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Ein kleines Lieferauto mit drei Rädern hat auf dem Sommerweg einer holsteinischen Landstraße Panne. Der Fahrer mußte vor einem Lastzug ausweichen, die Räder sanken in den Sand, und nun streikt auch noch der Motor. Das Wägelchen rollt immer wieder zurück in das tief ausgefahrene Gleis. Der Mann schaut sich um. Es müssen doch Leute kommen, mindestens ein Radfahrer. Nur ein Wanderbursche naht heran, ein langer Kerl mit dem schlendernden, ausholenden, gleichmäßigen Schritt eines Menschen, der schon viel gegangen ist. Der Fahrer braucht ihn gar nicht zu bitten, der Fremde bleibt schon stehen und fragt: »Kann ich helfen?«
»Sie kommen wie gerufen. Wenn wir den Wagen erst auf der Chaussee haben, kriege ich ihn schon wieder in Gang.«
Na, ganz einfach ist es nicht. Doch als sie ihn erst einen Schritt vorwärts haben und das Vorderrad auf dem Pflaster steht, wird es schon leichter. Bald brummt der Motor an. Der Fahrer setzt sich hinein. Fährt er einfach davon? Nein, er steigt wieder aus und fragt den langen Burschen, wohin er will und ob er ihn mitnehmen kann, allerdings nur hinten; denn im Führerhäuschen ist kein Platz.
»Ich will nach Burg.«
»Ich nach Marne, da kann ich Sie wenigstens einige Kilometer weiterbringen.«
Hans Holtz klettert auf und läßt sich auf einer Kiste nieder. Es sitzt sich unbequem, wenn man einen schweren Rucksack auf dem Buckel hat. Also herunter damit. Er stellt ihn vor sich hin. Ein funkelnagelneuer Rucksack ist es mit breiten Tragriemen. Er weiß noch immer nicht, wie er glücklicher Besitzer geworden ist. Und was darin steckt, weiß er auch nicht!
Heinrich Mehrmann sagte, als sie heute morgen an ihrem Segelboot standen und Abschied nahmen, er wolle ihn wohl ein Stück begleiten, während Peter das zerfetzte Tuch zum Segelmacher trug. Unterwegs hatte Heinrich gesagt: »Hans, du hast ja nun gar keinen Proviant und so weiter, und da haben wir gemeint, nämlich Fräulein Elke und ich, wir wollten dir so ein bißchen was zurechtmachen. Das heißt, der Plan ging eigentlich von dem Mädchen aus. Wart hier mal einen Augenblick. Gib mal deinen Brotbeutel her.« Und dann hatte er ihm einfach den Brotbeutel von der Schulter genommen und ihn stehen lassen und war in ein Haus gegangen. Eine Frau hatte am Fenster gestanden, die anscheinend auf sie gewartet hatte; denn sie verschwand nun ins Dunkel der Stube.
Hans wartete eine Weile, und dann trat Heinrich mit diesem Rucksack heraus. Zuerst hatte er sich geweigert, ihn anzunehmen, und seinen Brotbeutel wiederverlangt. Aber alles Sträuben hatte nichts genützt. Heinrich hatte ihm den gefüllten Rucksack über die Schultern gehängt und ihm kurz Lebewohl gesagt. Hans hatte nichts zu erwidern gewußt, wie immer, wenn ihn etwas übermannte, und er hatte so starke Hemmungen empfunden, daß er den Händedruck nur kräftig erwiderte und sich dann zum Gehen wenden wollte. Dann war aber die Frau aus dem Hause getreten und hatte ihm einen Brief gegeben, von »Fräulein Marquart, die ich von Kind auf kenne; denn ich habe früher einmal bei Kapitäns gedient«. Ehe er sich's versah, befand er sich mit dem Rucksack, in dem sich nach dem Gewicht zu urteilen ziemlich viel befinden mußte, und dem Brief in der Hand allein auf der Landstraße, wie früher so oft. Doch es überfiel ihn nicht die Melancholie des Wanderns, wie einst, wenn er von Menschen Abschied genommen hatte, die er kennengelernt. Ein Heimatloser wie er klammerte sich an jedes freundliche Wort. Doch nun war er fröhlich.
An der nächsten Wegkurve hatte er haltgemacht, sich umgeschaut, mit der Rückenlast, die ihm ungewohnt war, gegen einen Baum gelehnt und den Brief aufgerissen. Jetzt, wo er auf dem hart gefederten Auto sitzt, zieht er ihn wieder hervor und liest ihn nochmals:
»Lieber Herr Holtz! Sie reisen morgen früh so ganz allein fort. Wir haben uns erlaubt. Ihnen einen stummen Reisebegleiter in der Gestalt eines Rucksacks (hoffentlich wird er nicht zu schwer) zu bestellen, und bitten Sie, ihn gegebenenfalls in Anspruch zu nehmen. Sie werden den Inhalt wohlverschnürt in Paketen vorfinden, die beziffert sind und außerdem eine Zeitangabe enthalten. Wir stellen Ihnen jedoch die Bedingung, die Pakete nur nach Anweisung zu öffnen. Ich weiß, daß Sie Ihre Mutter bald finden werden. Frohen Wandergruß
Ihre Elke Marquart.«
Darunter stand noch: »Paket Nr. 1 ist gegen 10 Uhr zu öffnen.«
Die zierlichen Buchstaben standen steil und fest da. Das Mädchen wußte, was es wollte. So humorvoll und tapfer hatte er Elke gar nicht kennengelernt auf der Fahrt. Es war ihm in den letzten Tagen so viel begegnet, Verwirrendes und Beglückendes, daß er sich selbst noch keine Rechenschaft über seine Gefühle, auch zu Elke, ablegen konnte.
Das Auto hält unvermittelt mit einem Ruck. Hans ist froh, daß er absteigen kann, nicht des Gerumpels wegen, sondern um mit sich und seinem Wanderfreund allein zu sein. Der Fahrer weist ihn nach rechts, grüßt und fährt davon. Hans sieht nach der Uhr und fällt in seinen Wanderschritt. Die Zeit geht ihm viel zu langsam. Doch als es wirklich 10 Uhr ist, sitzt er am Rande einer Marschwiese und stellt seinen Rucksack vor sich hin. Erwartungsvoll wie ein Kind vor dem Christabend öffnet er die Verschnürung des Rucksacks. Er ist gefüllt mit Paketchen, die säuberlich in weißes Seidenpapier gepackt sind. So aufgeregt ist er selten gewesen. Seit Jahren hat ihm niemand mehr eine von erfinderischer Liebe gemachte Überraschung bereitet. Auf dem Päckchen zu oberst ist mit Blaustift eine große Eins gemalt. Er legt sich auf den Bauch ins Gras, setzt das weiße Päckchen vor sich hin, besieht es verliebt von allen Seiten, befühlt es, muß über sich lachen, sieht sich um, findet sich allein, reißt stürmisch die Umhüllung herunter und – findet einen Pappteller mit Obst, geschmackvoll zurechtgemacht. Ein Zettel liegt quer darüber, und Hans Holtz liest:
»Wir wünschen guten Appetit! Sie werden von der ersten Wegstrecke erschöpft sein. Lassen Sie sich ruhig ein Stündchen Zeit. Trifft es sich so, dann lassen Sie sich nieder und denken an all das, was Sie erlebt haben.«
Ein verschlossener Brief liegt beim ersten Paket. Hans öffnet ihn. Ein Fünfmarkstück rollt ins Gras. Auf einem Zettel steht:
»Lieber Hans! Das ist das einzige, was ich Dir mitgeben kann. Alles andre kommt von Fräulein Marquart. Hans, vergiß nicht, was wir in diesen Tagen miteinander gesprochen haben! Dein Heinrich.«
Hans kann nicht nachdenken, er kann gar nichts, er liegt mit Tränen in den Augen im Gras und sieht in den Himmel, wo die Wolken langsam ziehen und ab und zu die Sonne verdunkeln.
Dann wandert er wieder. Nur der leere Pappteller bleibt – unvorschriftsmäßig – am Wiesenrande offen liegen. Er wandert ins Blaue hinein, er langt aus mit seinen großen Schritten, mitten ins Glück, wie ihm scheint – Hans im Glück! Dörfer bleiben zurück. Manchmal fragt er nach dem Wege. Allmählich hört die Marsch mit den Wiesen und dem Brack auf, den Resten einstiger Überflutung, und der Moorgürtel ist zu durchwandern, der zu der hügeligen Geestlandschaft führt. Weit und öde ist die Umgebung der schnurgeraden Straße. Hans sieht das alles nicht. Die Landschaft beeinflußt ihn, den Empfindsamen, heute nicht, nichts berührt ihn als die Freude im Herzen über das Erweckte und Erlebte, und dazwischen kommt immer wieder der Gedanke: Bald siehst du die Mutter!
Dann sitzt er hinter aufgeschichtetem Torf und hat seine Mittagsmahlzeit vor sich, aus seinem Rucksack natürlich. Das zweite Paket, »nicht vor 12 Uhr zu öffnen«, nahm etwas größeren Raum ein als das erste. Es enthielt ein Honigglas Salat mit einem Hornlöffelchen, dazu Butterbrot und ein Ei in einem Aluminiumbehälter. Er liest wieder:
»Jetzt werden (vorausgesetzt, daß Sie unserm Rat gefolgt sind) in der Ferne die blauen Berge sichtbar, an denen hingestreckt die Stadt Burg liegt, Ihr Tagesziel. Sie haben also schon über die Hälfte des Weges hinter sich und sind hungrig. Wir wünschen Ihnen, daß Ihnen das einfache Mahl gut schmeckt. Stellen Sie sich ruhig vor, daß wir jetzt an Sie denken.«
Nebenbei findet er: eine Serviette, die man als Tischtuch auf die braune Torfheide decken kann, und ein Stück Seife, eingewickelt in ein kleines Handtuch, wie es auf Schiffen in Gebrauch ist. Hans hat kein Wasser zur Hand. Das macht nichts. Derartige notwendige Dinge hat er sich schon lange gewünscht.
Der Wanderer hat bald die Berglandschaft erreicht und untersucht gegen 2 Uhr das nächste Paket. Er weiß sofort, was darin ist, man fühlt es: eine Flasche, gefüllt mit Obstsaft, und ein Papierbecher. Er trinkt gleich aus der Flasche, und dabei wird er den Zettel gewahr, der daranklebt:
»Sie werden sich sicher nach einem kühlen Trunk umgeschaut haben. Ihr Wanderbegleiter läßt Sie nicht im Stich. Wir erlauben uns nun einen kleinen Rat: Gehen Sie, wenn Sie am Rand des Hügellandes dahinwandern, einen der schnurgeraden Viehwege nach rechts, so weit Sie kommen, und dann lassen Sie sich irgendwo nieder.«
Natürlich ist keine Frage, daß er den freundlich gegebenen Rat befolgt, sobald es angeht. Übrigens darf er das nächste Päckchen öffnen, wann er will; aber er hat sich diese Freude bis zum Ende des Wiesenweges aufgespart. Nun erkennt er, warum er diesen Weg gehen soll: Er führt an den Kanal, den Großschiffahrtsweg mitten durch die Landschaft der Wiesen, Hügel, Wälder und Felder. Ehe er noch weiß, was das bedeutet, sieht er ein Schiff mit hohen Decksbauten und zwei Schornsteinen langsam und unwahrscheinlich hoch zwischen den Wiesen dahinziehen. Man hört die Maschine rumpeln, der Rauch zieht schräg aufwärts weit über das Land, doch man sieht keine Fahrrinne, nichts von Wasser. Wie eine Vision kommt ihm die Erscheinung vor, als ob die Schiffe ihm folgten vom Hamburger Hafer her und nicht von ihm ließen. Er erklimmt eine Böschung und steht nun am Nordostseekanal, der schnurgerade das Land durchschneidet. Peinlich gepflegt sind die Ufer, die Böschungen in gutem Stand. So breit und großartig hätte er sich das Bauwerk nicht vorgestellt. Er setzt sich an den Böschungsrand und blickt dem Dampfer nach, es scheint ein Schwede zu sein. »Kungsholm, Göteborg«, kann er noch lesen. Dann greift er zu seinem nächsten Paket; er fühlt schon, daß es ein Buch ist. Er schlägt es auf. Auf einem Zettel steht mit der zierlichen Schrift:
»Vielleicht hilft Ihnen dies Büchlein, mit sich und Ihren Gedanken fertigzuwerden. Wenn Sie gern an uns denken, schreiben Sie uns beiliegende Karten und stecken Sie sie bitte noch heute abend in Burg ein. Auch der Herbergswirt nimmt Post entgegen.«
Ein Bleistift ist schon ins Gras gefallen. Mehrere Postkarten liegen da, zwei sind mit der Anschrift von Elke Marquart und Heinrich Mehrmann versehen. Hans schreibt sofort:
»Liebes, liebes Fräulein Marquart! Sie begleiten mich den ganzen Tag, nicht nur in Gedanken. Wir werden uns wiedersehen! Meinen allerherzlichsten Dank!
Ihr Hans Holtz«
»Ich kann Dir gar nicht schreiben, wie glücklich ich bin. Es kommt mir erst langsam zum Bewußtsein. Wenn Du wieder daheim bist und diese Karte empfängst, werde ich mir über alles im klaren sein und meinen Weg finden. Wie viel habe ich Dir zu danken!«
Die Karte an Elke ist übrigens nie abgesandt worden. Abends, als er vor dem Briefkasten in Burg stand, las er sie noch einmal und zerriß sie. »So etwas kann man nicht schreiben. Danken, ja das kann ich nur, wenn ich sie selbst sehe. Elke!«
Das Städtchen Burg ist mit dem Kanalbau aufgeblüht, der den Anwohnern durch die Lieferungen und die Beköstigung der vielen tausend Arbeiter jenes Bauabschnitts reichen Verdienst gab. Doch noch etwas hatte die Stadt zu tragen: die Einschleppung schrecklicher Krankheiten. Eine rote Ziegelbaracke des Lazaretts aus der Kanalbauzeit erinnert daran. Sie steht noch, und zwar an dem idyllischen Weg am Abhang der Hügel entlang, an der Grenze zwischen Geest und Marsch. In jenem Haus ist jetzt eine Jugendherberge eingerichtet. Wenn man aus den Fenstern sieht, gewahrt man das Wahrzeichen von Burg, das Storchnest auf einem hohen Baumstumpf, mitten auf der Wiese.
Hans Holtz meint das Städtchen schon gut zu kennen, als er in Burg einzieht. Sein Reisebegleiter hat ihm eine gezeichnete Karte mit lustigen Bemerkungen und ein Verzeichnis aller sehenswerten Punkte überreicht. Er findet die Herberge so leicht, als ob er als alter Bekannter dort einkehre. Für die Herbergswirtin hat er einen Brief in der Tasche.
»So, Sie kennen Elke Marquart? Na, geben Sie nur das Zeug her, das ich Ihnen aufbügeln soll. Für Elke tun wir alles.«
Was für Zeug? Jetzt wundert Hans sich, warum ihm noch nicht eher aufgefallen ist, daß sein Rucksack während des Tages nur um ein Unbedeutendes leichter wurde. Er stellt ihn auf die grüne Bank ab und hebt einen Packen heraus, der fast den ganzen Boden und die Rückwand ausgefüllt hat. »Für die Herbergswirtin«, steht mit Blaustift darauf. Die Frau hilft auspacken: Eine grüne Joppe, just wie geschaffen zum Wandern, ein feines Oberhemd in zarten Farben, ein einfacher Wollschlips und Taschentücher sind darin.
»Das werden wir bald haben«, sagt die Frau und mustert den Jungen, der gar nicht weiß, wo er hinschauen soll; denn die Frau ist die erste, die um sein Wandergeheimnis weiß, wie es scheint. Doch dann nimmt sie die Kleidungsstücke an sich und tut ganz sachlich.
»Ich soll Ihnen Kaffee machen, steht hier, und einen Schlafsack und Decken geben, Abendbrot haben Sie selbst, schreibt Elke.« Das Mädchen hat aber auch an alles gedacht!
Er sitzt vor der Herberge und verzehrt sein Abendbrot, das ihm sein Wanderfreund überreicht hat. Dann schlendert er durch das Städtchen. Die Brücke von Hochdonn, auf der die Eisenbahnzüge in fünfzig Meter Höhe über den Kanal hinweggeführt werden, soll er sich ansehen, rät Elke ihm. Kleine Wege durch Heide und Wiesen führen an den Bahndamm, der in gemauerte Torbogen und dann in die eiserne Lochbrücke übergeht. Ein Zug donnert hoch über Hans dahin. Dann zieht er den Zettel aus seiner Tasche, der bei der Wäsche lag und den er schnell einsteckte, um ihn vor der Frau zu verbergen:
»An Herrn Holtz. Bald werden Sie Ihre Mutter wiedersehen. Deshalb gestatten Sie mir, Ihnen eine kleine Hilfe für die Aufbesserung Ihres äußeren Menschen zu sein. Ihre Mutter soll sich freuen, wenn sie den Sohn wiedersieht ... Und gelegentlich dürfen Sie ihr auch von mir erzählen.«
Welche Gedanken ihn auch bewegt haben an diesem Tag, alle treten jetzt zurück vor dem Verlangen: Heim zur Mutter! Wann sehe ich sie? Vielleicht morgen? Wie treffe ich sie an? Wird es ihr leidtun, wieder einen Esser mehr versorgen zu müssen, oder wird sie sich des heimgekehrten Sohnes freuen? Dann beschleicht ihn plötzlich ein Bangen: Ja, werde ich sie denn überhaupt finden? Schließlich kennt man sie gar nicht an dem Ort, wo sie jetzt wohnen soll! Wer weiß, ob sie überhaupt noch lebt! Das sind die Gedanken, die Hans Holtz noch bewegen, als er sich in dem leeren Schlafsaal der Herberge zur Ruhe legt.