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Fünftes Kapitel.

Auf dem Glärnischgletscher.

 

Arm an Selbstgefühl, Vertrauen
Werden kluge, reiche Frauen.

 

Es war völlig Nacht geworden, als die Beiden eine Viertelstunde später im Wirthshause ankamen. Da hörten sie, daß von den wenigen vorhandenen Fremdenzimmern die beiden letzten im ersten Stock ein Herr mit seiner Tochter bezogen. Nur noch eines zu ebener Erde sei verfügbar; darin wolle man, in Ermanglung einer anderen Schlafstätte, auch dem Führer ein Matratzenlager auf der Diele herrichten.

Dies Zimmer lüftend und dabei zum Fenster hinausschauend, sah Ulrich die Firnen und Gletscher des nach Süden vorliegenden Glärnisch matt und aschgrau sich abheben vom jetzt schwarzblauen und sternbesäten Himmel.

»Die Sterne funkeln verdächtig!« meinte Heiri. »Mit dem Glärnisch wird's auf etliche Tage schwer halten. Der Föhn scheint im Anzug. Wenn der in's volle Blasen kommt, hat man droben seine Noth, sich auf den Beinen zu erhalten. Wo an scharfen Ecken der Windschutz aufhört, da meint man nicht in einen Luftstrom, sondern in einen Wassersturz hinein zu gerathen. Auch mit frischbenagelten Sohlen verliert man die Bodenhaft und muß sich mit den Händen festklammern, um nicht hinunter gestürmt zu werden. Vollends gefährlich wird's dann auf den Gletschern. Da schlägt der warme Wind nicht selten um in Schneesturm, so dicht, daß man keine drei Schritte vor sich sehen kann. Das Schlimmste aber sind die plötzlich aufspringenden, meistens tückisch versteckten Risse. Bin selbst 'mal, als ein unvermuteter Föhn mich zur Umkehr zwang, anderthalb Mann tief in einen solchen hineingestürzt, und das beim vorsichtigen Abstieg in meinen eigenen, keine halbe Stunde zuvor getretenen Spuren. Von unten her hatt' ich den Spalt wohl bemerkt als langen, schmalen Ritz zwischen dem festen Gletschereis und einer überhängenden Dachscholle. Mit dem Eisspieß hinein stochernd und die dünne Kante abtrümmernd, hätt' ich da, wie beim Aufstieg schon oft, den Klaff darunter bloß gelegt und vorsichtig übersprungen. Von oben her war nichts von ihm zu gewahren. So brach das Eisdach unter mir ein. Zum Glück verengte sich der Spalt nach unten, auch war ich im Einbrechen aufrecht geblieben. So konnt' ich mir mit meinem Messer Stufenlöcher in das feste blaue Eis schneiden und hinausklettern. Eine Stunde später wär' ich dreimal so tief gestürzt und nimmer entkommen; denn während meiner Klimmarbeit ging die Eisklamm unter mir immer weiter auseinander. Nun gute Nacht, Herr; werden ja morgen sehen, was zu machen ist.«

Nur halb entkleidet legte sich Heiri nieder, und nach wenigen Minuten verriethen seine regelmäßigen Atemzüge, daß er fest eingeschlafen.

Trotz der erwanderten Müdigkeit wollte das Ulrich lange nicht gelingen. Das Erlebniß in der Kirche, die zu erwartende Fortsetzung desselben mit den jetzt unter demselben Dach weilenden Stammverwandten, und der Versuch, sich die bedeutsamen Phantasmagorieen während der Messe aus der Bildersprache in schlichte Prosa zu übersetzen, beschäftigten zu lebhaft seine Gedanken.

Als er endlich in einen Halbschlummer verfiel, der die erstrebte Ordnung wieder wunderlich verwirrte, da vermischte sich mit den traumhaft durcheinander wogenden Erinnerungs- und Gedankenbildern, was er eben gehört vom Gletscherspalt und zuvor von der Marienpuppe zu Einsiedeln, wie sie Heiri geschildert, als er ihm erzählt von der vergeblichen Wallfahrt seiner Großmutter. Er sah die Eiskluft aufgebrochen vor sich. Er bückte sich hinein in die unten spitz zulaufende Höhle von blauem Krystall. Aus der Tiefe hörte er von einer unvergeßlichen Stimme den Schreckensruf »Lothar!« emporklingen. Dann sah er Hildegard knieen vor einer mit Goldbrokat bekleideten, mit einer Juwelenkrone geschmückten, aber unschön und roh von braunem Holz geschnitzten weiblichen Figur. Neben ihr stand der Geistliche von Netstall und gab ihr die Hostie in den Mund. Weit und immer weiter hinweg von ihm rückte dann die Knieende, ihn mit seltsam fragendem Blick anschauend. Jetzt wogte zwischen ihr und ihm eine breite Wasserfläche. Die Arme nach ihr ausstreckend, saß er auf dem Felsblock am Ufer des Klönsees. Plötzlich wechselte die Szene. Er stand im Pfarrwinkel zu Odenburg, im Talar, durch das Eisengitter über die Stadenstraße und den Fluß hinausschauend. Drüben aber sah er nicht die bekannten Gebäude, sondern die katholische Kirche zu Netstall. Ihre Mauern auf der ihm zugekehrten Seite waren hinweggesunken. Die Altarkerzen umleuchteten Hildegard mit einem Glorienschein. Dann schimmerte vor ihm im letzten Zwielicht abermals der Klönsee; Sterne zitterten in seinem Spiegel, und leise verklang in der Ferne die Melodie:

»Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.«

Unterdeß hatte Hildegard mit ihrem Vater ein Gespräch, zu dessen Verständniß ein Rückblick unerläßlich ist.

Nachdem Lothar in Dalmatien gefallen, war nächster Erbanwart ein Vetter des Grafen, ein verabschiedeter General, der sich mit seiner zahlreichen Familie von seinem Ruhegehalt und den stark beschnittenen Einkünften eines Gutes in Mähren nur mühsam durchbrachte. Da jedoch dieser den Siebenzig nicht mehr ferne Invalide den Grafen Udo, einen überaus rüstigen Fünfziger, zu überleben kaum Aussicht hatte, war als wahrscheinlicher Nachfolger in der Grafschaft dessen ältester Sohn zu betrachten, ein Husarenrittmeister, der ein lockeres Leben geführt und die Belastung des väterlichen Gutes mit hochverzinslichen Insätzen zumeist verschuldet hatte.

Diesen veranlaßte der Graf zu einem Besuch auf Sebaldsheim, bewogen von einer leicht zu errathenden Absicht zum Besten Hildegard's, seines nunmehr einzigen Kindes. Aber der kahlköpfige, bei fünfunddreißig Jahren schon greiselnde Junggeselle mißfiel auch ihm so sehr, daß er Hildegard's unverhohlenen Abscheu natürlich finden und billigen mußte.

Als der Herr Rittmeister schon am zweiten Tage und in der Tochter Gegenwart seine Werbung mit siegesgewisser Dreistigkeit vortrug, nicht wie eine Bitte, sondern wie einen Gnadenbeweis, da kehrte ihm das damals neunzehnjährige Mädchen achselzuckend den Rücken und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu erwiedern. Ihr Vater aber bemerkte mit höflicher Abschiedsverbeugung: er bedaure, daß bei seinen Lebzeiten Sebaldsheim auf einen Besuch des Herrn Neffen nicht mehr hoffen dürfe.

Seitdem führte er mit seiner Tochter ein überaus einfaches und so thätiges als sparsames Leben. Unmittelbar nach Verabschiedung des Erbneffen hatte er vom Fürsten L …, der als Hauptbegründer eines Adelsvereins zu Landspekulationen in Amerika in schwere finanzielle Bedrängnisse gerathen war, dessen nur wenige Meilen von Sebaldsheim entferntes ausgedehntes Schloßgut Wallingen gekauft, damit Hildegard wohl versorgt bleibe, wenn einst der Stammsitz dem Vetter zufalle. Zur Vorbezahlung des Preises und eines fast nur nominellen Zuschusses für die als unerläßlich mitbedungene Uebernahme der zur Zeit so gut wie werthlosen amerikanischen Aktien und Besitztitel war bei dem Odenburger Bankhause Mendez und Söhne eine beträchtliche Anleihe aufgenommen worden. Zur vertragsmäßigen Ratentilgung derselben sollte fortan mindestens die Hälfte aller Einkünfte verwendet werden. Durch Einführung jeder technischen und wissenschaftlichen Vervollkommnung des Ackerbaues und der Thierzucht wußte der Graf den Ertrag sowohl des Stammgutes als der neuen Besitzung rasch zu steigern.

Dabei war Hildegard eine so eifrige als einsichtsvolle Mitarbeiterin, Sie begleitete den Vater zu Wagen und zu Fuß in die Forsten, zu Roß als gewandte und kühne Reiterin nach den entlegeneren Feldmarken. Sie hatte die Oberleitung der großen und einträglichen Milchwirthschaft und Käserei. Kein Irrthum in den Bilanzen der Buchhaltung entging ihrer scharf prüfenden Nachrechnung, kein Mangel oder Ueberschuß der Speicherbestände gegen die schriftlichen Aufstellungen der Inspektoren den Nachmessungen, die in regelmäßigen Fristen stets unter ihrer Aufsicht vorgenommen wurden.

In dieser lebenfüllenden Thätigkeit fand, wie der Vater, auch sie den besten Trost für den Verlust des geliebten einzigen Bruders. Sie fühlte sich so zufrieden, daß ihr von selbst kein Gedanke aufstieg an einstige Aenderung dieses Zustandes. Wurde derselbe ja einmal von Anderen angedeutet, so bestand ihre Antwort nur in einem hellen Auflachen.

Ein wenig amazonenhaft war sie wirklich geworden bei dieser Lebensweise, aber bei Weitem nicht so sehr, als sie dafür galt im Kreise des in der Umgegend begüterten Adels. Vielleicht war es die Scheu vor dieser Eigenschaft, und die nicht minder häufige vor einer Frau von überlegener Klugheit und männlicher Entschlossenheit, was der frühreifen Grafentochter bis über das neunzehnte Jahr hinaus jeden Bewerber fern gehalten hatte. Auch mochte den Söhnen dieser ausschließlich protestantischen Geschlechter die Verbindung mit der einzigen katholischen Familie des Bezirks in dieser Epoche konfessioneller Spannungen bedenklich scheinen, obwohl weder der freigeistige Graf noch seine sehr gläubige Tochter die geringste Spur von intoleranter Strenge oder auch nur zurückhaltender Kühle verriethen, wann sie mit den Evangelischen in Berührung kamen.

Hildegard hatte bisher kaum nachgedacht über diese ihr gar nicht unerwünschte Nichtbeachtung. Aber solches Nachdenken und zugleich eine andere Erklärung der Thatsache wurden ihr aufgedrängt nach dem Tode des Bruders. Kaum war es bekannt geworden, daß ihr Vater für sie die Herrschaft Wallingen erworben, als auch fast jede Woche einen vorwerbenden Vater oder selbst anklopfenden Sohn nach Sebaldsheim führte. Ihre Ablehnungen, anfangs höflich und beschränkt auf die Versicherung, sie hab' es daheim so gut, daß sie sich Besseres nicht zu wünschen wisse, wurden immer schärfer, zuletzt beinahe höhnisch, bis sie schließlich den Vater bat, ohne weitere Anfrage bei ihr jeden »Freier um Wallingen« allein abzufertigen.

So verfiel sie allmälig jener verbitterten Stimmung reicher Erbinnen, die in jedem sich nähernden jungen Mann lediglich einen Spekulanten auf ihren Besitz argwöhnen. Ein meistens begründetes, aber zuweilen auch ungerecht kränkendes Mißtrauen wird ihnen zur andern Natur und prägt ihnen dann einen abstoßenden Zug in's Gesicht. Weil sie nicht leicht in die Lage kommen, einen verlässigen Beweis zu erlangen für ungeheuchelte Liebe um ihrer selbst willen, halten sie sich um so eher für ungeeignet, wahre Neigung einzuflößen, je tüchtiger und tiefer sie angelegt und je freier sie deßhalb sind von selbstgefälliger Eitelkeit. So können sie zuletzt wirklich unliebenswürdig werden, weil sie es zu sein glauben.

Dieser Gefahr seit Jahren ausgesetzt, hatte Hildegard solchen Argwohn auch Ulrich gegenüber, gleich nach dem Zusammentreffen in der Kirche, nicht unterdrücken gekonnt.

»Du hörtest, lieber Vater,« sagte sie jetzt, »welche Auskunft der Kahnführer gab auf meine Erkundigung, ob man nicht von hier auf einem Fußpfade durch's Gebirg nach Stackelberg gelangen könne.«

»Ja wohl. Ich war verwundert über Deine Frage. Nach unserem Reiseplan gedachten wir doch hier einen oder zwei Tage zu verweilen und dann nach Einsiedeln zu gehen, wo Du die Wallfahrtskirche mit dem berühmten alten Holzbilde der Muttergottes besuchen willst. Erst von dort hatten wir vor, über Schwyz, Brunnen, Altdorf, Bürglen, durch das Schächenthal und den Klausenpaß zu längerem Aufenthalt nach Stackelberg zu reisen.«

»Eine Aenderung dieses Planes dünkte mir nur dann wünschenswerth, wenn eine gewisse Vermuthung eintreffen sollte. Leider hat sie sich bestätigt. Ich habe daher, Deine Zustimmung vorbehaltend, den alten Fischer eben zum Führer gedungen. Der Weg soll sehr lohnend, auch bei so schönem Wetter, wie es für mehrere Tage in Aussicht steht, ganz ungefährlich sein.«

»Du fandest unsere Abendfahrt auf dem Klönsee so reizend, diese Gebirgslandschaft von melancholischer Schönheit so harmonirend mit unserer Stimmung und eines Aufenthaltes von etlichen Tagen sehr werth. Was ist Dir in den Kopf gefahren? Welche Vermuthung hat sich bestätigt? Weßhalb willst Du nun so hastig fort von hier?«

»Um nicht nochmals dem zweifelhaften Stammvetter zu begegnen. Was ich befürchtet, ist eingetroffen. Er ist uns nachgereist und wohnt unter uns.«

»Warum just nachgereist? Kann er nicht aus ähnlichen Gründen wie wir diese vom Touristenzug noch verschonte und doch so lohnende Gegend von vorne herein für eine Erholungsreise gewählt haben? Sah'st Du es nicht, daß auch er den Trauerflor trägt, wie es am fünfzehnten Juli alljährlich meine Gewohnheit ist? Was hast Du gegen ihn? Er scheint ein wohlerzogener Mann zu sein.«

»Mir haben seine versteckspielenden Antworten auf Deine Fragen nach seiner Person und Herkunft ganz und gar nicht gefallen. Ich argwöhne, daß er uns nicht erst hieher, sondern überhaupt in die Schweiz nachgereist ist, nachdem er uns wahrscheinlich in Sebaldsheim vergeblich aufgesucht. Was ihn in der Kirche zu Netstall mit uns zusammenführte, war schwerlich ein Zufall.«

»Dein Mißtrauen verblendet Dich!«

»Macht mich scharfsichtig. Dir, aber nicht mir, ist der rasche Seitenblick entgangen, den er auf Dich richtete, indem er es mit selbstgewisser Ruhe hinnahm, daß Du ironisch lächelnd seiner angeblich bürgerlichen Herkunft eine Auslegung gabst, die nach der Heraldik durch einen schrägen Balken im Wappen bezeichnet wird. Er ist kein Bürgerlicher.«

»Sondern?«

»Vermuthlich der nächstjüngere Bruder des unverschämten Rittmeisters.«

»Den hab' ich freilich noch nie gesehen; aber so viel ich weiß, ist auch er Offizier, während die Erscheinung und Haltung dieses Herrn Ulrich Sebald entschieden an den Gelehrten erinnert. Doch gesetzt, Du hättest Recht – was wäre denn dabei so Schlimmes?«

»Je nun, ein Bruder jenes widerwärtigen Vetters wird in derselben Form schwerlich aus edlerem Metall gegossen sein. Doch auch der beste Mann wäre mir unausstehlich, wenn er mich bedrohte mit der Schwägerschaft des Rittmeisters. Ich wiederhole: Freier um – Wallingen sind mir verhaßt, wer sie auch seien.«

»Deine verbitterte Schärfe will mir gar nicht gefallen. Ich schäme mich nun, ihr nur allzu bereitwillig nachgegeben zu haben mit unserer hastigen Flucht aus Netstall. Mußt Du's nicht nach Deinem Katechismus eine Sünde gegen das Gebot der Nächstenliebe nennen, wenn wir einen unverdächtigen Mitmenschen als bösen Feind betrachten und beleidigend meiden?«

»Aber dieser Namensvetter ist mir nicht unverdächtig. Doch gesetzt auch, ich irrte, – ich kann eine dunkle Angst vor ihm nicht los werden. Ein Vorgefühl sagt mir, daß uns Schlimmes bevorstehe, wenn wir weiter mit ihm verkehren.«

»Kind, Kind, Du rufst Dir einen starken, aber schlimmen Bundesgenossen wieder wach, den ich mühsam eingeschläfert hatte; denselben, der mich verführte, dem würdigen Pfarrer zu Netstall die Einladung zum Abendessen mit uns mit erfundenem Vorwande wieder abzusagen und hieher auszureißen: meinen einzigen, aber durch so viele Erfahrungen unüberwindlich gewordenen Aberglauben an den Unglückstag unserer Familie, den fünfzehnten Juli, von dem wir heute noch zwei Stunden zu überstehen haben. Ich erröthe vor mir selbst, aber ich kann nicht widerstehen, wenn auch Du Dich so nachdrücklich bekennst zu der heimlichen Furcht vor den Folgen einer an diesem Tage gemachten Bekanntschaft. Also meinetwegen morgen früh nach Stackelberg. Ich gebe nach, aber mit bösem Gewissen. Wie weiland Deiner Mutter und noch jetzt unserem Sebaldsheimer Kaplan, bin ich auch Dir ein bedenklich lauwarmer Katholik. Nicht von geheimnißvollen Himmelsmächten kommen uns nach meinem Glauben Lohn und Strafe. Was wir sind und wie wir danach handeln, das macht uns glücklich oder unglücklich. Darum sollten wir uns hüten, Schwächen einwurzeln zu lassen, wie meine Menschenscheu auf Grund eines Kalenderdatums, und so unholde Regungen, wie Deinen Argwohn gegen jeden Mann, dem allenfalls das Attentat einer Werbung zuzutrauen wäre. Wenn sie groß wuchern zu Herzensfehlern, bekommt man sie früher oder später zu büßen. So könnte sich gerade unser zweiter Fluchtbeschluß erweisen als die böse Bescherung dieses Tages. In diesem Sinn wünsch' ich verstanden zu sein, wenn ich Dir sage: nicht die Unterlassung des beschlossenen Besuchs, wohl aber unsere Beweggründe kann uns die Muttergottes von Einsiedeln schwer übel nehmen und als sündhaft bestrafen lassen.«

Hildegard schwieg betroffen. Aus dem Munde des wenig kirchlichen Vaters eine Berufung auf die Muttergottes zu vernehmen war ihr so eindrucksvoll überraschend, daß die ohnehin ihrer naiven Gläubigkeit schwer faßliche Vorbemerkung, er meine das allegorisch, davon übertäubt wurde und gar nicht bis in ihr Bewußtsein gelangte. So war sie geneigt, seine Worte einer wunderbaren Eingebung zuzuschreiben, und sann bereits, wie sie, um einem solchen Himmelsbefehl zu gehorchen, ihren Verzicht auf die schon bewilligte Aenderung des Reiseplanes einleiten solle.

»Wenn Du meinst, lieber Vater …« begann sie.

Aber der Graf ließ sie nicht weiter sprechen.

»Jetzt ist es abgemacht!« rief er. »Ich will nicht verantwortlich sein für ein Unheil, vor dem Dein Vorgefühl Dich warnt. Morgen nach Stackelberg. Jetzt gute Nacht!«

Am andern Morgen, noch etwas vor vier Uhr, traten die Beiden ihre Wanderung an; Hildegard heute nicht mehr in schwarzem, sondern in hellgrauem seidenem Reisekleide. Als Führer und Gepäckträger begleitete sie derselbe alte Fischer, welcher sie gestern über den Klönsee gerudert hatte.

Es mochte sechs Uhr sein, als Heiri mit den Kleidern und Stiefeln Ulrich's, die er draußen vor der Thür in Gesellschaft des ebenso beschäftigten Hausknechts gesäubert hatte, eilig in das Zimmer zurückkehrte.

Ulrich schlief noch, aber schwer athmend, die Arme über sich wie nach einem Halt ausstreckend, die Füße gegen das Bettende stemmend, daß es krachte. Von Heiri geweckt, sprang er erschrocken aus dem Bett, fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen und schaute verstört umher.

»Habe unruhig geträumt,« sagte er, »weiß aber sonst nichts mehr davon, als daß ich zuletzt vergeblich bemüht war, herauszuklettern aus einer blauen Eiskluft, wie Du sie gestern geschildert hast. Was gibt es?«

»Herr, es weht schon lauwarm vom Glärnisch herunter, und in etlichen Stunden wird der Föhn aus vollen Backen blasen. Aber« – und dabei wand er sich schon das Seil um den Leib – »aber ich muß nun doch hinauf, und wenn ich's recht errathen habe, wie Euch gestern zu Muthe war, werdet Ihr mit wollen.«

»Was gibt's denn?« wiederholte Ulrich, obwohl er die Antwort schon ahnte und sich hastig anzukleiden begann.

»Vor zwei Stunden haben der Herr von gestern und die Jungfer den Pfad über's Gebirg angetreten. Sie wollen nach Stackelberg. Da müssen sie zwischen dem Bächi- und dem Griselstock allermindestens den letzten Zipfel eines Gletschers überschreiten. Wenn aber ihr Gepäckträger sich eine Stunde sparen will, gibt's da einen Richtweg quer über die Hauptmasse des Eisdachs, das vom Bächistock in's Thal fällt. Bei gutem Wetter ist der ganz unbedenklich, und aussehen kann es nicht schöner als heute; denn bei noch mäßig warmem Südwind ist kein Wölkchen zu sehen am tiefblauen Himmel. Aber ich kenne die tückische Schönheit. Der alte Rieslacher, den sie zum Führer gedungen, scheint ihr zu trauen; hat nicht 'mal ein Gangseil mitgenommen. Ist zwar im Glärnisch erst Gaisbub, dann Senn gewesen, scheint aber jetzt, da er sich seit langen Jahren nur mit Fischen und Fergendienst abgibt, die Anzeichen des Föhn und seine Fährlichkeiten droben vergessen zu haben. So fürcht' ich, er wagt's, die Herrschaften just dort hinüber zu führen, wo ich vor zwei Jahren eingebrochen bin. Der Gang kann uns selbst in arge Noth bringen, aber wir müssen folgen, nun ist's Christenpflicht.«

Ulrich war eifrigst bereit, sogleich und ohne Frühstück aufzubrechen. Das aber litt Heiri nicht, sondern nöthigte ihn, der schon bestellten und im Wirthszimmer bereitstehenden Mahlzeit von Fleisch, Eiern, Käse, Brod und sogenanntem Veltliner über Appetit zuzusprechen, wie er denn auch sich selbst förmlich vollstopfte, um die bevorstehenden Strapazen aushalten zu können. Mit den Resten füllte er sich und Sebald die Taschen, ließ sich auch seine geräumige, beflochtene Umhängflasche vorsorglich mit Kirschwasser füllen.

Richt auf die Spitze des Mittelglärnisch zu schlugen sie dann einen oft schwindelig steilen Kletterpfad ein, den wohl außer Wildheuern und Gemsjägern selten Jemand betreten hatte. So hoffte Heiri den Grafen vielleicht noch einzuholen; denn den hatte Rieslacher erst oberhalb des Klönsees dem in diesen einmündenden Löntsch entlang geführt, um sich dann vermuthlich links empor zu wenden in der engen, südwärts aufsteigenden Schlucht, die zwischen den westlichen Ausläufern des Glärnisch und dem Pragelstock einer der drei Quellenbäche des Löntsch im Lauf der Jahrtausende ausgespült hat.

Nach mehr denn dreistündigem Steigen, das die fortwährend zunehmende Stärke und erschlaffende Wärme des Gegenwindes immer beschwerlicher machte, gelangten sie, endlich wieder bergab schreitend, an die Moräne des in den letzten dreißig Jahren weit zurückgegangenen Gletschers, welcher vom Mittelglärnisch zu Thal sinkt. Nachdem sie deren Geröll überklommen, durchschritten sie die Thalsohle eines flach ausgebreiteten, selten mehr als zolltiefen Gletscherbächleins. Hier erblickte Heiri im hellgrauen Löß, dem Felsenmehl, das die langsam rutschende Eismasse mit den durchgesunkenen Reibsteinen von ihrer Unterlage abgeschliffen und jenes Geriesel von Schmelzwasser ausgeschlemmt hatte, frische Fußspuren, voran die Eindrücke der dickbenagelten Schuhe des Führers, dicht dahinter die von städtischen Herren- und zierlichen Frauenstiefeln. Sie zeigten die Richtung nach dem quer vor ihnen, jenseits einer ansehnlichen Steigung aufgewölbten Gletscher des Hinterglärnisch.

»Habe recht vermuthet,« sagte Heiri. »Dort geht der Richtpfad hinüber nach Luchsing, von dem sich drüben ein Fußweg nach Stackelberg abzweigt. Da sind sie hinauf. Doch was seh' ich! Herr, Euer Glas! Dort am Rande des Eises bewegt sich ein schwarzer Punkt uns entgegen.

»Ja,« fuhr er fort, indem er durch das Fernrohr schaute, »der Rieslacher ist's! Er hat uns gesehen und kommt herunter. Er streckt die Arme in die Höhe. Es hat schon ein Unglück gegeben. Flink, Herr, flink vorwärts.«

»Gott sei gelobt, Heiri,« sagte der alte Führer, als ihn die Beiden erreichten, »daß Du Dein Seil mit hast. Mit einem Krach wie 'n Kanonenschuß ist plötzlich dicht vor unseren Füßen das Eis auseinander geborsten, das Frauenzimmer hinein gerutscht. Steckt gewiß schon eine Stunde anderthalb Klafter tief im Gletscher. Wollte mir Stufen schneiden zum Hinunterklimmen, aber ohne Seil mich halten zu lassen, war's nicht möglich. Bin auch nicht mehr stark genug, ein so großes Weibsbild allein zu heben. Selbst klettern könnte sie doch nicht, ihre Beine sind eingeklemmt.«

So berichtete er in abgerissenen Worten, während sie nach der Unglücksstätte eilten, in weit vorgebeugter Haltung schwer ankämpfend gegen den immer gewaltiger dahersausenden Föhn.

Sobald Hildegard nach dem betäubenden Sturz und Schreck zum Bewußtsein ihrer Lage gekommen, war ihr auch, nach der eingewurzelten Denkweise der Katholiken, die Frage durch den Kopf geschossen, für welche Sünde das die Züchtigung sei; als unzweifelhafte Antwort zugleich die gestrige Warnung ihres Vaters. »Heilige Muttergottes von Einsiedeln,« dachte sie, »nicht am Leben strafe mich für störrischen Eigensinn und falschen Argwohn! Sende mir Hülfe, ich gelobe Deiner Wallfahrtskirche reichlichen, goldenen Dank!«

Der Graf lag auf dem Eise, das Gesicht über dem Spalt. Jetzt vernahm er die hastigen Tritte der Nahenden, und wandte sich um.

»Hildegard,« rief er dann hinunter, »sei getrost, es kommt Rettung!«

»Wenn sie nicht bald kommt, wird es zu spät!« klang es, auch für Ulrich schon hörbar, ächzend und heiser herauf aus der Tiefe. »Die Beine sind mir schon fühllos erstarrt. Ich sehe Funken sprühen durch das blaue Eisgrab; kann kaum noch die Augen öffnen.«

Heiri war schon im Begriff, sich den breiten Gurt mit eisernem Rückenhaken, an den das Seil angeschleift war, unter den Armen um die Brust zu schlingen, aber Ulrich ließ das nicht zu.

»Mich laßt hinunter,« rief er, »ich bin sehr stark!«

Der Wildheuer fügte sich. Rasch bewaffnete er dem Grafen, sich selbst und dem Rieslacher die Absätze mit den mitgebrachten Stacheleisen, damit sie unter der schweren Last nicht ausglitten. Dann umgürtete er Ulrich. Bald schwebte dieser, ziemlich wagrecht hängend und von den drei Männern langsam hinabgelassen, in den Spalt hinunter. Nach der schwülen Föhnluft draußen machte ihn die Kälte drinnen erschaudern.

Den Unterkörper tiefer geneigt und festgezwängt in der spitz zulaufenden Spalte, im Uebrigen in einer der seinigen entsprechenden Körperlage, sah er unter sich das schon halb erstarrte bleiche Mädchen, geisterhaft beleuchtet vom blauen Dämmerschein des Eises. Der Hut war ihr vom Kopfe gefallen, die braunen Haarflechten hingen halb aufgelöst hinunter. Sie athmete rasch und keuchend, beide Arme gegen die kalten Wände gestemmt, um nicht noch tiefer zu sinken. Ihre Augen waren halb geschlossen. »Heilige Jungfrau,« hörte er sie nochmals leise stöhnen, »sende mir Hülfe!«

»Sie kommt schon!« rief er hinab, ihrem Gesicht bereits nahe mit dem seinigen.

Da riß sie die Augen weit auf.

»Lothar!« schrie sie, »kommst Du, mich Dir nachholen? Bin ich denn schon gestorben?«

»Nicht Lothar, einen lebenden Helfer, denselben, der Sie gestern erschreckte durch eine Aehnlichkeit mit dem Bruder, sendet Ihnen unser Heiland.«

Dabei schlang er seine starken Arme um die Mitte ihres Leibes. Erst nachdem er hinter ihr die Finger wie mit stählerner Schraubenzwinge ineinander gekrumpft, rief er:

»Jetzt halt' ich Sie sicher. Stemmen Sie jetzt nicht länger die Ellenbogen wider die Eiswände. Klammern Sie die Hände über meinem Nacken fest zusammen.«

Sie that es. Ihr Gesicht berührte seines. So kalt er es fühlte mit seiner heißen Stirn, ein wonniges Empfinden durchzitterte ihn bis in's Herz. Trotz dem heiligen Ernst der Lage hatte er die ganze Strenge des ihm angeborenen und anerzogenen Pflichtgefühles aufzubieten, um dies an das seine gepreßte Antlitz nicht auch zu küssen. Aber nicht enthalten konnte er sich, zu flüstern: »Armes, liebes, liebes Mädchen!«

Der innige Ton dieser Worte überwältigte ihre Seele. Er fühlte ihren Leib in seinen Armen erbeben. Ihr war, als würden ihre Augen von zwei hinterliegenden Eisstücken aus dem Kopfe gedrängt, so that es ihr weh, nicht schon jetzt einen Strom von Reuethränen weinen zu können über den unverzeihlichen Argwohn, den sie gehegt gegen diesen Abgesandten der Muttergottes von Einsiedeln.

Mit dem lauten Rufe: »Auf!« hatte Ulrich inzwischen das Zeichen gegeben. Die drei Männer zogen an, die nun beinahe verdoppelte Last kräftig, aber behutsam hebend.

Bald darauf konnte Ulrich die Gerettete auf der oben ausgebreiteten Reisedecke niederlegen. Der jähe Temperaturwechsel hatte eine Ohnmacht zur Folge. Erst nachdem ihr Heiri vom Kirschwasser eingeflößt, schlug sie wieder die Augen auf. Ihr Versuch, sich zu erheben, mißlang; aus den Füßen war die Erstarrung noch nicht gewichen. So wurde sie in der Decke von den vier Männern nach einer dem Wildheuer bekannten Schutzhütte getragen, welche man unweit des Gletschersaumes aus unbehauen über einander gelegten Steinen errichtet.

Hier verbrauchte ihr Vater den ganzen Inhalt der Korbflasche Heiri's zum Einreiben ihrer Füße und Waden und nöthigte sie, von dem Wein, den er selbst mitgenommen, ein beträchtliches Quantum zu trinken. Dann wurde sie zum Schwitzen mit dem Wechselanzug aus Ulrich's Reisetasche und den drei vorhandenen Decken eingewickelt und mit dem Seil fest umschnürt.

Bevor das auch mit ihren Armen geschehen, reichte sie dem eifrigst mitbeschäftigten Ulrich die Hand, lautlos, aber zutraulich nickend und mit einem Blick ihrer jetzt weit offenen braunen Augen, der ihn beseligt hätte, wenn er im Stande gewesen wäre, die gleichzeitig in ihm aufspringende Gewissensangst zu unterdrücken.

Er mußte sich zusammennehmen, um nicht schon jetzt hinauszueilen, sondern ihre Einhüllung fortzusetzen. Damit fertig, deutete er auf Heiri und sagte:

»Weit mehr der klugen Voraussicht und hülfebereiten Entschlossenheit dieses jungen Mannes, als mir haben Sie Ihre Rettung zu danken. Ich war ja weiter nichts als die lebendige Zange an seinem Hebeseil.«

Da leuchteten ihre Augen seltsam, während ihre Züge einen schwärmerischen Ausdruck annahmen, fast als habe die Erschütterung durch die schwere Lebensgefahr und vielleicht auch das ungewohnte Maß des ihr eingenöthigten starken Getränks ihre Zurechnungsfähigkeit etwas umschleiert. Den Kopf schüttelnd und mit belegter Stimme, nicht ohne Anstrengung flüsternd, versetzte sie:

»Ich weiß das besser. Die Muttergottes von Einsiedeln hat euch Beide herbefohlen, mich zu retten, und Sie, Herr Sebald, nicht bloß für heute.«

Ulrich rannte wie erschrocken hinaus, und die eingewickelt Daliegende spähte bis zum Verlassen der Hütte vergebens umher nach ihrem Helfer.

Nach anderthalb Stunden fühlte sie sich ihrer Glieder mächtig genug, um den Rückweg anzutreten. Anfangs freilich konnte sie nur sehr langsam thalwärts schreiten, bald aber hatte sie, durch die Bewegung warm und gelenkig werdend, ihre ganze Rüstigkeit wiedergewonnen. Nur zu reden war sie weder geneigt noch fähig. Auf des Vaters erste Frage deutete sie nach einer ablehnenden Handbewegung auf ihren Hals, und wanderte dann völlig stumm bald neben, bald hinter dem Grafen. Dabei sah sie sich recht oft nach Ulrich um, sichtlich verwundert, daß er sie geflissentlich zu meiden schien, und, fast immer allein gehend, eine beträchtliche Strecke hinter den beiden Anderen zurückblieb.

Erst am späten Abend erreichte man das Gasthaus am Klönsee.

Auf der Schwelle blieb Hildegard wartend stehen bis Ulrich ankam. Mit einer etwas linkischen Verbeugung und einem verlegen klingenden »Gute Nacht, Fräulein!« wollte er an ihr vorüber. Aber sie ergriff seine Hand, näherte ihren Mund weitmöglichst seinem Ohr, um sich verständlich zu machen, und sagte, nicht sowohl sprechend als tonlos hauchend:

»Bin stockheiser. Wann meine Stimme wiederkehrt, hab' ich Ihnen eine Abbitte zu leisten. Fahren Sie morgen mit uns nach Einsiedeln. Gute Nacht!«


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