Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Die Dukatendame.

 

Durch Euch nur leb' ich. Nehmt mich hin
Und laßt mich heißen, was ich bin.

 

So meinte der junge Geistliche endgültig verzichtend mit sich abgeschlossen zu haben.

Eben begann er nochmals den Brief seines Bruders zu überlesen, als ein schüchtern schwacher und nur einmaliger Aufschlag des Klopfers an der Hausthür hörbar wurde.

Das Fenster öffnend und hinunterschauend, sah er gerade noch den Schleppenzipfel eines spitzenumfransten und mit Schmelzperlen gestickten Kleides von schwarzem Kaschmir von der obersten Treppenstufe in den Flur hinein verschwinden.

Er entsann sich, in solchem Anzug eine dicht verschleierte Dame schon mehrmals gesehen zu haben, und zwar in der Kirche, von der Kanzel herab. Nach erfolglosen Erkundigungen, wer sie sei, war es ihm, kurz vor Ausbruch seiner Krankheit, bei ihrer dritten und letzten Erscheinung in derselben, der Kanzel nahen Kirchenbank, nur mit Anstrengung gelungen, sich von den aufsteigenden Vermuthungen nicht verwirren zu lassen in seiner Predigt. War die eben in's Haus getretene Besucherin wirklich dieselbe, so stand ihm endlich die Befriedigung seiner Neugier unmittelbar bevor.

Schnell vertauschte er im Schlafgemach nebenan seine Morgenjoppe von violettem Baumwollensammet mit dem kurzschößigen, für einen Geistlichen fast etwas zu elegant geschnittenen schwarzen Tuchrock, strich sich, mit der Bürste vor den Spiegel tretend, das etwas verzauste braune Kräuselhaar zurecht und stand dann, in's Arbeitszimmer zurückgekehrt, einige Augenblicke der Thür gegenüber des Besuches gewärtig.

Als er aber unten die Thür zum Amtszimmer für die Kirchenbuchführung öffnen und schließen hörte und dann Alles still blieb, vermuthete er, etwas enttäuscht, eine der Meldungen, die vorerst nur der Domsekretär zu buchen pflegte, eine Todesanzeige oder Geburtsmeldung mit Taufbestellung, und setzte sich wieder zum Lesen.

Bald aber vernahm er auf der Treppe den wohlbekannten Schritt des Küsters.

Der erste Blick auf den in der Thür Erscheinenden verrieth, daß er Ungewöhnliches mitzutheilen habe. Zwar ohne Hast trat er ein, im glattrasirten Gesicht jene erquälte Maskenstarrheit, mit welcher Leichenbitter und Kirchendiener das Würdebewußtsein und den heiligen Ernst ihres Berufes zur Schau zu tragen gewohnt sind, aber unter den buschigen, ohne Lücke zusammenstoßenden Brauen hervor stierten die wasserblauen Augen erwartungsvoll und unverwandt lauernd auf den jungen Pastor. Deutlicher noch offenbart wurde diesem die hochgradige Spannung des Ueberbringers auf die Aufnahme seiner Meldung von dessen Ohren. Das Zucken dieser wider Willen ehrlichen Verräther telegraphirte: »Sei auf Deiner Hut! Unser Inhaber hofft ein Geheimniß auszuspioniren.«

Sebald versuchte also seine Spannung zu bemänteln.

»Was gibt's denn, Spitzer?« frug er über den Brief hinweg, als verdrösse ihn die Störung und im Ton müder Gleichgültigkeit. Dann gab er sich den Schein, noch einige Zeilen weiter zu lesen.

Sein Versteckspiel verfehlte die beabsichtigte Wirkung, und er hätte das voraus wissen können. Schon von der Schwelle hatte der Küster wahrgenommen, daß er sich umgekleidet und sein Haar geordnet. Das bewies ihm untrüglich, daß Sebald die Dame kommen gesehen und Gleichgültigkeit heuchelte, um seine ungeduldige Erwartung zu verbergen. Nur bestärkt wurde dadurch Spitzer's falscher Verdacht, es handle sich um eine abgekartete Heimlichkeit, deren Enthüllung seinen Plänen förderlich werden könne.

Innerlich hohnlachend über die Kriegslist, deren Gelingen der Herr Pastor selbst vereitelt durch ersichtliche Vorbereitung auf Damenbesuch, aber ohne eine Miene zu verziehen, gab er Antwort:

»Hochwohlehrwürden, die Dukatendame.«

Ulrich verstand die lakonische Meldung sehr gut. Sie bestätigte, was er beim Gewahren der gestickten Schleppe vermuthet. Dennoch maß er, den Brief beiseite legend, den Küster mit einem Blick, der zu fragen schien, ob er bei Sinnen sei.

Unbeirrte Gelassenheit nur mit den Ohren lügestrafend, die vor- und zurückklappend gleich Falterflügeln seine steigende Spannung bekundeten, fragte Spitzer:

»Haben der Herr Pastor vergessen, daß wir kurz vor Ihrer Krankheit drei Sonntage hinter einander einen funkelnagelneuen österreichischen Randdukaten im Klingsäckel fanden?«

»Ja, ja, dessen entsinne ich mich.«

»Und daß jedesmal eine dicht verschleierte Dame in reich verziertem schwarzem Kaschmirkleide in der vordersten Bank dem Gottesdienst beigewohnt hatte?«

»Sie vermuthen also, daß diese Dame die Dukaten hineingeworfen?«

»Vermuthen?« entgegnete der Küster mit einem von Bosheit nicht ganz freien Lächeln. »Nein, dessen bin ich völlig sicher. Herr Pastor wissen ja, daß ich mit meinen sonderbaren Ohren ziemlich gut höre, und Gold ist am Klang von Kupfer oder Nickel sehr leicht zu unterscheiden. Dieselbe Dame in demselben Kleide wartet unten und wünscht den Herrn Pastor zu sprechen. Der Domsekretär schickt mich herauf, anzufragen, ob sich Dieselben schon wohl genug fühlen für Damenbesuch.«

»Was ist ihr Anliegen?«

»Das will sie nur dem Herrn Pastor selbst sagen. Auch nur so viel aus ihr herauszubringen, hat dem Herrn Domsekretär Mühe gekostet. Sie blieb eine ganze Weile sprachlos vor Verlegenheit.«

»Ist sie jung?»

»Wahrscheinlich noch sehr jung nach ihrer Stimme zu schließen und der raschen, leisetretenden Gangart, mit der ich sie jedesmal aus der Kirche forteilen sah, sobald nach Schluß der Predigt die Thüren geöffnet wurden. Vom Gesicht ist durch den Schleier wenig zu sehen.«

Sebald war sich inzwischen bewußt geworden, daß er dem Küster eine Blöße gegeben mit dem Wechsel seines Anzuges. Es schien ihm gerathen, den unverkennbaren Verdacht des ränkevollen Schleichers zu zerstreuen. So sah er nach der Uhr und sagte:

»Es ist die Stunde, in der mich meine Mutter zu besuchen pflegt. In ihrem Beisein will ich die junge Dame empfangen. Ersuchen Sie diese, unten im Konfirmandenzimmer zu verziehen. Dann springen Sie flink hinüber nach dem Pfarrwittwenhause in der Dohlengasse, meiner Mutter zu sagen, weshalb es mir sehr erwünscht wäre, wenn sie sogleich käme. Nachher geleiten Sie die Fremde herauf, sobald ich klingle.«

Der Küster entfernte sich, auf der Treppe und unterwegs nach der nahen Dohlengasse einer andern Erklärung des auffälligen Besuches nachgrübelnd. Zu seinem Bedauern fiel sie weit weniger anzüglich aus, als die bisher geargwöhnte. Höchstens etwa ehrbare Heirathsabsichten und eine, wenn auch ungewöhnliche, so doch unverwerfliche Brautprobe ließ die Berufung der Mutter allenfalls noch denkbar, während er bereits gehofft hatte, für sein Ränkespiel gegen den verhaßten Pfarrer bald einen Trumpf mehr in die Hand zu bekommen.

Kaum zehn Minuten später umarmte den Sohn eine stattliche Frau mit schneeweißem Haar, aber frischem Gesicht und großen, leuchtenden Augen, in einer Kleidung, so sorgfältig sauber und geschmackvoll, als schlicht harmonirend mit ihren sechsundfünfzig Jahren, umflossen von jener milden Schönheit des Alters, welche nur in einem wohl durchkämpften Leben hinzu erworben werden kann zum Geschenk der Natur und, indem sie Kunde gibt von voll ersiegtem Seelenfrieden, weit herzgewinnender entzückt als die vollendetsten Reize blühender Jugend.

»Du siehst ja wieder prächtig aus, mein lieber Uli,« begann sie, »ja, merkwürdig zum Bessern verwandelt sogar seit gestern. Und Mannheimer, der mich eben besucht, schilderte Dich zwar als genesen, aber doch noch als etwas bläßlich. Deine Wangen röthen sich und Deine Augen« – sie unterbrach sich, um ihm zwei Küsse auf dieselben zu drücken – »Deine Augen haben ihren alten Glanz wieder gewonnen. Oder ist es nur Nachwirkung des Auftritts mit Mannheimer? Ja, ich begreif' es, wie sich in Dir die Gewöhnung von Jahrhunderten aufbäumen muß gegen des Arztes Auszugsbefehl. Wirst aber schließlich doch gehorchen müssen.«

»Nie, Mutter, nie! Aber jetzt …«

»Jetzt zur Sache, meinst Du. O Du Schelm! Jetzt erst gewahr' ich's, daß Du den bequemen Morgenrock abgethan und Dich schön gemacht hast. Nicht vom Streit mit dem Arzt, von der Erwartung des geheimnißvollen Besuches färben sich Deine Wangen und blitzen Deine Augen. Darf ich trotz der katholischen Stammcousine doch vielleicht noch hoffen auf Großmutterfreuden? Etwas der Art schien mir der Heimtücker von Küster andeuten zu wollen mit der verkniffenen Ausrichtung Deines Rufes. Was ist's mit der Dukatendame, wie er sie nannte? Wer ist sie?«

»Ja, liebe Mutter,« entgegnete Sebald, dem die Erwähnung der Stammcousine ein tiefes Roth in's Antlitz getrieben hatte, »von der unten harrenden Besucherin weiß ich selbst nichts mehr, als was Dir Spitzer schon erzählt zu haben scheint. Welchen Verdacht ich abschneiden will durch Deine Gegenwart, kannst Du Dir denken. Vermuthlich hat die Dame irgend ein heikles kirchliches Anliegen, das nur unter vier Augen mitzutheilen ist. Geh' also – denn länger darf ich sie nicht warten lassen – in mein Schlafzimmer, nimm zu Deiner Unterhaltung diesen Brief Arnulf's mit, der Dir Freude machen wird, und erlaube mir, die Thür in's Schloß zu drücken.«

Als die Mutter verschwunden, zog er die Klingelschnur und stellte seinem Lehnstuhl rechts gegenüber einen andern Sessel bereit; denn ein Sopha war in seinem Studirzimmer nicht vorhanden.

Nur mit angelegter hohler Hand vermochte er außer den Tritten des voraufsteigenden Küsters ein leises Kleidrascheln und zuletzt, nahe der Thür, einen es begleitenden überaus feinen Klirrton zu erlauschen, der ihm sogleich die mit gläsernen Röhrenperlen bestickte Schleppe in die Vorstellung rief.

»Hier, Madame!« hörte er draußen den Küster sagen und dann wieder hinuntergehen. Aber selbst als sich unten die Thür der Amtsstube hinter Spitzer geschlossen, blieb es vor der Schwelle hier oben immer noch verwunderlich still. Schon wollte Sebald der Besucherin öffnend entgegengehen, als einem sehr deutlich hörbaren tiefen Athemzuge, wie man ihn nach endlich gefaßtem schwerem Entschlusse zu thun pflegt, ein schüchtern zartes Anklopfen folgte.

Auf sein »Herein!« öffnete sich die Thür; aber die Dame, eine mittelgroße Gestalt, die man nicht gerade voll, aber auch nicht schlank nennen, sondern eher als künftige Fülle in Aussicht stellend bezeichnen durfte, blieb mit niedergebeugtem Kopf noch auf der Schwelle stehen und hielt sich, sehr überflüssiger Weise, die behandschuhte zierliche Rechte wie schützend vor das Gesicht, von dem der dichte schwarze Schleier ohnehin kaum den Umriß durchschimmern ließ.

»Was werden Sie von mir denken!« sagte sie, in dieser Haltung verharrend und in einem Ton der Angst, der an's Weinerliche streifte, aber auch mit dieser Entstellung den anmuthenden Wohllaut einer jugendlichen Mädchenstimme nicht ganz unvernehmbar machte.

Mit weltlichen und selbst eiteln Regungen hatte Sebald sie erwartet. Nun schämte er sich dessen. Vor dem Mitgefühl, das dieser schamhaft flehende Ton erweckte, sank alles Einzelmenschliche von seiner Seele hinweg. Das durch so lange Vererbung in ihm zu seltener Stärke gesteigerte Berufsgewissen war wieder alleinherrschend, der jugendliche, eben noch mit Heirathsgedanken wenigstens kämpfende Wittwer auf einen Schlag zurückverwandelt in den selbstvergessenen und geschlechtslosen Beichtiger.

»Bitte, Fräulein, treten Sie ein und nehmen Sie Platz,« begann er, sie zum Sessel geleitend. »Was es auch sei, das Sie herführt, sagen Sie's heraus ohne Bangen und Scheu. Sehen Sie in mir nicht den für einen Hauptpastor an der Sebalduskirche und Frauenseelsorger immerhin noch einigermaßen jungen Mann, sondern nur den Diener Gottes, den die Weihe seines Amtes befähigt und verbindet, für jeden Rath und Trost Begehrenden nichts weiter zu sein, als das unpersönliche Gefäß der überlieferten und in gleichem Schritt mit dem Menschengeschlecht weiter gewachsenen Heilslehre, in welcher für jegliche Noth und jegliches Leid der lindernde Balsam, für jede Verirrung die rechte Wegweisung, für jeden Pflichtenzweifel die Klärung durch ein Gebot offenbarter Weisheit zu finden ist.«

»Herr von Sebald …«

»Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche. Wir stammen zwar aus altem Geschlechte; selbst von unseren regierenden Fürsten können wenige ihren Stammbaum mit gleicher Sicherheit so weit rückwärts beurkunden, und Sie scheinen davon gehört zu haben; aber wir haben als Geistliche die Adelsbezeichnung seit mehr denn vierthalbhundert Jahren abgelegt. – Wollen Sie nun die Güte haben, Ihr Anliegen mitzutheilen?«

Sie zögerte lange, mehrmals tief aufathmend. Dann wiederholte sie die Anrede mit der verlangten Aenderung, machte abermals eine beträchtliche Verlegenheitspause und frug dann hastig:

»Wollen Sie mich unterrichten?«

»Worin, Fräulein?« versetzte Sebald, nicht wenig überrascht.

»In der Religion, wie Sie sie predigen.«

»Sie entziehen mir zwar Ihr Gesicht; aber ich werde mich keinesfalls beträchtlich irren, wenn ich Ihr Alter auf etwa zwanzig Jahre schätze.«

»Neunzehn,« flüsterte sie.

»Da müssen Sie doch längst konfirmirt sein!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht? Wie ist das gekommen?«

»Sehr einfach. Ich bin Jüdin. Aber ich will mich taufen lassen. Wollen Sie das thun und mich zuvor unterrichten?«

Auf diese höchst unerwartete Mittheilung und Frage schwieg Sebald geraume Weile. Er mußte nicht nur erst seiner Ueberraschung Herr werden, sondern auch nachdenken, um sich die betreffenden Gesetzesbestimmungen in's Gedächtniß zu rufen; denn dieser Fall war ihm während seiner Amtsführung noch nicht vorgekommen.

»Wollen Sie?« wiederholte die junge Dame.

»Ich muß es, sobald ich es darf,« gab er endlich zur Antwort.

»Wer kann es Ihnen verbieten?«

»Nach dem Gesetz Ihre Eltern, so lange Sie noch nicht mündig sind. Wenn Sie nach erreichter Volljährigkeit auf Ihrem Verlangen bestehen sollten, dann würde ich verpflichtet sein, es zu erfüllen auch ohne die Zustimmung des Vaters oder Vormunds. Doch würde ich, im Fall der Verweigerung dieser Zustimmung, zuvor ernstlich abmahnen und sehr bedauern, wenn das erfolglos bliebe.«

»Wann werde ich mündig?« frug sie rasch und schon etwas dreister.

»Nach hiesigem Recht mit dem vollendeten einundzwanzigsten Lebensjahr, also in ungefähr zwei Jahren.«

»Viel zu spät!« seufzte sie.

Rasch aufstehend, als wolle sie schon wieder gehen, frug sie kurz und bestimmt:

»Also wollen oder können Sie mir nicht helfen?«

»Vielleicht doch. Bitte, bleiben Sie.«

Seinem Wink, sich wieder zu setzen, leistete sie keine Folge. Hoch aufgerichtet und jetzt so spurlos frei von Verlegenheit, als in entschlossen sonorem Tone fuhr sie fort:

»Es scheint, ich habe mich in Ihnen geirrt. Immerhin aber mögen Sie noch hören, was mich bewog, gerade Sie aufzusuchen. Dann werden Sie mir doch vielleicht helfen wollen. – So jung ich noch bin, ich war lebensmüde. Vernehmen Sie, wie ich's geworden.

Vor etwa dritthalb Jahren gab sich mein ältester Bruder eigenhändig den Tod. Wenige Wochen darauf erlag meine Mutter dem Nervenfieber. Dieselbe Krankheit ergriff meinen Vater. Nachdem er über eine Woche Tag und Nacht fast unaufhörlich irre geredet, genas er langsam, schien aber Lebensmuth und Willenskraft völlig verloren zu haben. Während dieses immer noch mit schwärmerischer Aufregung verbundenen Schwächezustandes wußte sich der Oberrabbiner der altgläubigen Judengemeinde seiner zu bemächtigen, was seinen wiederholten Versuchen immer mißlungen war, so lange meine Mutter gelebt. Er umstrickte ihn widerstandslos mit dem Wahn, den Verlust seines Begôr – das bedeutet der Erstgeborene – habe er selbst verschuldet durch die Verweigerung des üblichen Lösegeldes. Auch den Tod meiner Mutter lehrte er ihn ansehen als ein Gericht Gottes, der die Ungläubige gestraft, ihn aber durch Entfernung der Verführerin zum Gehorsam gegen seine Gebote habe retten wollen.

Seitdem ist alles Denken, Trachten und Thun meines Vaters vom frühen Morgen bis zum späten Abend einzig dahin gerichtet, Gottes Zorn zu versöhnen und seine Huld dadurch zu verdienen, daß er mit peinlichster Buchstäblichkeit und steter Gewissensangst die ganz unabsehbare Menge von Vorschriften zu erfüllen versucht, welche von spitzfindigen Rabbinern zur Auslegung des mosaischen Gesetzes seit Jahrtausenden ertiftelt wurden. Ihm ist es damit heiliger Ernst. Er meint sich unzweifelhaft Gottes Wohlgefallen gesichert zu haben, indem er unsere stattliche Villa jenseits des Stromes zugeschlossen den Mäusen und Motten preisgab, um statt ihrer die mittelalterliche Baracke seines Urgroßvaters im licht- und luftlosen Ghetto zu bewohnen.

Aber auch die Seinigen will er zwingen, zu erheucheln, was nach ihrer Ueberzeugung nicht Frömmigkeit ist, sondern unvernünftige Selbstpein. Weil sich mein Oheim nicht so unterjochen ließ, hat er sich mit ihm gänzlich verfeindet. Mein jüngerer Bruder ist als Lehrling in einem Londoner Bankhause einstweilen noch verschont von dieser unerträglichen Tyrannei. Auf mir dagegen lastet sie erdrückend. Um nicht zu Grunde zu gehen, muß ich sie abwerfen.

Zu Hause nichts als tödtliche Langeweile. Fünf-, sechsmal des Tages muß ich Gebete herpapageien in einer alten Sprache, die ich nothdürftig lesen gelernt, aber nicht zum zehnten Theil verstehe. Vom Ankleiden bis zum Schlafengehn bin ich auf Schritt und Tritt in beständiger Angst, gescholten und gestraft zu werden für Verstöße gegen eine unbehaltbare Menge von sinnlos und lächerlich ausgespitzten Regeln. Stundenlang täglich sitzt mein Vater mit heuchlerischen Rabbinern über dicken Folianten, um immer noch mehr solche Vorschriften herauszuklauben, die wie ein Gewirr von Stacheln jede freie Bewegung verbieten, das Dasein verleiden, indem sie es verwandeln in ein Zickzackgeschleiche zwischen quälenden Hindernissen, und alles das zur Ehre Gottes. Bei Tisch Ueberdruß an den selten wechselnden Speisen, Ekel beim Gedanken an das Gezanzel und die Hantirungen des Schächters zum Koschermachen, ja, Verurtheilung zum Hungern wegen Versäumniß eines Brauchs von Seiten der Köchin oder der Bedienung, oder wegen einer Vergeßlichkeit, die ich selbst mir zu schulden kommen ließ. Vom halbgeleerten Suppenteller habe ich schon mehr denn einmal aufstehen und nüchtern bleiben müssen, weil mir der Löffel heruntergefallen war. Vor unseren lechzenden Augen wurde ein vorzüglicher Braten vom Tisch hinweg in's Armenspital geschickt, weil er mit etwas Rahm zubereitet war. Und warum stand das verboten in irgend einem alten Schmöker? Weil man sich hüten müsse vor dem möglichen Greuel, daß das geschlachtete Kalb mit Milch seiner Mutter begossen sei. Kein ordentlicher Dienstbote erträgt diese Sklaverei des Aberglaubens. So sind wir denn längst nur noch bedient von dem verächtlichen Gesindel, das sich für Geld Alles gefallen läßt und fromme Fügsamkeit heuchelt, um desto unverschämter zu betrügen und zu stehlen. Wöchentlich einmal Fasten bis zur Uebelkeit, außerdem an hohen Feiertagen bis zum unausbleiblichen Krankwerden. Samstags in der kleinen Synagoge der Altgläubigen sitze ich eingesperrt hinter dem Frauengitter und höre nichts als hebräisches Gepappel, Gesang sein sollendes Gegröle des Vorbeters, begleitet von nervös machenden Bücklingen, und im Chorus einfallendes Geschnatter der Männer. Von Büchern sind mir nur die schalen oder unverständlichen erlaubt, welche die Herren Rabbiner approbiren. Goethe's ›Werther‹, Schiller's ›Räuber‹, ja selbst Lessing's ›Nathan‹, die ich mir heimlich gekauft, wurden konfiszirt und verbrannt. Als man mich ertappte über ›Soll und Haben‹ von Gustav Freytag, bekam ich sogar Ohrfeigen und mußte vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung im Finstern sitzen. Das hat mich aber nicht abgeschreckt, die sämmtlichen Werke dieser Schriftsteller anzuschaffen und diebisch zu lesen in der Dachkammer meiner bestochenen Zofe. So ist mein bischen Bildung erschmuggelt und erstohlen. Ich mißfalle mir selbst als ungehorsames Kind. Aber ich hatte keine andere Wahl, als entweder eine rebellische Tochter zu sein, oder eine dumme Gans zu bleiben. Des bequemeren Friedens willen fange ich selbst schon an, meine Empörung zu verbergen unter der Maske geduldiger Ergebung, und fromme Ehrfurcht zu heucheln vor einem wahren Rattenkönig von Gebräuchen, die ich hasse und verachte. In der Gewöhnung an Lug und Trug werde ich schlecht; meine Gesundheit leidet unter Unlust und meine arme Seele verhungert.

Das ist mein gegenwärtiges Leben. Noch Trostloseres zeigt mir die Zukunft als unfraglich und nahe bevorstehend, wenn ich ihr nicht mit kühnem Entschluß entrinne. Nämlich die Fortsetzung genau desselben leeren Daseins mit denselben sinnlosen Entbehrungen und Plagen, aber statt an der Seite des Vaters, der mich auf seine Weise innig lieb hat und es mir bestens zu beweisen meint, indem er mich überhäuft mit kostbaren Kleidern und Schmucksachen, an der Seite eines widerwärtigen Mannes, dem ich bestimmt bin, weil er dieselbe sogenannte Frömmigkeit der altgläubigen Juden zur Schau trägt.

Als ich Den zu Gesicht bekam, kennen lernte und erfuhr, ich sei verurtheilt, an ihn gekettet zu werden und mein schon so freudloses Mädchenleben zu vertauschen mit dem weit schlimmeren Sklavenloose, seine Putzpuppe und Marionette zu sein in der Komödie mit abgeschmackten Gebräuchen, bis vielleicht erst nach dreißig oder vierzig Jahren der Tod mich erlöse – da dünkte mir doch noch minder entsetzlich, woran ich nie denken gekonnt, ohne von Grauen geschüttelt zu werden: mich lieber schon jetzt nach unserem so häßlichen als würdelosen Ritus zwischen vier ungehobelte Bretter nageln und verscharren zu lassen.

Ich beschloß, freiwillig vom Leben zu scheiden. Ich schrieb den Abschiedsbrief und schloß ihn versiegelt in meine Mappe. Nach erfolglos wiederholten Versuchen, Gift zu kaufen, ging ich zu dem Photographen, der mich schon mehrmals photographirt, und gab vor, gegen glänzende Vorausbezahlung Unterricht in seiner Kunst zu wünschen. Nachdem ich ihn eine Woche lang in täglich genommenen Lektionen verdachtlos gemacht durch listig gespielten Lerneifer, gelang es mir endlich, als er verreist war und die Unterrichtsstunde seinem Gehülfen übertragen hatte, ein mitgebrachtes Fläschchen in seiner Dunkelkammer unbemerkt mit Cyankali zu füllen.

Das geschah an einem Sonntagsmorgen. Am Montage sollte meine Verlobung stattfinden. So fest ich auch gewillt war, die nicht zu erleben, sondern mich unverweilt aus dem Staube zu machen, – mich auf der Straße als Leiche finden zu lassen, dünkte mir doch zu häßlich und ruchlos grausam gegen meinen Vater. Daheim auf meinem Bette gedachte ich zu sterben.

Auf dem Wege nach Hause, das Rettungsfläschchen in der Tasche umkrampfend, kam ich an Ihrer Kirche vorüber. Die Thür des Hauptportales stand offen. Empfänglich für Musik, die einzige tröstliche Unterhaltung, die man mir gestattet, fühlt' ich mich wundersam ergriffen von den mächtig rauschenden Akkorden der Orgel. Ich drückte mich seitwärts an die Kirchenmauer, wo ein vorspringender Strebepfeiler mich einigermaßen deckte vor den Blicken der Vorübergehenden, und lauschte da. Alles vergessend, ich weiß nicht, wie lange, vielleicht eine Viertelstunde. Die Harmonieenverflechtung, die leitenden Melodiken kamen mir mehrmals bekannt vor. Bald glaubte ich, ähnlich wie im ›Don Juan‹, wann der steinerne Gast naht, die Posaune des Gerichts zu vernehmen, bald himmlische Heerschaaren ihre Chöre anstimmen zu hören vom Frieden der Seligen. Dann folgte, ganz einfach gehalten, eine Choralweise, die vom Gesang der Gemeinde mehrmals wiederholt wurde, während die Orgel schlicht begleitete und nur je zwischen den Strophen unter Anklängen an das Vorspiel etwas verwickelter modelte. – Da überkam mich zwar erschreckend die Erinnerung an die zornigen Fluchdrohungen, mit denen mir einst mein Vater verboten, jemals einen Tempel der Gojim zu betreten, als ich unbefangen meine Neugier auf das Innere einer Christensynagoge geäußert. Aber zugleich regte sich unwiderstehlich der Trieb, diese Neugier nun doch zu befriedigen. Vor der Schwelle zum Tode, sagte ich mir, darfst du immerhin auch eine Kirchenschwelle überschreiten. Indem ich die unterste Stufe der Steintreppe betrat, schoß mir der Gedanke durch den Kopf, nicht erst daheim, sondern lieber schon da drinnen in der dunkelsten Ecke, umklungen von diesen majestätischen Tönen, mein Leben zu verhauchen.

Ich schritt hinein. Ein Kirchendiener, derselbe Mann mit sonderbaren Ohren, der mich eben an Ihre Thür geleitet, führte mich unter ehrerbietiger Verneigung, die vermuthlich meinem Anzuge galt, in die vorderste Bank. Als ich ihm ein Markstück in die Hand gedrückt, brachte er mir auch ein Buch mit goldenem Kreuz auf dem schwarzen Lederdeckel. Das legte er aufgeschlagen auf das schräge Brett vor dem Sitz und bezeichnete mit dem Finger erst das Lied, dann den Vers desselben, bis zu welchem der Gesang der Versammlung gelangt sei.

Wie willenlos und halb im Traum hatte ich das Alles mit mir geschehen lassen. Jetzt las ich. Das Lied fing an:

›Befiehl du deine Wege …‹«

Sebald unterbrach, um langsam und mit dem Ausdruck innigsten Mitgefühls die ganze Strophe herzusagen:

»Befiehl du deine Wege
Und was dich, Seele, kränkt,
Der allertreusten Pflege
Deß, der den Weltkreis lenkt;
Der Wolken, Luft und Winden
Bestimmet ihre Bahn,
Der wird auch Wege finden
Wo dein Fuß gehen kann.«

Sie lauschte vorgebeugt und entblößte unwillkürlich auch die untere Hälfte des Gesichts, indem sie die zierlichen Ohren frei liftete, um durch den dämpfenden Schleier nichts zu verlieren von dem sanft einschmeichelnden Wohllaut, mit dem seine sonst so mächtig klangvolle Stimme diese schlichten, aber unsterblichen Verse Paul Gerhard's ergreifend schön vortrug. Auch nachdem er geschlossen, schwieg sie noch einige Augenblicke.

»Der Vers,« fuhr sie dann fort, »welchen der Finger des Kirchendieners bezeichnete, hat sich mir unvergeßlich eingeprägt. Er lautete so:

›Hoff', o bedrängte Seele,
Hoff' und sei unverzagt;
Was dich auch immer quäle,
Dem Kummer, der dich plagt,
Wird Gott dich schon entrücken,
Erwarte nur die Zeit;
So wirst du schon erblicken
Die Sonn' der schönsten Freud'.‹

Dann tanzten mir die Buchstaben vor den Augen. Ich hatte Mühe, nicht in lautes Schluchzen auszubrechen. Ich schämte mich, wenn auch vielleicht noch nicht meines Vorsatzes selbst, so doch des abscheulichen Einfalls, mit seiner Ausführung ein Heiligthum zu schänden, welches durch ein Wunder zu wissen schien von meiner Todesnoth, um der kaum Eingetretenen mit seiner stummen Buchstimme sogleich die bestpassenden Worte der Mahnung und des Trostes zuzurufen; Worte in meiner Sprache, Worte, so herzerschütternd und zugleich wohlthuend, wie ich daheim von meinen Lehrern, geschweige denn in der Synagoge noch niemals auch nur entfernt ähnliche vernommen hatte.

Schon zu glauben geneigt an ein solches eigens für mich veranstaltetes Wunder, wiederholte ich mir in Gedanken die Hoffnung weckenden Schlußzeilen der Strophe:

›So wirst du schon erblicken
Die Sonn' der schönsten Freud‹,

als ein heller Lichtschein in der Höhe, den mein Schleier und meine strömenden Thränen zu einem Geflimmer von farbigen Funken zerstreuten, mich mit erhobenem Kopf aufzublicken bewog.

Während die letzten sanften Flötentöne eines Orgelnachspiels verklangen, war draußen die Sonne aus Gewölk hervorgebrochen. Jetzt fielen ihre Strahlen, durch rubinfarbige Fensterscheiben geröthet, auf das dornengekrönte, blutumtroffene Haupt am Kreuz über dem Altar. Es schien mir zu leben und mich mitleidsvoll anzuschauen.

Da fuhr ich, an allen Gliedern bebend, zusammen und mußte mich am Buchbrett halten, um nicht von der Bank herunter auf die Kniee zu fallen. Denn mit so mächtiger als milder Stimme, die wie Glockenton die hohen Wölbungen der Kirche durchhallte, hob das dornenwunde Haupt an zu reden und rief mir zu:

›Kommet her zu Mir, Alle, die ihr mühselig und beladen seid, Ich will euch erquicken.‹

Mein heiliger Schreck legte sich erst, als andere Worte folgten und ich merkte, daß sie doch aus anderer Richtung herklängen.

Ohne daß ich es gewahrt, waren Sie inzwischen erschienen auf der seitwärts stehenden Kanzel und hatten jene Worte aus der Bibel vorgelesen, um dann über dieselben zu predigen, und zwar, wie Sie sagten, auf Anlaß eines traurigen Ereignisses in jüngster Zeit: des freiwilligen Todes eines hoffnungsvollen Schülers. So mußte jeder Satz mir in die Seele greifen wie eigens gemünzt auf mich und meine verdammliche Absicht, das Leben fortzuwerfen.

Was soll ich weiter sagen? Als ich die Kirche verlassen, war mein Erstes, das Fläschchen geleert in den Strom zu werfen. Zu Hause empfing mich mein Vater mit verdrießlichem Gesicht und Vorwürfen wegen meines unzeitig frühen Ausgangs. Herr Rosenberger sei eben da gewesen, sich zu verabschieden. Die Verlobung müsse verschoben werden. Eine Kabeldepesche habe ihn in wichtigen Geschäften nach New-York gerufen und er fliege bereits im Schnellzuge nach Hamburg.

Am nächsten Sonntag war ich wieder in Ihrer Kirche, am nächstfolgenden abermals. Dann wurden Sie krank, sonst wäre ich schon früher gekommen.

Ohne die Fügung, die mich erhalten, nännten heute meine Stammgenossen von mir nichts mehr ihr eigen, als meine verwesende Leiche. Ihrem Friedhof vorenthalten haben mich eure Orgel, euer Gesangbuchlied, euer Bild des Gekreuzigten und Ihre Predigt über seinen Spruch. Euch gehöre ich schon jetzt. So will ich auch zu euch gehören. Mein Entschluß steht fest. Muß ich in's Ausland flüchten, um ihn zu verwirklichen? Verweigern Sie mir noch Ihren Beistand?«


 << zurück weiter >>