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Dinglich malend läßt die Dichtung
Erst nur ahnen ihre Richtung,
Mit umriss'nen Vorgeschicken
Dann von fern ihr Ziel erblicken.
In der ansehnlichen Stadt Odenburg liegt hart an der Pulsader ihres Weltverkehrs ein vereinsamtes Plätzchen. Es grenzt an die Stadenstraße und überragt sie, mit Quadern untermauert und senkrecht abgeschnitten, mehr denn mannshoch. Mit dieser Unersteiglichkeit noch nicht zufrieden, hat es sich vollends zugesperrt mit einem thürlosen Gitter von Eisenstäben. Unter dessen Steinschwelle eingebleite, rostüberkrustete Ringe zum Vertauen der Fahrzeuge verrathen, daß einst der Strom den Fuß dieses Gemäuers umspülte und lassen vermuthen, daß damals der Wasserfracht der nächste Weg nach dem Innern der Stadt noch nicht verwehrt war.
Jetzt löschen und laden die Schiffe, meistens Dampfer, am weit hinausgerückten Granitkai. Tagüber wogt und lärmt auf dem Staden ein schwer durchdringliches Gewühl von Sackträgern, Schiebkärrnern, Kohlenfuhren und langen Rollwagen, die mit niedrigen und plumpen Rädern dröhnend hinrasseln über das Basaltpflaster, hoch belastet mit Theekisten, Kaffeesäcken, Kuhhautwürfeln voll Chinarinde für eine weltberühmte Chininfabrik, klirrenden Trambahnschienen, mühlradgroßen Kränzen, Telephon- und Telegraphendrahtes und anderem angekommenem oder abgehendem Schiffsgut.
Die zwei Gebäude, die den »Pfarrwinkel« einschließen, ein kolossales und ein fast zwerghaftes, das einzige Wohnhaus an diesem Plätzchen, sind beide gebaut für die Bedürfnisse und im Styl einer längst vergangenen Epoche, die wenig wußte von der Steinkohle, weniger von Kaffeebohnen und Theekraut, gar nichts vollends von Chinarinde, Dampfern, Telephon und Telegraph. So schauen sie aus ihrer Friedhofstille wie vorwurfsvoll hinunter auf dies geräuschvolle Treiben, überalten Greisen vergleichbar, welche die wilde Lebenslust der Jugend unbegreiflich finden und mürrisch verwünschen.
Links, vom Strom aus gesehen, begrenzt den Pfarrwinkel die uralte, halb romanische, halb gothische Sebalduskirche mit dem ungegliederten, bis zur Kreuzrose massiv steinernen Thurm.
Unter und zwischen den Kirchenfenstern ist das dunkelgraue Gemäuer so dicht überkleidet mit vielhundertjährigem, am Boden beindick geschwollenem Epheu, daß nur an wenigen Stellen ein Eckchen hervorlugt von einer der Gedenktafeln mit Giebelchen zum Schutz vor dem Regen oder von einem der eingemauerten Gruftsteine und hier ein paar halb verwitterte Inschriftbuchstaben, dort ein Stück Wappen erkennen läßt.
Unter dem ostwärts blickenden hintersten Fenster der Apsis hat man eine klafterhohe Platte von dunkelrothem Porphyr sorgsam frei gehalten von den wuchernden Ranken, aber nicht durch Fortschneiden, sondern durch Beiseiteflechten. So sieht man den Denkstein umrahmt von einem ellendick ausbauchenden Wulst von Blattgrün und Geäst. Buchstaben und Zahlzeichen der umlaufenden Randlegende und der vielzeiligen lateinischen Inschrift unter dem ziemlich scharf erhaltenen Wappen zeigen den Schnitt vom Ende des zwölften Jahrhunderts; doch sind sie in neuerer Zeit frisch vergoldet worden.
Rechts begrenzt den Platz, die Front nach der Kirche gerichtet, jenes Wohnhaus mit steilem Schieferdach. Eine Treppe von drei Granitstufen vor der Mitte führt zur einflügeligen Thür von schwarzbraunem Eichenholz, beschlagen mit langgeschnörkelten schmiedeisernen Angelhaltern und einem riesigen Schloß, als dessen Drückergriff ein Drache seinen schuppigen Krokodilschwanz darbietet. Der seltene Relikt einer fast ausgestorbenen Spezies von Einlaßbittern, der Klopfer, soll mit seinem Hammer einen Delphin vorstellen, mit seinem Ambößchen eine Seemuschel, die das wunderliche Unthier aufzubeißen bemüht sei. Sicherlich schon Jahrhunderte damit beschäftigt, hat es doch weiter nichts erreicht, als den Spiegelschliff einer Kreisfläche auf der übrigens gerieften Wölbung und die Verquetschung der eigenen Schnauze zur Mißgestalt eines Pilzes.
Die Zimmer des Hauses können nicht viel über mannshoch sein; denn es mißt bis zum Dach kaum drei Klafter und hat gleichwohl über dem Erdgeschoß noch ein Stockwerk. Aus diesem schaut es nach der Kirche aus fünf, unten aus vier gothischen Fenstern mit theilenden Steinrippen in der Mitte. Auf der dem Strom zugekehrten Giebelseite ist es sonderbarerweise sowohl zu ebener Erde als eine Stiege hoch völlig fensterlos. Dagegen stiert wie ein unförmliches Cyklopenauge aus dem Giebeldreieck mit dem scharfgespitzten Dachwinkel ein Fenster, das schon der flüchtigsten Betrachtung auffallen und seine Entstehung in jüngster Zeit verrathen muß. Es ist ein wohl zehn Fuß breites und ebenso hohes Viereck von großen Glasscheiben und wirkt mit dieser nüchternen Form und modernen Lichtgier wie trotzige Verhöhnung der dämmersüchtigen Gothik des alten Hauses. Wer aufmerksam hinaufsieht, erkennt es als ein hier zu Lande wenig übliches Schiebfenster und erklärt sich dann auch die beiden auf der Außenmauer darunter angebrachten Schienen. Weil eine Aushöhlung der Sandsteinmauer wohl nicht auszuführen war, hat man ihm diesen aufwendigen Senkrahmen eingerichtet. Scharfsichtige oder bewaffnete Augen würden vielleicht auch die Bestimmung dieses Fensters errathen aus dem langen Messingcylinder, der in schräger Stellung hinter den Scheiben gelblich aufschimmert.
Heut, an einem Sonntagsnachmittag, ist die Stadenstraße beinahe leer, selbst von Spaziergängern, da die Odenburger zum Lustwandeln den baumbepflanzten Stadtwall dem schattenlosen Stromufer vorziehen. Hier und da späht ein Angler mit unerschöpflicher Geduld hinunter nach einem Zucken des bunten Schwimmkorks, eben ausnahmsweise nicht belästigt von herumstehenden Gaffern; denn mehr Anziehungskraft auf die müßigen Schulknaben üben ein Photograph und sein Gehülfe. Ueber eine Stunde schon sah man sie mit emsiger Arbeit die Sonntagsruhe brechen, und zwar in deren eigenstem Gebiet, hinter dem Eisengitter zwischen der Kirche und dem kleinen Hause. Jetzt haben sie die tragbare kleine Dunkelkammer unweit der Granitkante des Kais aufgestellt und ihr Instrument auf dem Dreifußstativ nach dem Pfarrwinkel gerichtet.
In demselben Augenblick, in dem der Druck auf ein Elfenbeinknöpschen den Mechanismus für Momentanbilder spielen, den Objektivdeckel auf- und nach einem Sekundenbruchtheil von selbst wieder zuspringen ließ, waren aus der Sakristei zwei Frauen herausgetreten, ein robustes großes Mannweib in geschmacklos grellem Sonntagsputz und eine kleinere in der Kleidung einer Dienstmagd mit einem Kinde auf dem Arm; zugleich war in der halb offenen Thür ein ihnen nachschauender Mann in schwarzem Anzuge sichtbar geworden.
»Licht und Luft,« sagte der Photograph zu seinem Gehülfen, »hab' ich selten so vorzüglich erlebt. Das Bild muß gut ausfallen. Aber ich fürchte, nicht erfreut sein über die lebendige Zugabe wird die Bestellerin.«
Einige Tage später hatte eben diese Bestellerin, die Wittwe des vor anderthalb Jahren verstorbenen Hauptpastors der Sebalduskirche, den Domsekretarius und Kirchenkassenrendanten Mottwitz um einen Besuch im Pfarrwittwenhause bitten lassen.
»Ich habe vor,« begann Frau Sebald, »für einige Zeit Ihre Muße dem Käferstudium abwendig zu machen.«
»Ich stehe zu Befehl.«
»Als alter Freund unseres Hauses und einstiger Lehrer meiner Söhne sollen Sie mir helfen an einem Geburtstagsangebinde für Arnulf. Es muß aber, um rechtzeitig in San Franzisko einzutreffen, binnen vier Wochen abgehen.«
»An meinem Eifer soll es nicht fehlen. Wie schon früher in Mexiko ist jetzt Arnulf auch in Kalifornien und Nevada so liebenswürdig, auf seinen geologischen und bergmännischen Wanderungen für meine Sammlung auf Käfer zu fahnden. Sie machen mir ein Geschenk mit der Erlaubniß, an einem für ihn mitzuarbeiten. Worin soll es bestehn?«
»In einem Album, zu dessen photographirten Blättern Sie den Text liefern sollen. Natürlich in Versen.«
»Welche Bilder soll es enthalten?«
»Einige kann ich Ihnen fertig mitgeben zur kalligraphischen Ausschmückung mit Ihren Reimen: Ulrich's und mein gegenwärtiges altes Gesicht, Arnulf's Vater nach dem Brustbilde dort über dem Sopha, auch seinen Urgroßvater Dietleib Sebald nach dem lebensgroßen Porträt in der Sakristei. Mit den Probeabzügen von fünf anderen kann Herr Pfungstätter jeden Augenblick erscheinen. Nur drei hat er noch nicht in Angriff genommen. Zu dem einen sehen Sie das Original dicht hinter sich unter Glas an der Wand hängen.«
Mottwitz stand auf, um das kleine Aquarell zu betrachten.
»Ein sonderbares Bild!« sagte er. »Die plump steife Ritterfigur mit dem ungeheuern Flamberg ist arg verzeichnet.«
»Die passende poetische Unterschrift werden Sie finden, wenn ich es Ihnen erkläre. Es stellt ein in der Wirklichkeit weit über mannshohes Fenster vor, das zu Sebaldsheim am Ende eines langen Korridors den Vorplatz der Schloßkapelle beleuchtet. In demselben sieht man, zusammengefügt aus grellfarbigen Glasstücken, das mehr denn vierhundert Jahre alte Bild des Kreuzfahrers Udo von Sebaldsheim, des Stifters der Sebalduskirche, unseres Urahnen. Als vor sechsundreißig Jahren eine kleine Gesellschaft aus dem Städtchen A..., wo ich damals mit meiner verwittweten Mutter wohnte, die Abwesenheit der gräflichen Herrschaften benutzte, das Schloß mit der berühmten Rüstkammer und dem bilderreichen Ahnensaal zu besichtigen, schloß ich mich ihr an, um den alten Familiensitz unseres Geschlechts kennen zu lernen. Dieselbe Absicht hatte meinen Stammvetter, den mir damals noch völlig fremden Predigtamtskandidaten Heinrich Sebald, von Odenburg ebendahin geführt. Vor dem Glasbilde des Ahnherrn, das Sie hier von mir selbst möglichst getreu kopirt sehen, sind wir mit einander für's Leben einig geworden.«
»Ein Vers zu diesem Bilde soll mir nicht schwer fallen. Und die beiden andern?«
»Ob das Original zu dem einen erlangbar sein wird, ist leider mir selbst etwas zweifelhaft.«
»Warum?«
»Es befindet sich auch in Sebaldsheim und vermuthlich noch jetzt an demselben Platz, auf dem ich es damals zufällig entdeckte, als uns der Kastellan in ein Thurmgemach hinaufgeführt hatte, um uns die Aussicht aus den Fenstern bewundern zu lassen. Es ist ein Jugendbild meines Großvaters, des weiland nordamerikanischen Obersten Sebald. Nebst mehreren anderen Porträts dort hinauf verbannt, stand es rahmenlos mit dem Gesicht wider die Wand gelehnt. Die Namensinschrift mit Jahreszahl auf der Rückseite bewog mich, es umzuwenden. Das mir aus meiner Kinderzeit erinnerliche Gesicht des Achtzigers würde ich aus den Jünglingszügen schwerlich herausgefunden haben; aber alle meine Schaugefährten behaupteten unverkennbare Ähnlichkeit zwischen mir und dem Bilde. Seitdem hab' ich es nicht wiedergesehen. Eine Kopie für das Album wünsche ich um so lebhafter, je mehr ich Arnulf mit jedem Jahr, um das er der gleichen Altersstufe näher kam, jenem Porträt seines Urgroßvaters, wie es sich meinem Gedächtniß eingeprägt hat, immer ähnlicher werden sah. Wollen Sie sich der Gefahr eines abschlägigen Bescheides aussetzen und Herrn Pfungstätter, der das allein zu unternehmen weigert, nach Sebaldsheim begleiten, um ihm die Erlaubniß zur Photographirung des Bildes auszuwirken?«
»Gern. Ich schreibe sogleich an den Grafen. Gesehen hab' ich ihn nur ein einziges Mal vor langen Jahren nach jenem Ihnen ja nicht unbekannt gebliebenen Vorfall auf der Hirschkäferjagd. Indeß hör' ich ihn schildern als zugänglichen und vorurtheilsfreien Herrn, zweifle daher nicht an seiner Zustimmung.«
»Eine Empfehlung kann ich Ihnen leider nicht mitgeben. Die gräflichen Sebalds sind mir gänzlich unbekannt. Ihre Rückkehr zur katholischen Kirche hat sie unserer geistlich gewordenen älteren Linie seit mehr denn anderthalb Jahrhunderten völlig entfremdet. Auch für das dritte und letzte der noch fehlenden Bilder wird die Aufnahme nicht ganz leicht zu erlangen sein. Sie ist nur möglich aus Ulrich's Wohnung im ersten Stock des Pfarrhauses und auch von da nur an einem heitern Nachmittage, wann die Sonne und ihr Wiederglanz vom Strom durch die westlichen Fenster in die Sebalduskirche hineinscheint. Da ich später mit einem zweiten Exemplar des Albums auch Ulrich überraschen will, müßten Sie Den bei geeignetem Wetter und Sonnenstande auf etliche Stunden fortzuschicken wissen, um dann sogleich Herrn Pfungstätter zu holen. Bei genannter Beleuchtung sieht man nämlich, am zweiten Fenster der Studirstube meines Sohnes stehend, wunderbar deutlich den oberen Theil des großen Kruzifixes in der Sebalduskirche. Mit der photographischen Fixirung beabsichtige ich zugleich eine Mahnung für Arnulf.«
»In welchem Sinne? Dem gemäß werde ich wohl meinen Text zu modeln haben.«
»Sie selbst, mit dem Unterricht, den Sie meinen Knaben ertheilten, als Sie noch Konservator des naturhistorischen Museums waren, haben wesentlich beigetragen zur Abwendung Arnulf's von der Theologie. Gegen den Willen des Vaters und gegen ein Familienherkommen von Jahrhunderten hat er es durchgesetzt, sich der Naturwissenschaft widmen zu dürfen; übrigens, ich bekenn' es, nicht ohne meine Unterstützung. Sein Uebereifer war nahe daran, ihn hinein zu locken in's Lager der Gegner des Christenthums. Doch die Disputationen zwischen ihm und seinem geliebten ältern Bruder, während die Beiden, im Dachstock des Pfarrhauses zusammen wohnend, auf der hiesigen Universität studirten, so wenig sie den Abtrünnigen zur Umkehr bewogen, erwiesen sich dennoch folgenreich und zwar für Beide. Zunächst führten sie beinahe zum Gegentheil der Absichten des älteren. Er wollte bekehren und wurde bekehrt. Während er sich mit eisernem Fleiße der Theologie widmete, fand er doch zugleich Muße für die Werke, die den jüngeren dem Berufe seiner Vorfahren entfremdet. Erst auf seine Fürsprache gestattete der Vater die Einrichtung des Schiebfensters und die Aufstellung eines kostspieligen Fernrohrs. Teilnehmend an Arnulf's Durchmusterungen des Himmels, wollte Ulrich, wie die geologischen und physikalischen, auch die astronomischen Einwendungen gegen die Weltanschauung der kirchlichen Lehre zugleich selbst beobachtend und prüfend kennen lernen, um sie zu widerlegen. Doch wie ich selbst, die ich mit Eifer und Genuß theilnahm an diesen Studien meiner Söhne, fand er sie mehr und mehr unwiderleglich und bekannte das ehrlich. Da freute sich denn Arnulf des Sieges seiner Lehrmeister, fühlte sich aber um so mehr verpflichtet, das Entgegenkommen seines Bruders zu erwiedern mit gleich aufmerksamem Eingehen auf Ulrich's Vertheidigung seines Fachstudiums. Schon geneigt, die Theologie als Unwissenschaft schlechthin zu verwerfen, lernte er nun die schwer erkämpfte Betrachtungsweise kennen, mit welcher Ulrich sein Christenthum zu retten wußte, ohne ein erforschtes Naturgesetz zu verleugnen. Es ging ihm auf, daß die Dogmen doch etwas mehr seien als Aberglaube und Pfaffentrug. Ohne es fehlen zu lassen an Einwänden, fühlte er sich mächtig angezogen von der aus Ulrich's Ideen folgenden Lebenslehre; ähnlich, sagte er selbst, wie ein Baumeister von einem Aufriß, den er zwar vielfach als phantastisch und unausführbar erkennt, aber in den Hauptlinien doch so schön findet, daß er sich die Verwirklichung eines möglichst annähernden Entwurfes vornimmt. Hievon erfüllt, zugleich von einer Ahnung, die sich nun auch mir allmälig aufdrängt: daß Ulrich mit seiner neuen Theologie nicht allzu lange Hauptpastor bleiben werde, ging er nach Amerika, entschlossen und voll Zuversicht, dort mit seiner Geologie, Berg- und Hüttenkunde genügenden Reichthum, zu erwerben, um einst die Ideen des Bruders, den er verehrte wie einen Propheten, als Praktiker verwirklichen zu helfen. Auch scheint ihm nun das Reichwerden drüben überraschend gut zu gelingen. Aber nach seinen Briefen zu schließen, vergißt er seine idealen Vorsätze mehr und mehr über der athemlosen Jagd nach Gold. Er hat sich bedenklich amerikanisirt und schon einen geringschätzigen Ton angewöhnt über Alles, was nicht ausschließlich der Aufgabe dient, sich bestmöglich einzurichten in der Welt wie sie nun einmal ist. Ich war zugegen, als ihm einst Ulrich aus dem Arbeitszimmer des damals schon kranken Vaters das Haupt des gekreuzigten Heilands, von einer Sonnenglorie umstrahlt, hinter dem gemalten Kirchenfenster zeigte und an diesen Anblick eine schwungvolle Improvisation von hinreißender Gewalt über sein Christenthum anknüpfte. ›Ja,‹ sagte darauf Arnulf, den Bruder umarmend, ›solchem Christenthum kann auch ich Treue geloben. Sein Apostel zu bleiben werd' ich Dir helfen, wenn es einst nöthig werden sollte, wie ich fürchte.‹ An diese Szene soll ihn das letzte Blatt erinnern. Er wird es zugleich verstehen als mütterlichen Warnwink und als leise Andeutung, daß die gelobte Bruderhülfe vielleicht bald erwünscht sein dürfte. Fördern Sie dies Verständniß mit einem sinnigen Reimspruch.«
»Den,« rief Mottwitz, »hab' ich schon fertig:
›Vergiß' es nicht, was ihr empfunden,
Was du gelobt als Mann der That,
Als ihr das Haupt voll Blut und Wunden
Umsonnt vom Glorienscheine sah't.‹«
»Vortrefflich!»
»Ich habe nur gereimt, was Sie mir vorgedacht. Will mich nun gleich an die Arbeit machen für das Geburtstagsalbum.«
Er erhob sich.
»Nein, bleiben Sie noch. Ich will versuchen, Ihr Talent auch für die Titelwidmung und die übrigen Blätter ähnlich anzuregen, wie zu der eben gehörten glücklichen Improvisation. Vielleicht gelingt mir das, wenn ich Ihnen Einiges erzähle aus unserer Familiengeschichte. Die ist Ihnen zwar nicht unbekannt, aber doch nicht so genau vertraut, wie sie mir geworden ist durch unsere sorgfältig und ziemlich lückenlos geführte Chronik. Also hören Sie:
»Ehedem pflegten das kleine Haus an der Sebalduskirche nur der Sakristan und der jüngste Diakonus zu bewohnen. Das änderte sich, als die Reformation die Einwohnerschaft Odenburgs bis auf einen geringen Bruchtheil von der Fremdherrschaft Roms befreite und die Sebalduskirche den Lutheranern zuwies.
»Als Anstifter und Führer dieses schnellen Umschwunges wirkte der Sprößling eines der ältesten Patriziergeschlechter der Stadt, der auch in ihrer Nachbarschaft reich begüterte junge Freiherr Dietleib Sebald.
»Von Padua, wo er Humaniora studirt, war er, als Luther's Ruhm die Welt durchstrahlte, nach Wittenberg geeilt, um sich zu tränken mit dem Geiste des gewaltigen Mannes. Als einer der eifrigsten Anhänger und Bewunderer des kühnen Mönchs hatte er geholfen und mitgejubelt bei der Verbrennung der Bannbulle des Papstes.
»Er war ein Nachkomme jenes Ritters Udo von Sebaldsheim, von dem die Inschrift der Porphyrplatte unter dem hintersten Fenster des Chores Zeugniß gibt, daß dieser tapfere Kreuzfahrer nach glücklicher Heimkehr aus dem gelobten Lande durch Schenkung ausgedehnter Aecker, dreier Pfunde Beutegoldes und vieler den Ungläubigen entrissenen kostbaren Edelsteine den Bau dieses, Gotteshauses und die Stiftung des Domkapitels gefördert, auch die Benennung des Heiligthums nach seinem Schutzpatron, dem heiligen Sebaldus, veranlaßt habe.
»Die vertriebenen Pfründner und ihr katholischer Anhang ließen es nicht fehlen an grimmigen Schmähungen des entarteten Enkels. Er zerstöre die Schöpfung seines frommen Urahnen, um dessen Ruhm auszulöschen mit seiner Schande. Auch behaupteten sie, Herr Dietleib habe sich zum Führer der abtrünnigen Ketzer und Kirchenräuber nur aus Habsucht aufgeworfen, um wo möglich einen Theil der Vermächtnisse seines Stammvaters an sich zu reißen.
»Glänzend aber wußte er diese Verleumdung zu widerlegen und zu beweisen, daß er die Macht über die Gemüther, die er in nicht geringem Maße seiner Herkunft verdankte, auch verdiene, und daß seine thatkräftige Begeisterung für die gereinigte Lehre nicht Entartung sei, sondern ganz derselbe in unverminderter Echtheit ererbte Glaubenseifer, welchen einst sein Ahnherr zu anderer Zeit in anderer Richtung bewährt hatte.
»Unter die Urkunde, mit welcher Bürgermeister und Rath zwei Drittel der Einkünfte des Domstifts dem städtischen Krankenhause zueigneten und nur ein Drittel der Kirche beließen zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse, setzte er eine gesiegelte Bestätigung der Schenkungen jenes Udo. Ja, zu Gunsten des Spitals vermehrte er dieselben noch beträchtlich durch Abtretung einer an das Weichbild der Stadt grenzenden Feldmark von mehreren hundert Morgen. Auch den ansehnlichen Rest des Gutes Schwanau, von dem er dies Gelände abgezweigt, trat er ab an die Stadt, aber mit dem Servitut, daß zwei Drittel des Ertrages als Zuschuß zur Besoldung des Hauptpastors der Sebalduskirche zu zahlen seien, so lange das Amt von ihm selbst oder einem seiner Nachkommen bekleidet werde; daß indeß, falls keiner derselben geeignet oder geneigt sei, das Vorzugsrecht der Familie auf die Pfarrstelle geltend zu machen, diese Nebenrente kapitalisirt dem nächstberechtigten Erben ausgefolgt werden solle. Die Baronie mit dem Hauptgut und alten Stammschlosse Sebaldsheim verschrieb er seinem jüngern Bruder Ludolf, jedoch mit der Klausel, daß sie an den ältesten Sprossen der älteren Linie zurückfallen solle, wenn die jüngere dem protestantischen Bekenntniß untreu würde. Dann ging er nochmals nach Wittenberg, um das dort schon begonnene Studium der Theologie zu vollenden, kehrte, von Luther selbst geweiht, in die Vaterstadt zurück und bezog, den Freiherrntitel ablegend, als erster lutherischer Hauptpastor der Sebalduskirche eben dies bescheidene Häuschen.
»Ihm folgten im Amt und als Bewohner dieser engen Residenz sein Sohn, sein Enkel, sein Urenkel, und so fort bis zur sechsten Generation.
»Erst im dritten Dezennium des vorigen Jahrhunderts, als die jesuitische Reaktion übermächtig wurde und in der Vertreibung der protestantischen Salzburger einen ihrer Haupttriumphe feierte, trat eine Unterbrechung dieser Erbfolge ein.
»Die Freiherren Sebald von Sebaldsheim, seit mehreren Geschlechtern durch einträgliche Staatsämter und Offizierspatente für ihre jüngeren Söhne dem Wiener Hofe verpflichtet und kürzlich zu Grafen erhoben, waren längst wieder heimliche Katholiken. Jetzt erhielten sie aus höchsten Regionen einen Wink, dieser bisher geduldeten Heimlichkeit ein Ende zu machen, zugleich die bündigste Versicherung, daß jene Klausel in der Urkunde ihres Besitzes als ein Akt der ketzerischen Rebellion null und nichtig sein und bleiben solle. Da ließ sich denn der regierende Graf mit seiner Familie im Stephansdom zu Wien mit herausforderndem Gepränge eine Messe zelebriren, um seine Rückkehr in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche recht eindrucksvoll zu bekunden.
»Daraufhin hielt Ulrich Sebald, derzeit Hauptpastor an der Sebalduskirche zu Odenburg, das aussichtslose Wagniß, jene unvergessene Klausel geltend zu machen, für seine Familienpflicht. In einem Schreiben an den regierenden Grafen Kurt von Sebaldsheim verlangte er unter Androhung der Klage beim Reichshofgericht Rückgabe der Herrschaft Sebaldsheim an seinen ältesten Sohn Dietleib.
»Nachdem er monatelang vergebens auf Antwort gewartet, erhielt er eine Vorladung vom kaiserlichen Stadtgericht als angeklagt eines unerhörten Erpressungsversuches und sogar als dringend verdächtig einer Urkundenfälschung, da ein Dokument mit der von ihm in angeblicher Abschrift angeführten Bestimmung gar nicht existire.
»Er eilte sofort zum Kantor, der zugleich das Kirchenarchiv in Verschluß und Verwaltung hatte. Dem voran sprang er die Wendeltreppe des Seitenthürmchens hinauf nach dem Gemach, in welchem er die ältesten Pergamente und bei diesen auch das oft gelesene, jüngst abgeschriebene Originalduplikat jener Abtretungsurkunde aufbewahrt wußte. Hätte er beim hastigen Aufstieg einen Moment hinter sich geschaut, so würde ihn vermuthlich ein hämisches Lächeln des Kantors vorbereitet haben auf den Schreck, der seiner wartete.
»Das Dokument war aus dem Schrank verschwunden und blieb unfindbar trotz stundenlangem Suchen. Der nächstliegende Verdacht wurde bald darauf zur Gewißheit, als der Kantor zum Katholizismus übertrat und beim Fürsten L..., einem Schwager des Grafen Kurt, eine wohlbesoldete Archivarstelle annahm.
»So stand nun Pastor Sebald ohne Beweismittel zu seiner Vertheidigung vor einem Gericht, in welchem nur kaiserliche Kreaturen und Jesuitenzöglinge saßen. Seines Amtes entsetzt und zu mehrjährigem Gefängniß verurtheilt, dankte er den Erlaß dieser Strafe lediglich der kräftigen Verwendung des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. Aber auch der war nicht im Stande, ihm von der Stadt die Zahlung des Kapitals auszuwirken, auf das ihm die Stiftung seines Vorfahren ein Recht gab. So berief denn dieser Monarch, der sich gerade damals der vertriebenen Salzburger hülfreich annahm und mit ihnen seine von der Pest entvölkerte Provinz Ostpreußen besiedelte, den mittellos Verjagten eben dorthin als ersten Pfarrer einer für die glaubenstreuen Einwanderer neugegründeten Kirche.
»Erst als unter Kaiser Joseph II. auch Odenburg frei ward von der jesuitischen Vergewaltigung, gelang es wieder einem Sebald, Anerkennung zu finden für sein ererbtes Vorzugsrecht auf das Hauptpastorat an der Sebalduskirche: eben jenem Dietleib, dessen lebensgroßes Bild in ganzer Figur in der Sakristei hängt. Es stellt ihn dar, im Begriff die zweistufige Estrade des Altars zu besteigen, aber noch stehend auf den Steinfliesen des Fußbodens. Da gleichwohl eine Fortsetzung der Oberflächenlinie des Altars ihn ungefähr treffen würde, wo unter dem Talar die Hüfte des breitschulterigen Hünen zu vermuthen ist, so muß er, wenn der Maler nicht übertrieben hat, von der Sohle bis zum Scheitel an die sieben Fuß gemessen haben.
»Diese Vermuthung bestätigt ein auf ihn gemünzter Spottvers, der den Odenburgern bis auf den heutigen Tag geläufig geblieben ist, offenbar kraft wiederholter Auffrischung für seine Nachkommen und Amtsnachfolger, da er in Betreff ihrer ähnlichen, wenn auch nicht mehr ganz so riesenhaften Statur seine Anwendbarkeit behalten sollte, wie noch jetzt für meinen Sohn Ulrich.«
»Ich kenne den Vers,« bemerkte Mottwitz. »Er lautete:
›Im Pfarrhaus die Decke
Hat Sebald, der Recke,
Mit dem Scheitel beschädigt,
Und Sonntags auf Kantisch
Gar Bresche gigantisch
In den Himmel gepredigt.‹
»Auch weiß ich ihn zu erklären. Dietleib hatte in Königsberg studirt, wo sich damals in Kant's Riesengenie ein Sonnenaufgang neuer Wissenschaft vollzog. Denn zur Entdeckung des Weltenbaues durch Kopernikus und des Gesetzes der kosmischen Bewegungen durch Kepler, Galilei und Newton war nun die gleich große Entdeckung des Grundgesetzes der menschlichen Erkenntniß hinzugekommen.
»Auch Dietleib Sebald also hatte wohl gesessen unter der begeisterten Schaar von Jünglingen und reifen Männern, die der tiefste aller Denker dort um sich versammelte, und der Lehre gelauscht, welche bestimmt war, die Geburtshelferin einer hohem Ordnung des Lebens zu werden. Der scharfe Stich des Reimspruchs wird also einer Predigt gegolten haben, welche etwa mit den Hauptergebnissen der kantischen Schrift über die Naturgeschichte des Himmels die Unhaltbarkeit der bisherigen Vorstellungen andeutete. Denn so unzweifelhaft die satirische Strophe bezeugt, daß ein astronomisch oder doch naturwissenschaftlich angehauchter Kanzelvortrag auffällig gewirkt hatte: – Predigten rein weltlichen Inhalts waren damals ganz und gar nicht auffällig, vielmehr überwiegend an der Tagesordnung. Der protestantische Kultus hatte nahezu den tiefsten Punkt kahler und kalter Nüchternheit ersunken. Der puritanische Wahn, jede sinnliche Anregung als unheilig zu verwerfen, hatte auch die letzte Ahnung ausgelöscht, daß ohne Poesie von der Religion, ohne Kunst vom Gottesdienst nur lebenshinderliche, in die Gruft hinunter gehörige Mumienreste übrig bleiben. Hatten doch die Reformirten sogar die Orgel verbannt, ihren Dienst näselnden Vorsängern übertragen und den Altar entkleidet zum schmucklosen Tisch. Aufklärung, das Losungswort der Epoche, schrieb auch der Predigt ihr Wesen vor. Sich mit ihr an Einbildungskraft und Gemüth zu wenden galt für zopfig. Mit den Mysterien des Glaubens wußte der sogenannte gesunde Menschenverstand nichts anzufangen. Nur der Moral und Lebensweisheit gehörte die Kanzel. Von ihr herab populäre Kollegia zu lesen über Viehzucht, Dreifelderwirthschaft und die vortheilhafteste Methode des Kleebaues war weit verbreitete Praxis.«
»Nicht ganz unverwandt dieser Aufklärerei des vorigen Jahrhunderts,« flocht hier Frau Sebald ein, »ist Arnulf's amerikanische matter-of-fact-Neigung. Geben Sie daher Ihrem Text zum Bilde des hünischen Dietleib, unter Anspielung auf jenen Spottvers, ein Spitzchen, das mehr freundschaftlich kitzelt als sticht. Uebrigens,« fuhr sie fort, »scheint das kantisch angeflogene Walten Dietleib's außer dem unbekannten Satiriker weder seinen Pfarrkindern noch seinen Vorgesetzten Anstoß gegeben zu haben; denn laut Inschrift über dem Rahmen ist jenes Porträt von seiner Gemeinde zur Feier seines fünfundzwanzigjährigen Jubiläums gestiftet worden. Bis zu seinem Tode, fast fünfzig Jahre, ist er in seinem Amte geblieben und hat dasselbe seinem Sohne vererben dürfen, dem Großvater meines Ulrich, des vielleicht in ganz Deutschland jüngsten Hauptpastors einer Großstadt, da er, wie Sie wissen, erst im Herbst seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag feiern wird. Doch ich höre Jemand die Treppe heraufkommen. Es wird Pfungstätter sein.«
»Ich bringe die versprochenen Probeabzüge,« sagte der eintretende Photograph. »Die Aufnahmen sind außergewöhnlich gut gelungen, eine derselben sogar in einem Ihnen, Frau Pastor, vielleicht unerwünschten Maße.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Zu städtischer Architektur, wann Luft und Licht vorzüglich sind, nehme ich gern Momentanbildplatten von solcher Empfindlichkeit, daß die Exponirung noch keine Zehntelsekunde zu dauern braucht. So bekommt man von den etwa Vorübergehenden nicht ausgereckte Gespenstflecke, sondern Gestalten mit scharfen Gesichtern zu willkommen belebender Staffage. Doch auch Unerwünschtes kann dabei in das Bild hineingerathen. Entscheiden Sie jetzt, Frau Pastor, ob mir das für Sie zugestoßen ist.«
Er öffnete auf dem Tisch vor dem Sopha die mitgebrachte Mappe und breitete mehrere sehr dünne, noch unaufgeklebte Blättchen aus.
»Gegen diese Photographien des Pfarrhauses, der in großem Maßstabe wiederholten Hausthür, der von ihr aus gesehenen Sebalduskirche mit der Sakristei, die wie eine Miniaturwiederholung des ganzen Gebäudes aus dem Hauptschiff ausknospt, und des Inschriftsteines unter dem Chorfenster werden Sie nichts einzuwenden finden. Aber vielleicht gegen dies vom Kai aus genommene Generalbild des Pfarrwinkels. In das ist mir eine Figurengruppe hineingelaufen. Sollt' Ihnen die störend sein für Ihren Zweck, so könnt' ich sie fortretouchiren. Aber es wäre sehr schade. Bei hellem Sonnenschein war die Luft so ausgezeichnet klar und ruhig, wie ich das in gleicher Vollkommenheit noch nicht erlebt habe. Nehmen Sie meine Lupe. Von diesen drei, genau gesehen vier Gestalten, erreicht die größeste noch nicht das Maß einer Stubenfliege. Wie scharf sind dennoch die Gesichter! Das hier ließe sich vergrößern zum sprechend ähnlichen Konterfei der Frau Hunike, der stadtbekannten Hebamme der Frauenklinik. Sehen Sie, sogar ihr Schnurrbärtchen ist noch erkennbar.«
»Und hier,« bemerkte Mottwitz, der seine Käferlupe aufgeklappt dicht über dem Bilde hielt, »hier, aus der halboffenen Thür der Sakristei streckt Ehren-Spitzer, der Küster, seinen breiten Bulldoggenkopf mit den henkelartigen Zuckohren, um den beiden Frauen mit spionirendem Lauerblick nachzuschauen.«
»Diese Dienstmagd vollends, mit dem vermutlich eben getauften Kinde im Arm,« fügte Pfungstätter hinzu, »erscheint sie nicht durch das Vergrößerungsglas, als ob ein Meister im Miniaturzeichnen sie sorgfältig bis in's kleinste Detail ausgeführt habe, und zwar eigens in der Absicht, ein Räthsel aufzugeben? Hat nicht die Kleidung etwas gesucht Grobes, maskenhaft Unpassendes? Kontrastirt gegen dieselbe nicht auffälligst das fein geschnittene, offenbar nicht mehr ganz jugendliche, ich möchte sagen angewelkte Gesichtchen? Meint man nicht in dem Blick, den sie auf das Kind richtet, etwas zu erkennen von wehmüthiger Zärtlichkeit?«
»Merkwürdig, sehr merkwürdig!« rief Frau Sebald in einem Ton und mit einem Aufblick zu Mottwitz, dem dieser es anmerkte, daß sie weit mehr denke, als in Gegenwart des Photographen auszusprechen wage. Nachdem sie sich das Bild noch eine Weile beschaut, legte sie die Lupe fort, richtete sich aus der unbequem gebückten Haltung auf und rief:
»Aendern Sie nichts, Herr Pfungstätter. Meinem Sohn wird es drüben vergnüglich sein, in diesen mikroskopischen Porträts zwei ihm wohl vertraute, wenn auch nicht gerade sympathische Figuren aus der Vaterstadt zu erkennen. Lassen Sie uns die Probeabzüge hier und liefern Sie mir bald auch die beiden noch fehlenden Blätter in gleicher Vollendung. Der Herr Domsekretär wird Sie zu geeigneter Stunde abholen zur Aufnahme des Kruzifixes, dann auch nach Sebaldsheim begleiten, um Ihnen dort zum Kopiren des bewußten Porträts die Erlaubniß auszuwirken.«
Indem sie die Probeblättchen an sich nahm, dann die Mappe aufhob, um sie zugeklappt dem Photographen zu überreichen und ihm dadurch das Ende der Audienz anzudeuten, fielen auf den Tisch zwei schon aufgezogene Porträts in Kabinetformat.
»Eine schöne Frau,« bemerkte sie, diese Bilder betrachtend, »und ein noch schöneres junges Mädchen. Offenbar Mutter und Tochter. Darf ich fragen, wer Ihnen zu den Bildern gesessen hat?«
»Gemahlin und Tochter des Bankiers Mendez, des älteren Bruders.«
»Sie sehen nicht im geringsten jüdisch aus.«
»Die Frau, eine Engländerin, soll auch nur zur Hälfte, von Seiten ihres Vaters, jüdischer Herkunft gewesen sein.«
»Gewesen?«
»Sie ist vor Kurzem am Nervenfieber gestorben, nachdem sich ihr ältester Sohn vierzehn Tage zuvor erschossen. Jetzt liegt auch Herr Fernando Mendez lebensgefährlich krank. Das ist denn auch der Grund, weßhalb ich die beiden Bilder bisher nicht abliefern konnte. Jetzt darf ich mich wohl empfehlen.«
Als Pfungstätter das Zimmer verlassen, fragte Mottwitz:
»Kennen Sie die mitphotographirte, das Kind tragende Dienstmagd?«
»Ich kenne sie nicht, aber ich erkenne sie wieder. Ihnen, dem alten Freunde, brauch' ich es nicht zu verheimlichen, daß ich in der Sakristei als einzige Pathin zugegen war, als Ulrich das von Frau Hunike angemeldete, von der angeblichen Dienstmagd getragene Kind taufte. Nicht aussprechen aber darf ich, bevor mein Sohn es mir ausdrücklich erlaubt, was ich ferner weiß, und noch weniger, was ich nun vermuthe.«
»Ich glaub' es zu errathen. Das Kind auf der Photographie ist wahrscheinlich dasselbe, dessen Geburt ich vor mehr denn sechs Monaten mit falscher Geschlechtsbezeichnung in das Kirchenregister eingetragen habe, weil die Hunike zwei gleichzeitige Meldungen verwechselte. Gestern erst hat Ihr Herr Sohn den Irrthum im Taufbuch in der vorschriftsmäßigen Form eigenhändig berichtigt. Wurde das Kind nicht Lothar getauft?«
»Mir ist der Mund versiegelt.«