Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Nein! – Evila.

Es kam der Jahrestag der Bewältigung des Grubenbrandes.

Der alte Paul suchte Iwan auf, der, seit er Direktor des Aktiengewerks geworden, in der Hauptkolonie seine Wohnung hatte. Er hatte nicht mehr Zeit, sich in seine Einsiedlerwohnung einzuschließen. Die Stelle eines Direktors erheischt eine fortwährende Berührung mit der Welt.

Er war bereits auf dem Wege zum Bergwerk und nahm den alten Arbeiter in seinen Wagen auf.

»Heute ist ein Jahr um, nach jenem denkwürdigen Tage,« sagte Paul.

»Ich weiß es, lieber Paul; heute werden wir den Tugendpreis vergeben. Hat die Jury ihn irgendwem zuerkannt?«

»Einstimmig einem Mädchen, das seit etwas weniger als einem Jahre im Bergwerk dient.«

»Und habt ihr sie würdig befunden?«

»In jeder Beziehung. Das Mädchen ist fleißig. Sie ist jeden Tag die erste bei der Arbeit und die letzte die fortgeht. Und niemals hört man von ihr eine Klage über die Arbeit, wie von vielen Frauenzimmern, die mit dem Rad des Schiebkarrens um die Wette ächzen. Die nimmt die Arbeit so leicht, als wäre es nur ein Vergnügen. Beladet man ihren Karren, so ermuntert sie noch den Schaufler, nur noch mehr darauf zu legen. Und dann läuft sie mit ihrer Last munter fort und kommt singend zurück, als ob sie von einer Unterhaltung käme. Am Ende der Raststunde treibt sie die andern an, wieder an die Arbeit zu gehen.«

»Ist sie nicht eitel?«

»Nein, Herr. Sie trägt jetzt noch das Feiertagskleid, in dem sie vor einem Jahre hergekommen ist, und das ist jetzt noch so rein wie es damals war. Sie trägt nicht einmal eine Schnur Glasperlen um den Hals, und im Haar hat sie ein schmales Band, nur um es zusammenzuhalten: Des Nachts wäscht sie sich allein ihre Wäsche unterhalb der Schleuse. Nur eins ist seltsam an ihr, daß sie nämlich täglich frische Wäsche anhat. Aber sie wäscht sich sie selbst, sie allein hat die Mühe davon.«

»Ist sie sparsam?«

»In unsrer Hilfskasse hat sie unter allen übrigen den größten ersparten Betrag. Sie könnte noch mehr haben; aber des Sonntags verteilt sie wenigstens einen ganzen Taglohn an die vor der Kirche sitzenden Bettler. Und diese sind doch von seiten unsrer Gemeinde versorgt; aber der Geistliche sagt, es gehöre zum Gottesdienst, daß die Gelähmten vor der Kirche sitzen, damit das Volk an ihnen die Tugend des Almosengebens üben könne.«

»Geht sie fleißig in die Kirche?««

»Jeden Sonntag kommt sie mit uns; aber sie setzt sich nie zwischen die übrigen Mädchen in die Bank, sondern kniet vor einem Seitenaltar nieder und bleibt so, das Gesicht verhüllt während der ganzen Messe.«

»Ist sie gutmütig?«

»Sie hat nie jemanden beleidigt und gerät nie über etwas in Zorn. Einmal hat ihr eine Frau ein beleidigendes Wort gesagt, für das wir eine strenge Strafe vorzuschreiben pflegen. Die Frau wurde auch angegeben, aber das Mädchen leugnete beleidigt worden zu sein. Bald darauf erkrankte die Frau. Sie hatte niemanden um sich, denn sie ist eine alleinstehende Witwe, und dieses Mädchen wachte bei ihr ganze Nächte hindurch und ging abends nach der Arbeit in die Apotheke, um für sie Arznei zu holen.«

»Ist sie keine Heuchlerin, keine Duckmäuserin?«

»Sie ist heiter und ewig zum Scherz aufgelegt. Wissen Sie, Herr, unser Volk ist im Sprechen übermütig und wählt die Worte nicht. Wehe demjenigen unter uns, der bei einem derben Wort Plärren würde. Eine Dorfdirne darf nicht in Klagen ausbrechen, wenn man roh mit ihr scherzt; sie muß den dummen Spaßmacher abtrumpfen und ihm eins auf die Hand geben, wenn er sie mit der Hand berührt hat. Das ist bei uns rechtschaffen. Mit ihrer Zimperlichkeit würde eine Dirne bei uns schlecht ankommen; aber wenn sie uns eine Ohrfeige gibt, so sagen wir: eine wackere Dirne! Sie soll lieber flink mit der Hand sein als flink im Plärren. Nur zuweilen sehe ich sie weinen, wenn Sonntag nachmittags die Jugend im Maulbeergarten im Kreise herumsitzt und mich, Gott weiß zum wievieltenmal, erzählen läßt, wie Sie, Herr, ganz allein den Schlauch in den eingestürzten Stollen trugen und wir glaubten, daß Sie schon verloren seien. Frauen, Kinder halten den Atem an, wenn ich ihnen das erzähle, und sie wissen doch das Ende schon im voraus. Eins seufzt, das andre staunt. Manche freuen sich schon im voraus, daß jetzt die Geschichte kommt, wie die lebendig Begrabenen aus ihren Gräbern herausgebracht werden; andre schaudern, wenn die Geschichte von der Entdeckung des Grubenbrandes kommt. Nur diese eine weint von Anfang bis zu Ende, das Gesicht mit den Händen bedeckend.«

»Und ist sie sittlich?«

»Was diesen Punkt anbelangt, so haben wir die Frauen zusammenberufen, damit sie sagen, was sie über sie wissen. Herr, sie wissen nicht das geringste über die Dirne vorzubringen, was unehrenhaft wäre. Dann haben wir die jungen Dirnen der Reihe nach befragt, ob nicht jemand zu ihr fensterln geht. Alle sagten nein, und sie hätten doch keinen Grund es zu verleugnen; denn eine Dorfdirne ist für einen Dorfburschen, hat er sie gern, so kann er sie nehmen.«

»Gut, lieber Paul.«

Unterdessen kamen sie zum alten Bergwerk. Sie stiegen ab und gingen in das Wächterhaus, das an der verbindenden Zweigbahn stand. Denn jetzt gab es auch eine Zweigbahn durch die ehemals gemiedenen Gründe, welche die Hauptbahn mit dem alten Bergwerk verband.

Da fand Iwan schon einen Teil der Arbeiter versammelt, und er ließ auch die übrigen zusammenberufen und ihnen sagen, daß sie die Arbeit für heute einstellen sollten.

Frauen und Männer versammelten sich allmählich, und nur eine Gruppe von Mädchen war noch im Bergwerk zurückgeblieben. Sie hatten sich vorgenommen, die Arbeit nicht eher stehen zu lassen, als bis sie nicht eine eben angekommene Wagenladung in Karren auf den ungeheuren Kohlenhaufen gebracht hätten, der neben der Eisenbahn der Weiterbeförderung harrte.

Der Kohlenhaufen befand sich zwischen der Stollenmündung und dem Wächterhause, in dem Iwan war.

Dieser konnte daher die Mädchen nicht sehen, er konnte nur ihre heiteren Zurufe hören, mit welchen sie einander zur Beschleunigung der Arbeit anfeuerten.

Eine Stimme begann ein Volkslied zu singen.

Die Melodie war so melancholisch wie die slawischen Volkslieder zu sein pflegen, als wären sie unter Tränen entstanden.

Und die Stimme, welche dieses Volkslied sang, war so schön, so wohlklingend, so empfindungsvoll. Der Text war einfach:

Als ich das Haar dir strich,
Zog ich am Haare dich?
Als ich dich wusch, mein Kind,
War ich je ungelind?

Iwans Gesicht verfinsterte sich.

Wozu singt man diese Weise? Wozu nimmt ein andrer dieses Lied auf die Lippen? Warum läßt man es nicht in Ruhe, warum läßt man es nicht in Vergessenheit geraten?

»Jetzt kommt das Mädchen, Herr,« sagte der alte Paul; »ich höre ihr Lied. Sie wird gleich auf dem Gipfel des Kohlenhaufens erscheinen.«

Nach einer Sekunde erschien das Mädchen auf der Spitze des schwarzen Hügels.

Laufend hatte sie ihren Karren hinaufgeschoben, und oben angelangt, leerte sie den Inhalt desselben mit elastischer Gewandtheit aus. Die großen Kohlenschollen rollten hinab.

Es war eine junge, vollkommen entwickelte Mädchengestalt in einem blauen Leibchen und einem kurzen roten Rock. Aber dieser rote Rock war nicht aufgeschürzt; er ließ nur die wohlgeformten Füße sehen.

Von ihrem Kopf war das bunte Tuch herabgeglitten und ließ den glänzend schwarzen Zopf sehen, den sie um den Kopf gewunden hatte.

Ihr Gesicht war mit Kohlenstaub bedeckt und strahlte von heiterer Laune. Irdischer Schmutz und überirdische Glorie.

Und was der Kohlenstaub nicht bedecken konnte, das waren die zwei großen, schwarzen Augen, die zwei großen, schwarzen Diamanten – die Finsternis voll leuchtender Sterne.

Das Mädchen stand einen Augenblick unbeweglich auf dem Gipfel des Kohlenhügels und blickte erstaunt hinab auf die versammelte Menge.

Im nächsten Augenblick stand Iwan neben ihr.

Außer sich vor Freude war er von der Schwelle des Wächterhauses über den Eisenbahngraben gesprungen und den Kohlenhügel hinaufgeeilt.

»Eveline!« rief er, die Hand des Mädchens erfassend.

Das Mädchen blickte ihn an und sagte dann, sanft den Kopf schüttelnd: »Nein! – Evila!«

»Du bist hier! Du bist hierher gekommen!«

Das Mädchen antwortete sanft: »Hier in Ihrem Bergwerk, Herr, arbeite ich seit einem Jahre; und wenn Sie es erlauben, so werde ich auch ferner da arbeiten.«

»O, nein! Du wirst mein Weib sein!« rief Iwan voller Glut und zog die Hand des Mädchens an seine Brust.

Alle, die herumstanden, konnten es sehen, es hören.

Das Mädchen neigte den Kopf und zog Iwans Hand an ihre Lippen.

»Nein, nein, Herr! Gestatten Sie mir, daß ich Ihre Dienerin sei, eine Magd Ihres Hauses, Ihrer Gemahlin. Ich werde auch so glücklich sein! Ich verlange nicht mehr.«

»Aber ich will es! Du bist zu mir gekommen, um die meine zu sein. Wie konntest du nur so grausam sein, ein Jahr in meiner Nähe zu leben und mich nicht anzusprechen!«

»O, mein Herr, Sie können mich nicht zu sich erheben,« sprach sie mit schmerzvollem Ausdruck, mit qualvollem Zögern; »Sie können mir nicht verzeihen: Sie wissen nicht, was ich gewesen bin.«

»Ich weiß alles und vergebe alles.«

Mit diesem verzeihenden Wort bewies Iwan, daß er gar nichts wußte. Denn wüßte er wirklich alles, so müßte nicht dieses Mädchen zu seinen Füßen, sondern er vor ihr knien und ihre Hände küssen, ihre unentweiht gebliebenen Hände.

Iwan preßte das Mädchen an seine Brust.

Sie aber stammelte: »Sie vergeben mir wohl; aber die Welt vergibt Ihnen das nimmer.«

»Die Welt!« rief Iwan mit dem Stolz der Unabhängigkeit sein Haupt erhebend. »Meine Welt ist hier,« sprach er, auf seine Brust schlagend. »Die Welt? Blicke um dich von diesem Hügel. Alle, die in diesem Tale leben, sind meine Schuldner bis zu ihrer Todesstunde! Jeder Grashalm hat mir es zu verdanken, daß er hier weiter grünen kann! Berg und Tal wissen es, daß nächst Gott ich sie erhalten habe! Ich habe eine Million erworben, ohne irgend jemanden seines Geldes beraubt zu haben! Zu jedem Heller bekam ich noch einen Segensspruch. Von den fürstlichen Palästen bis zu den Hütten der Witwen hinab habe ich die Tränen der Verzweiflung getrocknet. Ich habe meine Feinde aus ihren Gräbern und ihre Witwen und Waisen vom Los der Witwen und Waisen befreit. Mein Name wurde mit Ruhm in die Welt ausposaunt, und ich verbarg mich unter der Erde, um es nicht zu hören. Ich habe die schönste der Frauen auf mich lächeln sehen, und in diesem Lächeln war die ganze Welt! Und ich habe nur den Schlüssel vom Sarg derjenigen erhalten, von der die Welt so schön war. Meine Welt ist hier in mir. Und in dieser Welt hat nie jemand gewohnt und wird nie jemand wohnen, nur du! Sprich, wirst du mich lieben?«

Die Augen des Mädchens verdunkelten sich. Sie fühlte das Himmelreich auf ihr Haupt herabstürzen. Es war das leuchtende Antlitz des Zeus, von dem ein Blick Semele tötete.

»O, Herr,« stammelte sie, »wenn ich jetzt nicht sterbe, so werde ich Sie ewig lieben; aber ich weiß, daß ich jetzt sterben muß ...«

Hiermit sank sie leblos in Iwans Arme. Ihr Gesicht, vor wenigen Augenblicken noch so rot, wurde gelb wie Wachs; ihre Augen, eben noch so strahlend, wurden starr wie Stein; ihr Körper, der im vorigen Augenblick noch einer blühenden Rose glich, wurde matt wie ein abgefallenes Rosenblatt.

Iwan hielt das Mädchen, um das er so viel gekämpft, so viel gelitten und das ihm gesagt hatte: »Wenn ich jetzt nicht sterbe, so werde ich Sie ewig lieben« – ohnmächtig, leblos, mit stockendem Herzschlag in seinen Armen.

»Ich weiß, daß ich jetzt sterben muß ...«

* * *

Aber sie starb nicht.

* * *

Letztes Kapitel.

Was Diamant war, ist Diamant geblieben.

Ende


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