unterscheiden sich diese Gebilde vom blauen Himmelshintergrund. Das ist wohl eine ferne Inselgruppe?«
Arnulf gewahrte sofort und mühelos, was er schon öfter gesehen und von ihr völlig zutreffend bezeichnet hörte. Sogleich aber machte er eine Wendung halb rechts und maß Hildegard mit einem staunenden Blick. Unverhohlene Bewunderung leuchtete aus seinen Zügen.
»Was starren Sie mich an, statt in die Ferne zu schauen und mir Antwort zu geben?«
»Fräulein Hildegard,« rief er mit einer Wärme, welche sie diesem grausamen Weltanatomen nie zugetraut hatte, »Sie sind ein vor vielen Hunderttausenden hochbegnadetes Menschenkind.«
»Warum denn?«
»Die kleine Inselgruppe der Farallones liegt für Cliffhouse hart an der äußersten Grenze der Sichtbarkeit. Selbst das Fernrohr zeigt sie nur bei vollkommenster Durchsichtigkeit der Luft. Wer mit bloßem Auge eine Spur wahrnimmt von der höchsten Insel, dem Jäckchen, wie Sie dieselbe richtig bezeichneten, der wird berühmt als luchsäugig. Sie sehen drei und schildern richtig ihre Formen. Ja, Sie gewahren sogar dort weiter nordwärts den vereinzelten Noondayrock, und mich hält man für einen Aufschneider, weil ich behaupte, ihn zweimal, wie heute zum dritten Mal, erblickt zu haben.«
»Also weil ich auch kann, was Sie können, nahmen Sie den Mund so voll zu meinem Preise! Schmeckt das nicht stark nach Eitelkeit und Selbstverherrlichung?«
»Mehr nach Dankbarkeit, mein' ich, für ein Segensgeschenk, das Niemand sich erwerben kann. Uebrigens mach' ich kein Hehl daraus, daß ich mich wirklich für einen der Glücklichsten von den zwölfhundert Millionen Menschen auf Erden halte.«
»Beneidenswerther! Wenn Sie das fühlen, so sind Sie's!« versetzte Hildegard, nicht ohne einen Anflug von Ironie. Für sich aber dachte sie: »Unbegreiflich von Einem, dem die Welt so gottleer geworden ist.« Dann fügte sie, vollends spöttelnd, hinzu: »Es scheint, Sie wollen auch mich emporschrauben zu gleicher Höhe des Glückgefühles.«
»Wenigstens der Dankbarkeit,« entgegnete Arnulf; »denn Sie scheinen noch gar nicht zu wissen, welches wunderseltene Kleinod Sie besitzen in diesen Ihren Augen, die sich messen können mit den meinigen. Denn erfahren Sie, daß ich in der Plejadengruppe, welche die meisten Menschen nur als verwaschenen Nebelfleck mit unsicher aufblitzenden Lichtpunkten erblicken, statt der sechs Sterne, die mittelgute, und der sieben, die vorzüglich gute Augen zu erkennen im Stande sind, deren zehn, bei allerbester Luft sogar elf nebst einem ab und zu nur eben blinkenden zwölften unterscheide, und daß ich bisher nur Einem begegnet bin, der das auch konnte, dem Astronomen Heis. Sie sind Nummer zwei; denn nach der eben abgelegten Probe müssen Sie das auch können. Glauben Sie mir, der Vorzug guter Augen ist ein unschätzbar großer. Man erlebt dreimal so viel und befindet sich in schönerer Welt. Schärfer sehen ist schärfer erinnern, schärfer vorstellen, schärfer denken, klarer und bestimmter wollen, weitsichtiger handeln, sicherer siegen.«
»Sie mögen Recht haben. Auch bekenn' ich, daß ich mich mit meinem Loose leidlich zufrieden fühle. – Aber jetzt, bevor wir aufbrechen, wozu Papa zu rüsten scheint, nachdem er widerstrebend das letzte kurze Stümpfchen Ihrer Cigarre fortgelegt, jetzt nur noch eine Frage. Was trieben Sie mit Ihrem Elfenbeinmaßstab im Ufersande an der Stelle meines unfreiwilligen Fußbades?«
Aruulf schwieg eine Weile wie verlegen.
»Um Ihnen das zu erklären,« antwortete er endlich, »müßt' ich etwas weit ausholen. Auch wüßt' ich es nicht zu leisten, ohne nochmals die Region unseres vorigen Gespräches zu streifen, was Ihnen schwerlich willkommen wäre. Denn ich glaube den Ton, in dem Sie nach einer Pause stummer Erregtheit das neue Thema von den Farallones anschlugen, nicht unrichtig ausgelegt zu haben als einen Wink, jede Wiederaufnahme des alten zu vermeiden. Erlauben Sie mir also, die Antwort zu vertagen auf ein anderes Mal.«
Seltsamer Widerspruch! Hildegard freute sich seiner Weigerung, weil sie feinsinniges Urtheil und edles Zartgefühl bewies, und empfand es dennoch verdrießlich, daß ihre Neugier ungestillt bleiben sollte. Sie hatte wirklich Angst vor seiner umstürzenden Verwandlungslehre, und spürte dennoch ein Gelüst nach ihren erschreckenden Enthüllungen und zumal ein brennendes Verlangen nach der von fern geahnten Lösung des Räthsels, welchen Zusammenhang diese fürchterliche und dennoch geheimnißvoll reizende Lehre haben könne mit der Messung ihrer Fußspuren.
»Ein andermal?« erwiederte sie bedauernd und etwas enttäuscht. »Wer weiß, ob wir einander jemals wieder begegnen. Wir treten morgen die Heimfahrt an, mit einem Umweg nach den Riesenbäumen in Mariposa County und dem berühmten Yosemitethal.«
»Ich bin auch fertig mit meinen amerikanischen Unternehmungen und will nach Europa zurück. Um dem Stillen Meer meinen Abschiedsbesuch zu machen bin ich heute nochmals hergefahren an diese Stätte zu grandioser Aussicht. Wenn Sie zwei bis drei Tage für San Franzisko zulegen wollten, könnten wir die ganze Reise nach New-York und über den Ozean zusammen zurücklegen.«
»Das ist ja prächtig!« rief der Graf, der den letzten Theil der Unterhaltung aufmerksam mit angehört hatte. »Sie sind gewiß auch Schachspieler?«
»Ein sehr eifriger.«
»Ganz vortrefflich! Da wird uns manche lange Stunde der Seefahrt im Rauchzimmer des Dampfers schnell vorüberfliegen. Sagen Sie, Herr Arnulf, sind Ihre Cigarren hier käuflich?«
»Nicht in den Läden; kann Ihnen aber ein paar Hundert besorgen.«
»Abgemacht also. Nun aber fort. Für den heutigen Abend seien Sie mein Gast im Lickhouse Hotel. Darf ich Ihnen einen Platz in unserem Wagen anbieten?«
»Bedauere, danken zu müssen. Mein chinesischer Diener versteht nichts vom Fahren. Mein mexikanischer Hengst gehorcht nur mir selbst. Muß das prächtige Thier nun leider verkaufen – eins der letzten Geschäfte hier, zu denen ich eben noch zwei bis drei Tage nöthig habe. – Aber warten Sie mit dem Aufbruch noch eine Viertelstunde. Mit dem Gedanken, daß hinter einer viele hundert Meilen hohen Wölbung von Wasser unser altes Europa bald wieder das erste Morgengrauen im Osten erblickt, hier vom Altan die Sonne am westlichen Saume des Pacific zu den Japanern und Chinesen hinuntersinken zu sehen, das ist ein Schauspiel, so tief anregend und so prachtvoll, daß Sie nicht versäumen dürfen, es mitzunehmen als eine schöne und unauslöschliche Lebenserinnerung.«
Sie blieben also noch. Bald sahen sie die breite goldene Strahlenbrücke und die rasch von tiefem Orange zu Kohlenroth verglimmende Sonnenkugel einander berühren. Weit steiler und rascher tauchend als in unseren Breiten, war nun der gewaltige Lichtball bis zur Hälfte eingesunken und was von ihm der Flut noch entragte, das glich der glühenden Kuppel eines riesigen Pantheons. Jetzt erlosch auch der letzte Sternpunkt. Der purpurne Meeressaum und die feurigen Schleierstreifen des Abendnebels schmolzen ununterscheidbar zusammen in unbeschreiblicher Flammenpracht.
»Geht es auch Ihnen wie mir?« fragte Arnulf die neben ihm an der Brüstung lehnende Hildegard. »Seit den Schuljahren ist es mir so schlicht geläufig, daß unser Planet, getragen von der geheimnißvollen Kraft seiner Mutter, der Sonnenkugel, im Aether des Weltraums schwebt. Aber wenn ich, wie hier, von hoher Klippe hinausschaue in's weite Meer und denke, daß dieser ungeheuere Ball mit diesen wogenden Wassermassen regelvoll seinen Jahreszirkel zieht um den leuchtenden Lebensquell, und in genauerem Gleichmaß als die feinste Uhr seine Tagesdrehung vollbringt, dann ergreift mich immer noch mit ungeschwächter Gewalt ein Gefühl höchsten Erstaunens und tiefster Andacht.«
»Andacht? – Sie?«
»Ja, Fräulein Hildegard, auch ich kann andächtig sein. Geht uns die Sonne nicht immer noch auf und unter, obgleich wir wissen, daß nur die Erde sich dreht? Wer die Welt nicht erschaffen, sondern geworden weiß, dem ist sie nur um so mehr eine göttliche.«