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Zehntes Kapitel.

Das Haus in der Judengasse.

 

Er mahnt mit Kasteien und Fasten
Nach Eden die Pfade zu finden,
Und betend mit Riemen und Quasten
Sich Gott zu Dank zu verbinden,
Und quillt zelotisch die Seinen,
Gerade so thöricht zu – scheinen.

 

Dicht hinter der Hauptsynagoge zu Odenburg beginnt eine Gasse von durchweg drei Stock hohen alten Fachwerkhäusern. Jeder Stock überkragt den tieferen um eine Elle. Der Abstand der beiderseits nochmals weit vorspringenden Dächer beträgt wenig mehr, als die Hälfte der Pflastersohle. So bleibt nur ein schmaler Streifen Himmel sichtbar und selbst Mittags schreitet man unten in einem dämmerhaften Zwielicht.

Noch im fünften Jahrzehnt unseres Jahrhunderts sah man aus den Ecken der beiden Häuser am Eingang der Gasse je einen kurzen, in eine Oese auslaufenden Eisenstab hervorragen, bestimmt zum Einhaken der Kette, mit welcher weiland diese Straße allabendlich abgesperrt wurde.

Das dreistöckige Eckhaus links, obwohl nach seiner Bauart auch auf ein Alter von mindestens dritthalb Jahrhunderten zu schätzen, ist das am saubersten und im besten Zustand gehaltene. Jedes Geschoß blickt aus vier schmalen und niedrigen Fenstern nach dem Synagogenplatze und aus eben so vielen nach der Gasse. Die Scheiben sind altmodisch klein, aber klar durchsichtig. Durch die fein gemusterten Tüllgardinen sieht man dunkelfarbige Vorhänge von schwerem Seidenstoff schimmern.

Bis vor etwa zwei Jahren hatte dies Haus noch ebenso vernachlässigt und baufällig ausgesehen, wie alle übrigen in dieser Straße. Vorhänge an den Fenstern würde man keine wahrgenommen haben, auch wenn die niemals gewaschenen, alterblind irisirenden Glasscheiben den Durchblick noch gestattet hätten. Die tagüber offenen Fenster des Erdgeschoßes und die tiefe Nische der ohne Gassenschwelle aufsteigenden Eingangstreppe von hohl ausgetretenen steinernen Stufen waren damals dicht besetzt mit Pflockgestellen voll getragener Kleidungsstücke und alter Stiefel.

Da sah man eines Tages den Althändler, der das Haus als Miether Jahrzehnte innegehabt, mit seinem Trödel ausziehen. Zimmerleute, Maurer und Weißbinder kamen und waren monatelang beschäftigt, die alte Baracke wohnlich und zu einigermaßen anständigem Aussehen herzustellen. Der Glaser ersetzte die blinden Fensterscheiben mit neuen, wenn auch eben so kleinen, der Steinmetz die ausgebauchten Sandsteinstufen der Treppe mit wagerechten von schwarzem Marmor. Auf der untersten errichtete ein Kunstschlosser zum Vorverschluß des Hauseingangs eine mit zierlich getriebenem Laub- und Blumengewinde geschmückte Gitterthür von Schmiedeisen, deren Kosten auf mehrere tausend Mark geschätzt wurden.

So sehr dieser befremdliche Aufwand für ein häßliches Haus in einer unwohnlichen, von wohlhabenden Familien längst gemiedenen Gasse das darüber umgehende Gerücht zu bestätigen schien, – noch immer wollte man es nicht recht glauben, daß Herr Mendez, der über Millionen gebietende Bankier, seine fürstliche, auch wirklich einem Fürsten abgekaufte Gartenvilla jenseits des Stroms zu verlassen beabsichtige, um sich einzupferchen in die engen und niedrigen Stuben, in welchen sein Urgroßvater erst als Trödler, dann als Makler mit den erworbenen ersten hunderttausend Gulden den Grund gelegt hatte zum Reichthum der Familie.

Doch die Zweifel mußten aufhören, als nach Vollendung der äußeren Reparaturen und der inneren Einrichtung an einem 22. März, dem Tage der Frühlingsnachtgleiche, ein Viertel vor sechs Uhr Morgens die bekannte stattliche Kutsche des reichen Bankherrn vor der kostbaren Gitterthür hielt und erst der Oberrabbiner der altgläubigen Judengemeinde in seinem Ornat, dann Herr Mendez selbst ausstiegen, dieser in einem langen, sehr weitärmeligen Kaftan von schwarzer Seide.

Außer einem Bäckerburschen, der den thüröffnenden Mägden Frühstücksbrödchen ablieferte, und dem Milchmann mit seinem von Hunden gezogenen Wägelchen voll Blechkannen, ließ sich in der dämmerdunkeln Gasse noch Niemand sehen. Nur in einigen der gegenüberliegenden Häuser fanden die beiden Ankömmlinge und ihr auffälliges Treiben in der Treppennische neugierige Zuschauer, die das Gerassel der Kutsche in ihren Nachtkleidern aus den Betten an die Fenster gelockt hatte.

Während der Hausherr mit einem winzigen Schlüssel die Gitterthür federnd aufspringen ließ, nahm der Rabbiner aus dem Wagen ein in graue Leinwand geschnürtes Paket, zwei größere und einen winzigen Beutel von gelbem Handschuhleder, ein aufgepapptes, hebräisch bedrucktes Folioblatt, ein Fläschchen mit schwarzem Firniß, eine Holzschachtel und ein kleines Hämmerchen, dessen Stahlkopf das Haupt eines Widders vorstellte. Er legte diese Gegenstände auf die oberste Marmorstufe und sah nach seiner Uhr. Dann öffnete er das Leinenbündel und entfaltete für sich die große, für Mendez die kleine Thallith.

Erstere war ein himmelblaues, rechteckiges Tuch von Lammwolle, doppelt so lang als breit, in der Mitte übernäht mit einem perlengestickten Quadrat von Goldgewebe, der sogenannten Atharah (Krone), in den vier Ecken mit kleineren Nachbildungen dieses Schmuckes. Aus einem Löchlein in der Mitte jedes Eckbesatzes hing, auf der Rückseite befestigt, eine Schnur, gedreht aus einer genau bestimmten Anzahl Fäden Lammwolle, in Abständen von einer Spanne fünfmal geknotet und am Ende eine Quaste tragend, für deren Büschel nicht nur die Anzahl der einzelnen Fränschen, sondern auch ihre verschiedenen Längen auf das Minutiöseste vorgeschrieben sind. Viele Druckseiten füllen würde die vollständige Anweisung, von wem und wie zu dieser Thallith und ihren Schnüren, den Tzizis, die Wolle zu gewinnen, unter Gebet zu spinnen und weben, wie vielfach die Fäden zu verzwirnen, wie die Doppelknoten zu schürzen, die Einzelfransen der Quaste zu bemessen seien. Denn wie die fünf Knoten in jeder Schnur gemahnen sollen an die fünf Bücher Mosis, so soll auch die Zahl der Fäden und Fransen ein göttliches Geheimniß kabbalistisch anzeigen. Jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets dient nämlich zugleich als Ziffer und jene Zahlen sind so gewählt, daß sie, in ihrer Reihenfolge mit Buchstaben hingeschrieben, auch Wortbedeutung erlangen; zum Beispiel Jehova echad, d. i. Jehovah der Eine.

Diese Thallith that er sich so um, daß die Atharah auf dem Hute zu liegen kam, während er die vier Ecken mit den Tzizis über der Brust zusammenfaßte.

Die kleine Thallith war eine Art gedoppelten Brust- und Rückenschurzes aus weißer Wolle mit einem Ausschnitt zum Durchstecken des Kopfes. An den vier Eckzipfeln hingen eben solche, nur etwas kürzere, fünfmal geknotete Tzizis mit Quasten wie an der großen. Heut ließ er Herrn Mendez nach Ablegung des Kaftans dies heilige Kleidungsstück über der Weste umthun, bemerkte aber, daß er es künftig Tag und Nacht über dem Hemde oder auch auf bloßem Leibe tragen dürfe.

Demnächst entnahm er den zwei großen Beuteln vier lange Riemen mit je einem in der Mitte aufgeschleiften viereckigen Lederstück. Aus diesem ragte an zweien ein würfelförmiges, vierfach gerieftes Futterälchen, an den beiden anderen ein ungerieftes Kästchen in Form einer abgestumpften vierseitigen Pyramide.

»Diese beiden Tphillin für Sie,« sagte er, »eine, schel rôsch, für den Kopf, die andere, schel jâd, für die Hand, sind genau nach Muster der meinigen aus Leder von reinem Thier nach unserem heiligen Gesetz unter den üblichen Gebeten verfertigt. Die vier verordneten Paraschen aus der Thora auf den eingelegten Pergamentblättchen hat ein rechtgläubiger Sophêr mit siebenmal gewaschener Hand, nie zuvor gebrauchter Taubenfeder und neu bereiteter Galläpfeltinte in gekrönten Zierbuchstaben unter strengster Beobachtung der dafür bestehenden Regeln geschrieben. Nach einem ehrerbietigen Kuß legen Sie dieselben jetzt an, wie ich es Ihnen vormache mit den meinigen.«

Er entblößte seinen linken Arm, wand den Riemen vom Ellenbogen an sechsmal herum und mit der siebenten Windung so um die linke Hand, daß das Lederquadrat mit dem Pyramidchen über der Mitte der Innenfläche zu stehen kann.

Es gelang Herrn Mendez, das tadellos nachzumachen. Nicht so mit der Kopftphillah, bei deren Anlegung der Rabbiner sein Beispiel noch mit vieler Nachhülfe unterstützen mußte. Denn da galt es erstens, das vielzellige Kästchen dicht unter den Haaren genau in der Mittellinie der Stirn anzubringen; zweitens den Knoten im Berührungspunkt des Hinterkopfes und Nackens derart zu schürzen, daß die von ihm ausgehenden Riemenfortsätze ein verkehrt und ein richtig stehendes Daleth Daleth vorstellten; drittens die über die Schultern vorgelegten Riemenenden nicht mehr und nicht weniger als drei Spannen lang über die Brust hinunterhängen zu lassen. Die nöthigen Korrekturen besorgte er mit so wichtigthuender Miene und erklärte sie in so ernst besorgtem Ton, als ob Lebens- und Seelengefahr zu befürchten sei, wenn Knotenschlingung und Riemenfall um ein Härchen von der Vorschrift abwichen.

Nach richtiger Befestigung auch der Kopftphillah hatte er dem gefügigen Glaubensgenossen eben die hebräisch bedruckte Papptafel eingehändigt, als die Thurmuhr des Rathhauses mit dem ersten Schlage der sechsten Stunde den heutigen Augenblick des Sonnenaufganges anzeigte. Beide wendeten das Antlitz ostwärts und sprachen unter häufigen Bücklingen ein mehrere Minuten dauerndes Gebet, Mendez lesend, der Oberrabbiner aus dem Gedächtniß.

»So,« sagte darauf der Letztere; »das Haus Ihrer frommen Vorfahren war trephêh (unrein) geworden durch die Vermiethung an Gojim, mit welcher so reiche Nachkommen bedenklich sündigten. Nun ist es wieder tophêl durch die Weihe nach dem Gesetz, vollzogen am Tage der Tekuphah (Nachtgleiche) des Frühlings. Nun heften Sie noch mit eigener Hand die Mesusah an die Pfosten der Hauptpforte wie der Binnenthüren.«

Er übergab Herrn Mendez das Hämmerchen, den kleinen Lederbeutel mit feinen Kupferstiften und die geöffnete hölzerne Schachtel. In dieser lag eine Anzahl etwa fingerlanger, aus Holz gedrechselter Cylinder. Jeder hatte eine mit Glas verkleidete ovale Oeffnung unweit des linken Endes und über diesem wie unter dem rechten Ende ein gelochtes Anschlagblättchen.

Während Mendez, ein ihm wortweise vorgesagtes hebräisches Gebet nachsprechend, einen jener Cylinder oben am Rahmen der Hausthür festnietete, wo dafür im Sandstein zwei Pflöckchen Holz in schräger Richtung eingegypst waren, zog der Rabbiner eine Art Brieftasche von alterbraunem Leder. Aus ihr nahm er ein Blättchen Pergament, drückte es, einen Spruch murmelnd, an die Lippen, rollte es zu passender Dicke für die Holzröhre, mit der dicht und sein beschriebenen Seite nach inwendig, so zusammen, daß das einzige auf der Rückseite groß geschriebene Wort Schaddai durch das Glas der ovalen Oeffnung sichtbar werden mußte, und schob es sorgsam in das Gehäuse.

»Sie selbst,« sagte er dabei, »und jedes Mitglied Ihrer Familie muß beim Ausgang wie bei der Heimkehr mit dem Zeigefinger der rechten Hand erst das Glas über dem sichtbaren Wort berühren, dann über beide Augen streichen und dabei beten: Schaddai jischmereni, Schaddai jazzileni, Schaddai jaasreni, d. i. der Allmächtige bewahre, errette mich, helfe mir. Solche Segnung sichert für den ganzen Tag vor allem Unglück.«

Dann traten Beide in's Haus, um auch an den inneren Hauptthüren je eine Mesusah anzubringen, welche die Pfosten der Heimstätte »vor Erschütterung« bewahren und sie mit dem Namen des Allmächtigen unzugänglich machen soll für den Teufel, alle bösen Geister und Pestilenzen.

Im kleinen Flur jedoch war noch ein anderes Geschäft zu besorgen. Da hatte man eine Stelle der Wand, auf die der Blick des Eintretenden oder Ausgehenden unvermeidlich fallen mußte, untapezirt, unbemörtelt und ungetüncht gelassen. Auf diesen Fleck pinselte der Rabbiner mit schwarzem Firniß aus dem mitgebrachten Fläschchen in großen hebräischen Buchstaben die Worte Sechôr lechorbân, d. i. zum Gedächtniß der Zerstörung. Denn der Eroberung Jerusalems und der Vernichtung des Tempels soll der gläubige Israelit auch in der Freude zu gedenken niemals aufhören.

Etwa drei Viertelstunden später kehrten die Beiden zum Ausgange zurück, und hier, auf der obersten Stufe, hielt der Rabbiner, bevor er sich verabschiedete, noch eine längere Rede:

»Die großen Hauptgebote zur Segnung des Hauses und Heiligung des Lebens in seinen Räumen,« sagte er, »sind erfüllt. Wer beim Gebet am Haupt und an der linken, auf das Herz zu legenden Hand die Tphillin, an seinem Kleide die Tzizis, an seiner Thür die Mesusah hat, der kann gewiß versichert sein, daß er nicht sündiget. Denn im Koheleth (Prediger Salomonis) heißt es: ›Eine dreifache Schnur reißet nicht‹. Wer aber diesen drei Satzungen zu gehorchen unterlässet und selbige hochmüthig verachtet, dem wird geschehen nach den Worten Hiobs: daß die Zipfel der Erde gefasset und die Gottlosen herausgeschüttelt werden. Nur dem treulich Gehorsamen ist es fest verheißen, dereinst die Schechina, (die Herrlichkeit Gottes) zu schauen. – Ich werde Sie täglich zwei Stunden in den Lebensvorschriften des Talmud und unserer anderen ehrwürdigen Schriften unterrichten kommen, auch, so oft es angeht, zwei hochgelehrte Amtsbrüder aus den frommen Gemeinden unserer Nachbarstädte mitbringen. Für Ihre Morgenandacht hab' ich Ihnen schon sieben fromme Männer zu Gebetshelfern ausgesucht und geworben, die täglich punkt acht Uhr erscheinen sollen. Wohl Ihnen, daß Sie in sich gegangen sind. Gott hat Sie gestraft für ungehorsam heidnisches Leben im üppigen, aber unreinen Fürstenpalast, gestraft mit schwerer, monatelanger Krankheit. Pfundweise verschwendeten Sie Gold an fernher verschriebene Aerzte und wurden doch schon hoffnungslos aufgegeben, bis es mir gelang, Ihr Herz zu rühren, Ihre Seele auf den rechten Pfad und damit auch Ihren Leib auf den Weg zur Genesung zu führen. Gott hat Sie gestraft für Ihre schwächliche Nachsicht gegen ein schönes, aber eigenwilliges und im Glauben lässiges Weib aus England, und Ihnen diese allzu geliebte Gattin plötzlich entrissen. Gott hat Sie am härtesten gestraft an Ihrem Erstgeborenen, weil Sie meine Warnung in den Wind schlugen. Ich erinnerte Sie, daß nach einem Gebot aus der Urzeit, weit älter noch als die Gesetze, die Moses vom Sinai herunter brachte, alles Männliche, das den Schooß der Mutter erstmalig aufbricht, dem Herrn zu eigen gehört und ihm geopfert oder von seinen Priestern gelöst werden muß. Sie aber wiesen mich höhnisch ab, als ich die nachträgliche Lösung Ihres Begôr mit fünf Goldstücken fordern kam. Nachdem Ihnen der Ungelöste Hunderttausende verschwendet mit Hazardspiel und Pferdewetten und schließlich einmal mehr an der Börse verspekulirt hatte, als Sie zahlen wollten, schoß er sich eine Kugel durch das Herz. Sie sehen, dem Schlechten ergeht es schlecht, denn die That seiner Hände wird ihm vergolten. Jetzt aber, endlich gerettet zum Gehorsam, werden Sie im geheiligten Hause Ihrer Väter auch erleben, wie Recht der Prophet hat, wenn er schreibt: ›Sagt vom Gerechten, daß er glücklich sei, denn die Frucht seiner Thaten wird ihm vergolten.‹ – Jetzt geh' ich an das schwerste Stück Arbeit: Ihre Tochter aus dem Heidenhause hieher holen. Sie mit diesem Umzuge zu versöhnen, wird mir schwerlich gelingen. Ich weiß, ich bin ihr verhaßt, weil sie nur allzu sehr ihrer englischen Mutter nachgeartet ist. Ihr können Sie echte Vaterliebe nur mit unnachsichtlicher Strenge beweisen, um ihr verhärtetes Gemüth endlich doch vielleicht zu erweichen.«

Da Mendez diese Rede mit niedergeschlagenen Augen demüthig hingenommen und selbst bei dem scharfen Ausfall gegen seine Tochter nur leise geseufzt hatte, legte ihm der Rabbiner noch die Hände auf sein etwas gelocktes, dunkelblondes, nur an den Schläfen ein wenig mit Grau untermischtes Haar und sprach einen hebräischen Segen. Darauf stieg er in den Wagen und rollte von dannen.

 

Seitdem waren über zwei Jahre vergangen. Von seinen Andachten, Unterrichtsstunden, Konferenzen mit den Rabbinern, besonders aber von den zahllosen, auf Grund dieser Studien fortwährend zunehmenden Observanzen, erübrigte Herr Mendez kaum noch eine Stunde täglich für das Bankgeschäft. Selbst während dieser betrieb er die Arbeiten, die ihm als einem der Chefs oblagen, oft nur zerstreut und lässig. So lag denn bei der streng eingehaltenen Tradition seines Hauses, keinem Nichtmitgliede der Familie Prokura zu ertheilen, die Last der Leitung und der vielen hunderte täglicher Accepte und Unterschriften bald fast ausschließlich auf den Schultern seines jüngeren Bruders. Mißhelligkeiten mit diesem konnten nicht ausbleiben. Die Entfremdung wuchs allmälig zur Erbitterung, als Alphons Mendez in gleichem Maße sich lossagte und frei machte von den Satzungen der altgläubigen Israelitengemeinde, je mehr Fernando, der ältere, die ihn einschnürenden Fesseln des Rituals immer enger zog und mit weiteren, aus rabbinischen Schriften emsig hervorgeklaubten Regelketten vervollständigte. Die Mahnungen des Letzteren zu minder lauer Frömmigkeit und treuerem Gehorsam gegen das Gesetz erwiederte Alphons mit Vorwürfen der Nachlässigkeit und Trägheit und zuletzt mit scharfen Spöttereien über des Bruders abergläubische Selbstquälerei. Jüngst war es von erbittertem Wortwechsel zu einer heftigen Szene mit beiderseitigem Wuthausbruch und gänzlicher Entzweiung gekommen. Die Verfeindung der beiden Brüder und die an's Komische streifenden Anordnungen, die sie getroffen hatten, um ihr oft unerläßliches Einverständniß durch Vermittelung Dritter oder schriftlich zu erwirken und so selbst im Geschäftslokal jede Begegnung zu vermeiden, lieferten seit etlichen Wochen ein Hauptthema für das Odenburger Stadtgespräch.

Eines Vormittags schritt im engen Flur des alten Hauses am Eingang der Judengasse einer der meistbeschäftigten Photographen der Stadt, Herr Pfungstätter, ungeduldig wartend auf und nieder.

»Unverantwortlich!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Mich warten zu lassen, wo sich's handeln kann um Leben und Tod seines Kindes!«

Zuweilen blieb er stehen vor dem häßlichen Rohfleck der Mauer und beschaute die grob aufgepinselte Inschrift, die er sich zwar nothdürftig zusammen zu buchstabiren, aber nicht zu übersetzen wußte, obgleich nach dem Schnitt seines Gesichts auch er offenbar ein Israelit war.

»Was die zwei Worte wohl bedeuten mögen?« dachte er bei sich. »›Thu' deine Vaterpflicht!‹ sicherlich nicht!« Trotz der Versicherung, daß er sehr Ernstes und Dringliches mitzutheilen habe, hatte der Diener achselzuckend erklärt, ihn jetzt durchaus noch nicht melden zu dürfen. Herr Mendez sei mit seinen sieben Betbrüdern bei der Morgenandacht und die werde wohl noch eine halbe Stunde dauern.

Der Photograph nahm schon einen Anlauf nach der Treppe zum ersten Stock, um ungemeldet einzudringen. Aber der vierschrötige Lakai vertrat ihm den Weg in drohender Haltung, als ob es ihm erwünscht sein würde, seinen Diensteifer und seine Kraft in thätlicher Abwehr zu beweisen.

Endlich kamen die Sieben die Treppe herunter getrampelt, alle in sehr grobstoffiger, offenbar fertig gekaufter und schlecht sitzender Kleidung. In ihren derben Gesichtern mischte sich seltsam ein Rest des oben angelegten frommen Ernstes mit einem ironischen Lächeln über den wunderlichen Eifer ihres Verdienstgebers und einem Grinsen der Zufriedenheit, die verdiente Mark täglichen Betlohns jetzt fruchtend verwenden zu dürfen in weltlichen Geschäften.

Nun wurde Pfungstätter gemeldet und vorgelassen.

Mendez, ein Mann von weniger als Mittelgröße, sitzend aber fast hochgestaltig aussehend, weil sein Untergestell unverhältnißmäßig zurückgeblieben gegen den wohlentwickelten Oberkörper, richtete das nicht unedel geschnittene, aber frauenhaft weiche und blasse, nur am Kinn von einer Spur des glattrasirten Bartes umschimmerte Gesicht langsam auf von einem dicken Quartbande. Wie müde hoben sich die Lider von den schwärmerisch blickenden wasserblauen Augen. Er musterte den Gast mit einer Duldermiene. Eine Andeutung, daß ihm diese Störung sehr unwillkommen sei und er die Audienz möglichst kurz wünsche, war eben so sichtbar in seinen Zügen als hörbar im Ton seiner Frage:

»Was ist Ihr Anliegen, Herr – Herr Ungsteiner?«

»Pfungstätter, Photograph,« berichtigte der Eingetretene herb und mürrisch. »Habe kein Anliegen. Weiß, wie Sie überlaufen werden mit Betteleien. Versichere daher, kein Attentat auf Ihren Beutel im Schilde zu führen. Fühle mich aber verpflichtet, sehr Ernstes zu melden von Ihrer Tochter.«

Mendez zuckte ängstlich auf.

»So reden Sie,« sagte er; »aber kurz, wenn ich bitten darf.«

»Ja, ganz kurz weiß ich's nicht zu machen, bediene mich daher auch ohne Ihre Einladung dieses Stuhles. Zehn Minuten werde ich Ihre fromme Beschäftigung wohl unterbrechen müssen mit einer – Nebensache, was ja die Sorge für Ihre Kinder Ihnen zu sein scheint. Haben Sie Ihre Tochter während der letzten fünf oder sechs Wochen beobachtet? Ist sie nicht oft verstimmt und schwermüthig?«

»Ja, etwas verstört ist sie mir zuweilen vorgekommen. Ihr bestimmter Bräutigam, Herr Rosenberger, will ihr noch nicht recht gefallen. Aber das wird sich schon geben.«

»Rosenberger?« frug der Photograph erschrocken; »dann begreife ich Alles.«

»Was veranlaßt Sie zu Ihrer Frage?»

»So hören Sie mich an. Daß ich Ihre Tochter mehrmals photographirt habe, werden Sie wissen. Dort im Nebenzimmer auf dem Spiegeltisch sehe ich ja eines meiner Bilder in einem Bronzerahmen stehen. Daher kenn' ich sie. – Als ich vor einiger Zeit – es mögen reichlich fünf Wochen seitdem verflossen sein – einige Chemikalien einkaufte, zog mich Herr Faltin, der Droguist, auf die Seite und frug, ob es wahr sei, daß Fräulein Mendez bei mir Unterricht nehme im Photographiren. Ich mußte das bejahen; denn seit etlichen Tagen war sie wirklich meine, wie es schien, sehr eifrige, auch ziemlich anstellige Schülerin.«

»Davon hat sie mir kein Wort gesagt.«

»Sie werden bald begreifen, warum nicht. – Ich frug natürlich, was ihn zu dieser Erkundigung bewöge. So vernahm ich denn, daß das Fräulein etwa drei oder vier Tage, bevor sie mich ersucht, ihr Stunden zu geben, in Faltin's Laden erschienen sei und einige zum Photographiren erforderliche Ingredienzien verlangt habe. Obwohl ihm etwas Scheues in ihrem Blick aufgefallen und ihm namentlich das Mißverhältniß der geforderten Stoffe verdächtig erschienen sei, da sie auf die Frage: ›Wie viel von jedem?‹ offenbar nur auf Gerathewohl und mit völliger Unkenntniß des praktischen Bedarfes Bescheid gegeben, so habe er ihr doch von den ungefährlichen Präparaten einige ausgehändigt. Als sie dann aber mit unsicher bebender Stimme noch Cyankali verlangt, habe er ihr das rund verweigert unter Berufung auf das gesetzliche Verbot, dies furchtbare Gift ohne Vorweisung einer polizeilichen Berufs- und Befugnißbescheinigung auszuliefern.«

»Weiter, weiter!«

»Da das Fräulein inzwischen die täglichen Lektionen bei mir in der That angetreten hatte und sehr ernst zu nehmen schien, hielt ich Faltin's Argwohn für grundlos. – Daß sie am ersten Tage der zweiten Woche zur festgesetzten Stunde nicht erschienen war und seitdem überhaupt fortblieb, fiel mir zwar auf, doch erklärte ich mir's schließlich als von mir selbst verschuldet; denn zu einer plötzlichen Reise nach Leipzig genöthigt, hatte ich die letzte Lektion, an einem Sonntags Vormittag, ohne Absage versäumt und meinen Gehülfen angewiesen, mich zu vertreten. Auch war sie, wie ich von meinen Lehrlingen erfuhr, nach kaum einer Viertelstunde mit einer verdrießlichen Bemerkung über meine Unzuverlässigkeit fortgegangen und nicht mehr wiedergekommen. Kurz vor meiner Rückkehr war mein Gehülfe nach Mecklenburg abgereist, um dort etliche zwanzig Adelsschlösser aufzunehmen, deren Photographieen in Folio mein Atelier auf Subskription zu liefern übernommen hat.«

»Spannen Sie mich doch nicht auf die Folter mit dieser überflüssigen Weitläufigkeit.«

»Bin sogleich fertig. Heute, vor kaum einer Stunde, ist mein Gehülfe wiedergekehrt. Von ihm weiß ich nun, was Ihre Tochter gewollt hat und daß Faltin's Argwohn dennoch nicht grundlos gewesen ist.«

»Reden Sie, reden Sie!« rief Mendez aufspringend, als Pfungstätter einen Augenblick schwieg. »Was, was hat sie gewollt?«

»Was ihr Faltin verweigert. Mein Gehülfe hat es belauscht, wie sie in der Dunkelkammer, sich unbemerkt wähnend, aus der Phiole mit Cyankali ein geschliffenes Fläschchen gefüllt und in die Tasche gesteckt. Da er wußte, daß sie mir jede Unterrichtsstunde mit einem Goldstück bezahlte, hatte er nur ihr Heimlichthun verwunderlich, aber die unbedeutende Entwendung einer unverkäuflichen Flüssigkeit weder tadelnswerth noch für die eifrige Photographin befremdlich gefunden.«

»Sie martern mich! Heraus damit! Was denken Sie Schreckliches?« winselte Mendez, auf seinen Stuhl zurücksinkend.

»Ich erinnere mich, daß Ihr ältester Sohn sich erschossen hat, und halte es deswegen für meine Schuldigkeit, Ihnen zu sagen, daß Ihre Tochter seit Wochen ein Gift in der Tasche trägt, das blitzschnell tödtet. Einzusehen, womit Sie Ihren Kindern das Leben verleiden, ist Ihre Sache, Ihre Sache auch, zu erwägen, wie Sie das Fräulein vom Selbstmordgedanken, mit dem sie sich trägt, noch zur Vernunft bringen können, wenn es nicht schon zu spät ist. So! Was ich zu sagen hatte und eine vielleicht verhängnißvolle halbe Stunde zu lange für mich behalten mußte, weil Sie mit sieben widerwärtigen Heuchlern hebräisch zanzelten und der rüde Schlagetodt von Lakai mich hinauszuwerfen drohte, als ich ungemeldet eindringen wollte – jetzt wissen Sie's. Nicht für's Zehnfache Ihrer Millionen möchte ich in Ihrer Haut stecken. Guten Morgen, Herr Mendez!«

Während Pfungstätter die Thür so heftig hinter sich zuwarf, daß die Pfosten in der dünnen Fachmauer mörtelumstäubt schüttelten und die angeheftete Mesusah herunterfiel, hatte Mendez, kreidebleich aufspringend, den Tisch beinahe umgestoßen und dabei den Quartband nebst einigen anderen Büchern auf die Erde geworfen. Jetzt riß er an einem Schellenzuge. Auf das gellende Geklirr der Glocke hastete eine Zofe vom zweiten Stock herunter. Doch Mendez hatte nicht die Geduld, unten auf sie zu warten. Immer drei Stufen auf einen Satz nehmend, traf er in der Mitte der Treppe mit ihr zusammen.

»Wo ist meine Tochter?»

»Ausgegangen.«

»Hat sie den Hund mitgenommen?«

»Nein, Prank liegt unter ihrem Schreibtisch.«

»Gottlob; der kann uns vielleicht helfen, sie zu finden. Hinauf!«

Der Umblick im Wohnzimmer seiner Tochter, dem lichtesten des Hauses, da die Fenster nach dem Synagogenplatze schauten, wirkte beruhigend auf den verängstigten Vater. Unweit des einen Fensters stand ein mannshoher Stickrahmen, daneben auf einer Staffelei ein loser Kupferstich, eine Orgelspielerin vorstellend, und eine reichlich dreimal so große Nachbildung desselben, auf einer von schwarzen Linien in kleine Quadrätchen eingetheilten Tafel von Cäcilie selbst in Wasserfarben ausgeführt, um als Muster für die genau ebenso große, ungefähr halb vollendete Stickerei zu dienen. Auf einem Tischchen lagen lange Strähne feiner Wolle und Floretseide, auf das Sauberste nach den Farben geordnet. Ein dünn gespaltener bläulicher Seidenfaden hing, erst halb vernäht, aus dem eben angefangenen Auge der Orgelspielerin, mit der feinen Nadel etwas unterhalb bei Unterbrechung der Arbeit festgesteckt.

Diese, wie er alsbald vernahm, noch heute früh emsig geförderte Stickerei, von der Cäcilie nur aufgestanden sein sollte, um eine fehlende Farbennüance Wolle oder Seide einkaufen zu gehen, beschwichtigte seinen Schreck. Solche Beschäftigung dünkte ihm unvereinbar mit einem Entschluß der Verzweiflung.

Er sah sich weiter um. Begleitet und vertraulich umschnuppert von Prank, einem bärenhaft zottigen Leonberger, der sich, wie verwundert über den seltenen Besuch, von der Pelzdecke unter dem Schreibtisch erhoben, trat er zunächst an das offen stehende Harmonium. Auf dem Notenhalter lag ein Buch in klein Querfolio aufgeschlagen. Er las auf dem Lederdeckel in großen Goldbuchstaben »Choralbuch,« auf dem Titelblatt dasselbe Wort mit dem Zusatz: »für die lutherische Kirche.«

Noch vor einer Viertelstunde würde diese Entdeckung einen Wuthausbruch, die Konfiskation und sofortige Verbrennung des Buches zur Folge gehabt haben. Jetzt begnügte sich Mendez damit, nach einigem Kopfschütteln tief aufzuseufzen und sich eine Weile die Hand vor die Augen zu halten. Beim Beschauen des Deckels und des Titels hatte er vorsorglich einen Finger zwischen die aufgeschlagenen Seiten gesteckt. Nun legte er das Buch ebenso wieder hin und las die Ueberschrift des Chorals: »Befiehl du deine Wege.« Seine Notenkunde reichte hin, ihn die Musik erkennen zu lassen, die er unten in seinem Zimmer durch die Decke deutlich gehört, als eben die Betbrüder eingetreten waren. Sie hatte ihm so gut gefallen, daß er den Sieben gewinkt, geräuschlos niederzusitzen, um in gerührter Stimmung lauschend keinen Ton zu verlieren. Jetzt regte sich in ihm zwar etwas wie ein Gewissensvorwurf, sich verirrt zu haben zu einem Andachtsgefühl christlichen Ursprungs. Aber das Notenbuch fort zu nehmen konnte er sich doch nicht entschließen. Die dazu schon ausgestreckte Hand an der Thallith, die er noch um hatte, reibend, als wolle er sie mit dem heiligen Gewebe von einer Verunreinigung säubern, und die Troddeln der vier Tzizis vor sich zusammenfassend, wandte er sich ab.

Nun fiel ihm der Schreibtisch und auf diesem die mit verschlungenem C. M. in Gold bestickte Mappe von rothem Maroquin in die Augen. In der Erwartung, in dieser vielleicht eine Aufzeichnung zu finden, die ihm Cäciliens Gemüthszustand verrathe, trat er schnell hin und wollte sie aufschlagen. Aber Prank richtete sich heranspringend auf und legte laut knurrend die Vorderpfoten auf die Mappe.

»Er weiß,« erklärte die Zofe verlegen und ängstlich, »daß das Fräulein Niemand erlaubt, ihre Schreibereien anzurühren.«

»Mir, dem Vater, muß es heute gestattet sein. Ruhig, Prank!«

Obwohl der Hund sein Geknurr leise fortsetzte, bemächtigte sich Mendez der Mappe. Sie war verschlossen. Er brach das zierliche schwache Schlößchen auf und begann die einliegenden Papiere zu durchblättern.

»Doch wieder neue Auszüge aus dem ›Nathan,‹ sogar aus dem verwünschten ›Soll und Haben‹ unseres boshaften Gegners Freytag!« rief er aufgebracht. »Hab' ihr die Bücher doch weggenommen und wieder anzuschaffen strengstens verboten. Da stecken Sie gewiß dahinter, Mamsell Recha!«

Die Zofe begann eine Ausrede zu stammeln, ward aber der Fortsetzung schnell überhoben.

»Ha, was ist das! Ein schwarz gesiegelter Brief an mich!« stöhnte Mendez und sank in den Schreibstuhl.

Er bedurfte einiger Zeit zu dem Entschluß, den Umschlag mit zitternden Händen aufzureißen. Die Buchstaben flossen ihm durcheinander und drei-, viermal mußte er sich die überquellenden Augen trocken wischen, bevor es ihm gelang, sich der wenigen Sätze zu versichern. Ohne zu achten auf das weit über einen Monat alte Datum las er:

»Lieber Vater, wann Du diesen Brief auf Deinem Tische findest, werde ich aufgehört haben zu athmen. Schwer erträglich fühle ich das mir auferlegte Leben schon längst, unerträglich eine Fortsetzung solchen Daseins mit Rosenberger. Versuche den Abschied auf ewig zu verzeihen Deiner unglücklichen Tochter Cäcilie.«

Gell aufschreiend ließ er den Brief fallen. Zusammengeknickt, das Kinn auf der Brust, saß er im Schreibstuhl, schluchzend und winselnd wie ein hülfloses Kind.

Dann raffte er das Blatt wieder auf und las abermals. »Wann ich ihn auf meinem Tisch finde,« rief er aufathmend. »So kann sie ja noch leben.«

Nun sah er auch das Datum.

»Komm', Prank!« schrie er aufspringend. »Komm', such' verloren – such' Zile!«

Das verstand der Hund, schien auch den Ernst der Lage zu ahnen. In seinem Löwenbaß dreimal wild aufbellend, sprang er an die Thür, richtete sich auf, drückte mit der starken Tatze auf den Schloßgriff und öffnete. In wenigen Sätzen beide Stiegen hinunterstürmend hielt er, ungeduldig heulend, vor der verschlossenen Hausthür.

Mendez folgte so schnell er konnte, warf unten die Thallith sehr unehrerbietig ab und auf die Diele, fuhr in den Ausgehrock, schloß auf und wäre barhaupt hinausgeeilt, wenn ihm nicht der Lakai den Hut aufgedrückt hätte.

Erst nachdem er eine Strecke weit gerannt, ward er sich erschrocken bewußt, heute zum ersten Mal beim Ausgang die Berührung der Hausthür-Mesusah und das Bestreichen der Augen mit dem Schaddai-Zauber versäumt zu haben. »Die eine, von Pfungstätter abgeschmetterte, liegen gelassen,« dachte er, »der andern mißachtend vorbeigelaufen! Nun ist mir ein Tag des Unheils gewiß!« Aber zum Umkehren war es zu spät, wenn er den Hund nicht aus den Augen verlieren wollte.

Die witternden Nüstern dicht am Pflaster jagte Prank voran über den Synagogenplatz, dann rechts um die Ecke und hinein in eine der breiteren Hauptstraßen. Schon keuchte Mendez erschöpft, als er den vierbeinigen Wegweiser wartend kauern sah auf der Ladenschwelle eines Stickereigeschäfts in einem der sogenannten Durchhäuser.

Sonst jedes Aufsehen ängstlich vermeidend, trug er jetzt kein Bedenken, mit glühendem Gesicht, schweißtriefend und den kolossalen Hund an der Seite, einzutreten und sich bei den verwundert gaffenden Ladenmädchen athemschnappend zu erkundigen, ob seine Tochter hier gewesen. Seine Hoffnung wuchs, als er vernahm, sie habe vor gut anderthalb Stunden farbige Wolle gekauft, dann aber den Laden durch die Hinterthür verlassen, um durch das Wagenthor des Hofes in die enge Rosengasse und so auf dem nächsten Wege in den Bischofsgaden zu gelangen, wo sich die mit feinen Sticknadeln bestassortirte Handlung befinde, die man ihr empfohlen. Fast erlöst von seiner Angst, nahm er sich noch Zeit, eine starke Seidenschnur zu kaufen, die sich der verständige Prank willig in den Ring des Halsbandes knüpfen ließ. Fast noch mehr erstaunt als über sein verstörtes Aussehen war die Verkäuferin, als er die beträchtliche Herausgabe auf das hingeworfene Goldstück mit ablehnender Handbewegung zurückwies; denn eben so stadtbekannt als seine Freigebigkeit im Wohlthun war die Genauigkeit, mit der er bei Einkäufen darauf hielt, um keinen Pfennig übertheuert zu werden.

Auch er verließ den Laden durch die Hinterthür, an der Schnur ungeduldig vorwärts gezogen von dem Leonberger Rüden, der gleich jenseits der Schwelle freudig anschlagend bezeugte, daß er wieder Witterung gewonnen von der Spur seiner Herrin.

Als Mendez im Bischofsgaden nach der Thür des Nadlerladens einbiegen wollte, knurrte Prank ingrimmig. Da er dennoch auf die kleine Steintreppe trat, riß er ihm die Schnur aus der Hand. Die Nase dicht am Boden, galoppirte er weiter. Erst im Mauerpförtchen zum Pfarrwinkel machte er wartend Halt und streckte, auf den Hinterbeinen sitzend, den Kopf rechts gewendet vor. »Komm',« schien er dem weit zurückgebliebenen Herrn sagen zu wollen, »komm' nur, du Zweibein ohne Nasenverstand, hier bin ich recht!«


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