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Bei Pagensand wendet sich der Strom und fließt wieder westwärts. Mit ungeheurem Prall schlagen die Wogen an die steinerne Wehr dieser Insel. Dann sucht der zum Meer fahrende nächtliche Schiffer nach einem Halt im Südwesten, und er findet das Leuchtfeuer von Krautsand.
Diese Elbinsel liegt hart am hannoverschen Ufer drüben. Sie ist bewohnt, obwohl nicht voll eingedeicht. Man erkennt aus der Ferne nur den weißen Leuchtturm und, die Windschutzbäume überragend, eine Windmühle auf der Mühlenwurt. Dahinter bildet ein kleiner künstlicher Einschnitt einen vortrefflichen Hafen, der zu einer Schiffszimmerei führt. Seitlich reckt sich die Slip aus dem Wasser, und mitten in einem Meer von roten, blauen und zartfarbenen Dahlien und Georginen wächst hoch in den Garten der schwarz geteerte Bug eines Fischkutters. Männer nieten und hämmern daran.
An dem kleinen Hafen, zwischen dem Strom und der Werft, liegt auf einer Wurt aus Rasen das Haus des Schiffers Hansen. Bei Sturmfluten züngeln die Wogen die Wurt hinauf an die Schwelle des Strohdachhauses und kommen wohl auch durch die große Tür auf die Diele und von da in die Küche und in die Stube. Doch das Wasser läuft auch wieder ab. Einen Vorteil haben die jährlichen Sturmfluten: sie nehmen den Schlick aus dem kleinen Hafen mit, der nach der Sturmflut dreiviertel Meter tiefer ist. Hans Hansen, ein Jugendfreund von Kapitän Marquart, ist Schiffer »für kleine Fahrt« mit einem eigenen Motorschoner. Alle vierzehn Tage ankert der Schoner draußen, und Kai, der Schiffsjunge aus Finkenwärder, der zugleich Koch an Bord ist, wriggt seinen Schiffer in den kleinen Hafen bis an den Landungssteg unweit vom Haus, und es gibt jedesmal eine große Freude für die Kinder, wenn der Vater die Wurt emporsteigt. Er bringt ihnen immer etwas mit. Marquarts Kinder sind alle Jahre einige Wochen zur Erholung auf Krautsand gewesen und jedesmal braun wie die Neger nach Haus gekommen. Jetzt ist gerade Elke da, die Neunzehnjährige, ein blondes, frisches Mädchen. Sie steht eben im bunten Waschkleid im Vorgarten auf der Leiter, einen Korb vor sich, und pflückt die letzten Pflaumen. Dauernd fegt ihr der Sturm die Haare ins Gesicht, und immer wieder muß sie sie hinausstreichen. Der Ahn, ein uralter Schiffer mit schlohweißem Kopf, steht wie an jedem Spätnachmittag auf dem Rasen und schaut durch die Bäume auf den Strom, unbeweglich, als erwarte er seinen jüngsten Sohn, der schon lange verschollen ist.
Jetzt kommt Bewegung in den Alten. Er geht an die Hafenfahrrinne, die schon längst trocken läge eine halbe Stunde vor Niedrigebbe, wenn nicht durch den Wind so viel Wasser in der Elbe wäre. Ein Segelboot schwenkt nämlich herein. Der Alte will schon mit den Armen eine abwehrende Bewegung machen, da erkennt er Marquart. Er geht bedächtig zum Steg. Da sitzt das Boot auch schon im Schlick fest. Das macht nun nichts. Elke hat das Boot ebenfalls gesehen. Sie hat es sich schon denken können, daß ihr Bruder nicht bei Hansens vorbeifährt. Mit der Leiter kommt sie; denn das Wasser ist tief unten. Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut beträgt hier etwa drei Meter. Hans steigt als erster hinauf. Er streicht sich über seinen Anzug. Da sieht er die zwei, den uralten Mann und das junge Mädchen, das ihm die Hand entgegenstreckt in dem Glauben, Mehrmann vor sich zu haben, und sagt: »Willkommen auf Krautsand, ich danke Ihnen für das, was Sie an meinem Bruder getan haben.« Dabei leuchten ihre Augen ihn an. Verlegen schlägt er ein und sagt: »Ich heiße Holtz.« Peter, der gerade das Boot liegefertig macht, ruft auch schon hinauf: »Elke, nein, hier ist Mehrmann!«
Nun steigen auch die beiden andern herauf und ziehen die Leiter ein. Peter begrüßt den Urahn, der sich nie verändert, solange er ihn schon kennt, und das sind doch mindestens zwölf Jahre. Dann gibt er seiner Schwester einen freundschaftlichen Klaps und sagt: »Sonst noch jemand hier gewesen?« Er wartet jedoch die Antwort nicht ab, sondern vertäut sein Boot. Der Urahn geht langsam wieder in den Vorgarten und sieht hinaus auf den Strom.
Die jungen Leute wollen die Wurt hinaufsteigen zum Hause, wo die breite Dielentür wie gewöhnlich gegen Abend weit offen steht, um das letzte Licht in den großen Raum fallen zu lassen. Peter will gerade erzählen: »War das ein Wetterchen heute –«, da ertönt draußen Lärm, Lachen und Brüllen. Sie schauen sich um. Einige Hamburger Jachten sind noch mit der letzten Ebbe angekommen. Sie können aber nicht mehr in den kleinen Hafen, sondern haben draußen geankert. Die Segler rudern sich in ihren Beibooten an den Gärten und klettern über ausgediente Anker und allerlei Drahtseile, Tauwerk und Gerümpel hinauf in das Gras, wo sie den Alten lärmend begrüßen, ihn an den Armen packen und umdrehen und ihm gleich ein Trinkgeld in die Hand drücken.
»Hallo, Peter Marquart aus Blankenese ist schon da mit einer ganzen Gesellschaft.«
»Wo liegt dein Kahn? Bist du bei dem Wetter gekommen?«
»Wir sind in einer Tide von Hamburg runter. Zuletzt nur noch mit der Fock. Hein von Ehren ist das Großsegel hops und perdü.«
Sie führen diesen Hein von Ehren in ihrer Mitte. Das Großsegel ging ihm über Bord.
»Du bist ja noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Das muß begossen werden. Hein, gibst für uns einen aus?«
Der geizige Hein von Ehren wird von seinen Kameraden ununterbrochen geneckt. Er ist verdrießlich, und während sie einander begrüßen und auch Hans und Heinrich den Seglern mit ihren prahlerischen Manieren vorgestellt werden, wird in ihm der Zorn wach. Er flucht entsetzlich, gotteslästerliche Worte, die von der Gesellschaft mit schallendem Gelächter quittiert werden. Heinrich Mehrmann ist der einzige, der dem dicken Hein entgegentritt: »Können Sie nicht andre Worte gebrauchen? Lassen Sie gefälligst den Namen Gottes aus dem Spiel!« Hein schwillt die Ader, er will auf Heinrich zugehen; dann lacht er aber schallend: »Mensch, Peter Marquart, du hast dir ja sonderbare Heilige mitgenommen.«
Alles schweigt betreten, bis Hein fortfährt: »Die Fahrt muß begossen werden, Peter, kommt mit.« Dann hebt er die Land und macht eine segnende Bewegung: »Aber deine Heiligen bleiben hier.« Die ganze Gesellschaft zieht ab, indem sie Peter einhaken. Er kann nur noch seiner Schwester zurufen: »Elke, in einer Stunde bin ich wieder hier.« Vom Klinkerweg auf dem Sommerdeich hört man noch das ausgelassene Gelächter der Burschen herüberschallen.
»Ich bin jeden Sommer hier«, fängt nun Elke an zu erzählen. »Manchmal nimmt mich Herr Hansen mit aus seinem Schoner, wenn er gerade mal mit Fracht nach Bremerhaven oder Emden fährt. Nachts geht es dann um Scharhörn herum zur Weser. Ich sitze an Deck, ganz vorne, und sehe dem Meeresleuchten und dem Tummeln der Delphine zu. Auch Seehunde habe ich bei der Scharhörnbake schon gesehen.
Übrigens, Mehrmann, Ihr Verhalten eben war fabelhaft. Hein von Ehren ist ein Ekel. Dem geschieht im Suff noch mal was.«
Sie gehen hinauf ins Haus, und Elke zeigt ihnen die Diele mit dem Herd, die Stube und die Küche mit dem Wasserfilter. Sie reicht ihnen eine Tasse Wasser, und die jungen Leute sind höflich genug, es im Geschmack gut zu finden.
Heinrich Mehrmann äußert den Wunsch, die Werft nebenan zu sehen. »Als Mädchen war mein liebster Spielplatz dort drüben. Der Bas hob mich gern auf die Gerüste, und bei jedem Stapellauf war ich dabei.«
Elke klinkt eine Gartenpforte auf und führt ihre Gäste hinüber. Die Arbeit ruht bereits, nur der Bas steht vorn unter dem Bug des Neubaus mit der Zeichnung in der Land und mißt und rechnet. Er blickt auf.
»Fräulein Elke, will sich dein Bräutigam ein Schiff bestellen? Denn du heiratest ja doch nur einen Schiffer. Welcher von beiden ist es denn?« scherzt er.
»Ich hab noch keinen«, erwidert sie leise und will entweichen; aber der alte Bas faßt sie beim Arm und streicht ihr das Haar aus der Stirn: »Wir kennen uns, Elke. Was nicht ist, kann noch werden.« Dann wendet er sich den beiden Männern zu und erklärt, daß man die Schnelligkeit und die Fahrteigenschaften eines Schiffes vorher berechnen kann und wie man die Zeichnung in die Wirklichkeit überträgt. Er ist Konstrukteur und Schiffbauer zugleich. Heinrich folgt den Worten des Werftbesitzers mit Aufmerksamkeit, während sich Hans ab und zu nach dem Fräulein umschaut, das sich angelegentlichst in die Betrachtung der Dahlien vertieft hat, die unmittelbar neben der Arbeitsstätte der Schiffszimmerer im Garten blühen.
Zu dreien sitzen sie dann auf großen Eichenplanken. »Wie schön ist es hier!« ruft Hans aus. »So hab ich mir immer die Heimat vorgestellt, wenn ich ohne Ziel auf der Landstraße tippelte.«
Elke wendet sich erstaunt an ihn: »Sind Sie denn nirgends zu Hause?«
Nun bricht es aus ihm heraus wie ein Strom, der lange gestaut worden ist und dem man plötzlich Abfluß gewährt. Mehrmann ist bestürzt über die grenzenlose Verbitterung und Vereinsamung, die aus den Worten des Wanderers spricht. Hans Holtz wundert sich über sich selbst. Er kann nicht begreifen, wie er sich diesem Mädchen gegenüber, das er erst vor zwei Stunden kennengelernt hat, so aufschließt. Es drängt vieles aus ihm heraus, was er bis jetzt noch gar nicht klar empfand, geschweige denn in Worte kleiden konnte. Von seiner Mutter erzählte er, von der er vor Jahren Abschied nahm, weil er das karge Leben in dem thüringischen Bergdorf nicht mehr ertrug, von den Wochen und Monaten ziellosen Umherwanderns, von der freudlosen Arbeit im Rheinland, von dem Brief seiner Mutter, und wie er vor Jahresfrist nach einem durchhungerten und durchfrorenen Winter wieder heimkam und erfuhr, daß seine Mutter, der es immer kümmerlicher ergangen, inzwischen zu ihren Verwandten gezogen war nach irgendeinem Dorf im Holsteinischen. Nun hatte er sich auf den Weg gemacht, seine Mutter aufzusuchen, um ihr beizustehen.
Elke schaute ihn immerfort an. Sagt er mehr, als sie vertragen kann? Plötzlich senkt sie den Kopf, schluchzt, dreht sich um und läuft fort. Hans hält bestürzt inne.
»Heinrich, habe ich zuviel gesagt? Du, sprich, Heinrich, habe ich dem Mädchen zuviel gesagt? Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam.«
»Hans, werde ruhig, du mußtest mal das alles aussprechen. Fräulein Elke hat freilich wohl sowas noch nie gehört.«
Der Wind rauscht im Schilf, das die Gärten nach der Wasserseite abschließt. Hans und Heinrich setzen sich im Dämmer an die Abbruchkante des Vorlandes. Sie schauen hinaus auf den Strom. Aschgrau ist die Farbe der Wolken und Wogen, nur die weißen Schaumköpfe glitzern und sprühen. An den Kähnen, die gegen den Strom elbabwärts fahren, spritzen am Bug die Brecher hoch auf und überschütten das ganze Schiff. Einige schwerbeladene Frachtkähne, die in den Wellen stampfen und fast untertauchen, haben vor Krautsand Schutz gesucht und Anker geworfen.
Hans und Heinrich sprechen an diesem Abend lange zusammen. Das Stürmen ist dazu angetan, Hans seinem Freunde vollends aufzuschließen. Doch Heinrich ist ein wissender und verstehender Freund. »Als uns der Bas eben das Schiff auf der Werft wies«, schloß er sein Gespräch ab, »und uns die Baupläne zeigte, schien mir das ein gutes Sinnbild für das Menschenleben. Irgendwo ist auch der Plan unsres Lebens festgelegt, Hans, es kommt nun auf uns an, ob wir willig sind, uns dem Bauplan entsprechend vollenden zu lassen. Das haben wir selbst in der Hand. Unser Schicksal vollzieht sich nicht so zwangsläufig, daß wir nur gleichsam in eine vorbereitete Form hineingezwängt würden wie das Glockenmetall in die Gußform. Wir haben es in der Hand, unser Leben nach dem Bauplan zu gestatten, den der Schöpfer für jeden von uns ausgearbeitet hat. Auch die Tage, die wir zusammen verbrachten, waren nicht umsonst.« Hans versteht, was sein Freund ihm damit sagen will.
Im August geht die Sonne dort in der Gegend mitten im Strom unter. Den ganzen Nachmittag war sie nicht sichtbar gewesen. Doch jetzt erscheint eben über dem Horizont in den zerrissen dahinjagenden Wolkengebilden ein goldener Widerschein, während von oben eine schwarze Wand niederdrückt. Dann taucht auch die Sonne auf! Strahlenbündel schießen zuckend goldenhell aus der Rotglut vor die schwarzen Massen über den halben Himmel hin. Die beiden sind aufgestanden und blicken nach oben, geblendet und erschauernd.
Nun wird es allgemach ganz dunkel. Elke hat die beiden Gäste schon gesucht. Sie trottet von hinten heran. »Das war ein Sonnenuntergang am Sturmtag! Morgen gibt's gut Wetter. Ich freue mich schon, denn ich fahre mit Ihnen, wenigstens bis Brunsbüttel. Heute abend kam eine Karte vom Vater. Er fährt morgen mit seinem Schiff durch den Kanal und nimmt mich dann mit rauf nach Hamburg.« Sie schaut Hans so seltsam an. Dann geht sie neben ihm her. »Wir können nicht länger mit dem Abendbrot auf Peter warten, der Tee wird schon kalt. Das sieht ihm so recht ähnlich. Er sitzt im Wirtshaus und vergißt dabei seine Gäste.« Sie gehen hinauf ans Haus, das sich hoch gegen die Nacht abhebt. Beschützend wie die Flügel einer Glucke sieht das riesige überhängende Strohdach aus. Auf der Diele brennt die Petroleumlampe. Hans ist plötzlich furchtbar müde. Elke nimmt wahr, daß er beim Abendbrot sehr einsilbig ist und kaum ein Wort sagt, wo sie doch alles nett gemacht hat. Er ist wie abwesend. »Sie haben heute so viel erlebt; das beste ist, Sie gehen gleich schlafen«, redet sie ihm mütterlich und begütigend zu.
Die beiden holen ihre Decken aus dem Boot, das noch tief unten im Schlick festsitzt. Elke steht mit der Lampe in der Dielentür und geleitet sie auf den Heuboden. »Fallen Sie nur nicht durch die Luke, sie läßt sich nicht schließen. Ich wäre als Kind mal beinahe hinuntergerollt.« Hans und Heinrich machen sich ein Lager zurecht. »Für Peter bleibt hier an der Tür ein Platz frei. Ich muß noch den Koffer packen. Gute Nacht.« Sie gibt den Jungen die Hand. Hans kann ihr Gesicht nicht sehen, da der Schatten der Lampe es zudeckt. Man hört ihren verhallenden Tritt auf der Stiege.
So viel habe ich noch nie an einem Tage erlebt, denkt Hans Holtz, als er die Decken über das duftende Heu breitet, ich hatte an den letzten beiden Tagen vergessen, wer ich bin. Aber diese letzte Stunde war doch das schönste; denn ich habe mich wiedergefunden!
Beide sagen kein Wort mehr an diesem Abend, doch beide denken dasselbe, und sie wissen nicht, ob es nur Gedanken sind oder ein Gebet. Dann liegen sie im Heu. Lampenschein fällt durch die Luke nach oben und beleuchtet die staubschweren Spinnetze an den Dachsparren. Sie hören ab und zu gedämpftes Tappen und Sprechen unten auf der Diele. Ob wohl das Fräulein Elke dort jetzt geht? Dann verschwimmt Wachsein und Schlaf. Hans träumt, er führe mit einem Schiff hinein in ein riesiges Tor, quer über den Strom, ganz aus goldenem Licht.
In seine Träume rufen die Schlepper, die die Schiffe auf der wilden Elbe holen wollen: »Wir sind da, sollen wir anpacken?«