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Eine Fischdampferflotte fährt seewärts. Die Strömung wird stark; denn das Meer ist nun nicht mehr weit. Die gelohten Netze hängen an den Masten in der Sonne. Ein Fahrzeug sieht genau wie das andere aus: schwarz, häßlich, unharmonisch im Aufbau, der Schornstein dünn und lang. Sie sind fahrende Fabriken, nur dazu bestimmt, tausende Zentner Fische für die Versorgung der Millionenstädte maschinell dem Meere zu entreißen und schnellstens heranzuschaffen. Ein Segelboot kreuzt den Weg des ersten Fischdampfers, der sich nun nicht aufhalten will. Das Boot wendet wieder. Wohin will es eigentlich, zum Kuckuck! Der Kapitän hebt die Hände an den Mund: »Kurs halten.« Sie kommen aber noch gut vorüber.
Unsre Helden sind es, die da auf dem breiten Strom dem Meere zusteuern. Peter ist eben mit dickem Kopf aus der Kajüte gekommen und hat stillschweigend Elke das Steuerruder aus der Hand genommen. Man weiß nicht, ob er ganz nüchtern ist. Bis spät nach Mitternacht hat er mit den Hamburger Seglern gezecht; dann hat er sich ins Boot begeben, um zu schlafen. Nur gut, daß gerade hohe Flut war und das Boot oben am Stegrand auf den Wellen schaukelte, sonst wäre er vielleicht gar nicht hineingekommen. Er hatte nach Decken gesucht, um sich hinlegen zu können, hatte aber keine gefunden und sich fluchend aus der Kleiderkiste allerlei unter den Kopf gestopft, auch Hans' alten Anzug.
Gegen Nachmittag kamen sie dann endlich los. Hans und Heinrich hatten sich vorher ein wenig auf Krautsand umgesehen. Auf der Landungsbrücke, zu der ein ausgedientes Schiff herhalten muß, wurden gerade Schafe in die Fähre nach Glückstadt verladen. Die Tiere scheuten sich, die schmale Brücke nach dem Landungsschiff zu betreten. Man schob sie vergeblich von hinten und schlug unbarmherzig auf sie ein. Schließlich hatte der Fährmann einen Gedanken: Er bückte sich, nahm den Leithammel auf den Rücken und ging voran. Die ganze Herde folgte bedenkenlos. Ebenso sprangen sie alle in das Motorboot, als man das Leittier hinunterwarf.
Gegenüber von Krautsand sahen sie die Türme und Schornsteine von Glückstadt im Sonnenschein liegen, davor die Rynplate, eine Sandbank. Ein Schiffer erklärte ihnen, daß Krautsand vor Jahrhunderten so nahe an Glückstadt gelegen habe, daß die Glückstädter Schiffer von der Mole aus den Mädchen Scherzworte zurufen konnten, die auf Krautsand die Wäsche auf die Bleiche legten. Nach und nach ist die Insel durch das Labyrinth der Deltaarme hinübergewandert und hat sich eng an die Südküste gelegt. Nur eine schmale Binnenelbe, die von einer Holzbrücke überspannt ist, trennt sie. Sogar Autos sieht man nun auf Krautsand.
Elke hatte das Boot hinausgesteuert und wie ein Mann kommandiert. Sie hat sich allerdings nicht über eine widerspenstige Mannschaft zu beklagen brauchen. Die Jungen bewiesen ihr, daß sie schon allerhand konnten.
Nun ist Peter wieder an Deck erschienen. Bis jetzt war er ziemlich ungenießbar; kaum ein paar Worte hat er mit den Kameraden gesprochen. Heinrich hat er allerdings einmal mit »Du Heiliger« benannt. Niemand reagierte darauf. Nun sitzt er mit wässerigen Augen am Steuer.
Das Wetter ist, wie Elke es vorausgesehen hat: wolkenloser Himmel, heiß, sogar schwül. Es hätte eine lustige und ausgelassene Fahrt geben können, wenn – ja, an wem liegt es denn? Hat sie die Seglerschweigsamkeit gepackt, die gewöhnlich am dritten Tag kommt als Rückschlag gegen die Nervenanspannung? Droht die Gemeinschaft der drei, die gestern so beglückend schien, zu zerreißen? Hans fühlt sich unbehaglich und überflüssig. Es drängt ihn, allein zu sein. Um Peter aus dem Weg zu gehen, hat er sich vorn auf dem Deck niedergelassen. Es ist warm, und es sitzt sich gut mit angezogenen Beinen gegen den Mast gelehnt. Man ist von all dem losgelöst, was im Boot vorgeht.
Heinrich weiß, daß Peter ihn als Spielverderber betrachtet, der ihn vor den andern Seglern blamiert hat. Er bemüht sich um den Jungen, der ihm richtig leidtut, setzt sich neben ihn und fängt ein Gespräch an. Doch Peter erwidert ihm kurz und einsilbig. Elke sitzt auf dem Kajütendach an der Sonnenseite; sie streckt die Glieder und ruht. Dann geht auch sie nach vorn. Hans rückt schweigend zur Seite. Sie faltet den Rock zusammen und hockt sich neben ihn.
Das Boot schwenkt jetzt wieder nach dem Ufer. Hinter dem hohen Deich sieht man Kirchturmspitzen und Windmühlenflügel. Da macht der Deich einen riesengroßen Knick. Hans bemerkt es gar nicht, doch Elke weist darauf: »Da drüben hat mal ein Deichbruch stattgefunden, obgleich sie etwas Lebendiges eingebaut hatten.«
Hans schreckt förmlich aus seiner Versunkenheit auf: »Etwas Lebendiges? In den Deich?«
»Es ist ein alter Aberglaube, der durch die Jahrhunderte an den Küsten entlangspukt, daß man etwas Lebendiges einbauen muß, wenn der Deich halten soll. Wenn man auf irgendeine Weise kein Kind bekommen konnte, nahm man einen Hund. Hier hatte man einer Zigeunerin ein Kind abgekauft und es ohne Wissen des Deichgrafen eingebaut. Doch nach ein paar Jahrzehnten, als die Erinnerung von der grausamen Tat beim Deichbau noch im Volke wach war, brach der Deich während einer Sturmflut nahe der Stelle, wo das Kind verschüttet lag. Heute ist das alles verlorenes Land, und der Deich mußte in großem Bogen zurückgenommen werden.«
Sie sprechen leise miteinander über die abergläubischen Gebräuche im Volke, und Hans, der in den letzten Jahren viel herumgekommen ist, kann mancherlei erzählen.
Dann schweigen sie alle. Im Boot herrscht Stille. Die Segel hängen schlaff.
Die Schwüle wird drückend. Wolken türmen sich am Horizont auf und ziehen unversehens höher. Jetzt verdunkeln sie die Sonne. Und mit diesem Augenblick geht eine Veränderung auf dem Strom vor sich: Das Wasser nimmt eine schmutziggraue Färbung an, der Wind wird verhalten böig, und unwillkürlich legt sich eine Spannung aufs Gemüt der Bootsinsassen. Es grollt und donnert in der Ferne.
Elke springt auf und eilt nach hinten zu ihrem Bruder, der, den Steuerholm zwischen den Knien, vor sich hindöst. Sie rüttelt ihn. »Peter, die Segel herunter, Anker auswerfen! Ein Gewitter!«
Peter blickt auf, rührt aber die Hände nicht. »Soll Vater mich auslachen, wenn wir nicht rechtzeitig nach Brunsbüttel kommen? Leute wollen wir mal sehen, wer segeln kann!«
Hans und Heinrich sind auch aufmerksam geworden. »Soll ich die Falltaue losmachen?« Hans steht am Mast bereit.
»Daß du dich unterstehst!« Was ist auf einmal in Peter gefahren? Seine Schwester sieht an ihm herunter, dann will sie nach vorn an den Mast. Doch Peter springt auf, faßt sie und zieht sie zu den Bänken herunter. Dann schiebt er die Kajütentür auf. »Mädchen sofort unter Deck!« kommandiert er. Tonlos gehorcht sie und verschwindet, weil schon die ersten Tropfen fallen.
Einen Augenblick hängen die Segel schlaff, dann kommt der Wind herangefegt. Peter pariert gut. Der Wind wird zum Sturm. Die aufschießende Bugwelle zeigt an, daß sie immer schneller fahren. Sie rasen vor dem Gewittersturm daher. Peter kann das Tau des Segels nicht mehr halten, die Kraft reicht einfach nicht mehr aus! Er mag seine Kameraden nicht um Hilfe bitten, und deshalb legt er es fest – ein waghalsiges und gefährliches Unterfangen bei Gewitterwind! Die beiden andern fühlen das und kommen in seine Nähe. Es regnet stärker. Das Boot schießt durch die Wellen dahin, daß die drei Jungen sich ducken, als säßen sie in einem Rennboot.
Was jetzt vor sich geht, dauert nur einige Minuten: Das Gewitter entlädt sich über ihnen. Blitze schießen zwischen den Wolken hin, und der Donner folgt unmittelbar. Auf dem Wasser fühlt man das Krachen fast körperlich. Der Wolkenbruch wird so heftig, daß die drei im Boot, die schon bis auf die Haut durchnäßt sind, einander kaum noch sehen. Wie ein Dunstschleier legt es sich vor sie. Doch trotzig behält Peter seinen Kurs bei. Mit beiden Händen umklammert er den Steuerholm, obwohl er vor sich nichts sehen kann. Da wird Peters Gesicht auf einmal starr! Er fühlt, daß der Sturmwind sich dreht, in die entgegengesetzte Richtung.
Was geschieht mit dem Boot?
Wird es umgerissen?
Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Boot zu wenden und dem Wind zu folgen. Die beiden andern wissen, daß Peter jetzt kapituliert: das Boot legt sich zur Seite und pflügt in großem Bogen gegen die Ebbe an, von den Böen vorwärtsgepeitscht. Peter sitzt wie aus Erz gegossen da. Nun geht ein Hagelschauer auf sie nieder; doch die Jungen verziehen keine Miene. Sie schließen nur die Augen und klemmen die Hände, die zu schmerzen anfangen, weil die Eiskörner auf die nasse, straffe Haut trommeln, unter ihre Knie. Peter rührt sich nicht.
Nach wenigen Sekunden dreht der Sturm schon wieder. Peter wendet das Boot, das abermals im Getöse des Gewitters beidreht und abwärts fährt. Sie sitzen wie im Bann. Der Hagel ist in Regen übergegangen. Sie rasen in den grauschwarzen Dunst hinein. Der Mast biegt sich und ächzt, als wolle er brechen, so preßt die Bö gegen die Segel. Wenn die Wanten nur halten!
Bald ist Peter am Ende mit seinen Kräften, das fühlt er. Wasser strömt ihm aus dem Haar über das Gesicht, seine Augen schmerzen. Sein Blick sucht die Kameraden; aber er findet sie kaum. Schwillt der Sturm noch an? Das Donnern läßt ihn jetzt schon erzittern; das müssen die Nerven sein, die bald versagen. Noch will er aber nicht nachgeben!
Da, kann das sein?
Nochmals ändert der Sturm seine Richtung. Soll Peter den Kreislauf fortsetzen? Er kann nicht mehr.
»Segel nieder! Ich kann nicht mehr!« Er schreit es in den Sturm hinein.
Die beiden springen auf und laufen über das nasse Deck zum Mast. Hans will die Leine des Großsegels lösen; aber durch die Nässe ist das Tau gequollen, und der Knoten sitzt fest. Peter muß also nochmals wenden und gegen den Strom angehen. Er ist geschlagen. Das Schiff hinterläßt ein brodelndes Kielwasser, als sie den Bogen fahren.
Die Spannung ist aufs höchste gestiegen. Es geht nicht länger mehr, der Sturm reißt das Boot sonst auseinander. Oder die Wogen überrennen und verschlucken es. Peters Nerven halten nicht mehr. Im Licht der Blitze sieht Peter seinen Kameraden Hans am Mast hocken. Jetzt hat er die Leine los! »Segel nieder!« Das Boot schießt in den Wind. Das Segel knallt. Hans steht hochaufgerichtet und läßt das Tau durch die Hände gleiten. Ein Blitz beleuchtet ihn grell. Dann folgt ein furchtbarer Donner! War es nur der Blitz, oder kam der kanonenschußartige Schlag von dem Segel, das auf einmal mittendurch reißt? Fetzen wehen Peter in den Schoß.
Dies ist der Höhepunkt des Gewitters. Die drei Jungen setzen sich erst mal hin, um die Nervenanspannung abebben zu lassen. Peter ist fast begraben unter dem Segeltuch. Der Wind läßt überraschend schnell nach. Hätten sie nur noch einige Minuten ausgehalten! Aber es ging einfach nicht mehr. Und sie fühlen alle drei, was sie nie ausgesprochen haben: In dieser halben Stunde Gewittersturm hat sich in ihnen eine Entscheidung vollzogen. Es war nicht nur eine Angelegenheit der körperlichen Kraft, sie gehören jetzt innerlich zwei Fronten an. Die Gemeinschaft der drei Jungen, die das gemeinsame Erleben der letzten Tage geschlossen hatte und die ihnen noch gestern morgen so beglückend erschien, ist zerrissen. Auch Peter fühlt, daß es keine Wege herüber und hinüber gibt.
Nach einer halben Stunde hört es auf zu regnen. Es dauert auch nicht lange, da scheint die Sonne wieder. Peter ist wie umgewandelt. Die drei sitzen beieinander, als hätten sie eben Blutsfreundschaft geschlossen, naß bis auf die Haut, erschöpft und müde. Elke klettert herauf und sieht sich die drei an. Sie lacht. »Ihr Helden, ihr könnt was! Vater wird sich freuen. Erst mal euer Zeug trocknen«, fährt sie fort.
Wo befinden sie sich? Da ist ja schon der Wasserstandsanzeiger von St. Margarethen. Bis Brunsbüttel ist es nicht mehr weit. Sie entledigen sich nun ihrer nassen Anzüge.
Hans steigt in seinen eignen Anzug aus der Kajüte. Elke mißt ihn mit großen, erstaunten Blicken: »Was haben Sie denn angezogen? Man kennt Sie kaum wieder.« Hans fühlt seine schlotternden, langen Arme. Er ist wieder der Wanderer von früher. »Das ist meins. Mehr hab ich nicht.« In Elke steigt eine Ahnung über die Zusammenhänge auf. Sie errötet und faßt vor Verlegenheit nach den nächstliegenden triefenden Kleidungsstücken, wringt sie aus und hängt sie an den Mast. Dann setzen sie das nasse Focksegel vorn, holen die beiden Paddel hervor und lassen sich mit der Strömung treiben.
Die Leute, die oben auf dem Deich mit dem Fahrrad von ihrer Arbeitsstätte nach Hause fahren, schauen lächelnd hinüber auf das eigenartige Boot mit den bunten Wäschestücken am Mast und dem kleinen Notsegel. Vier junge Menschen mühen sich ab, es vorwärtszubringen. »Jetzt merkt man erst, was der Wind schafft«, sagt Hans, »auf die Dauer könnten wir das gar nicht so machen.«
Brunsbüttel kommt nur sehr langsam näher. Von der Kanaleinfahrt sieht man überhaupt noch nichts. Der Strom treibt sie jetzt vom Lande ab. Dann dreht sich die Spitze. Kaum können sie die Richtung halten. Ist da eine Gegenströmung, oder – wie ein Schreck fährt es durch Peters Hirn – ist das schon die Flut? Der Hauptstrom, in den sie jetzt kommen, hat tatsächlich schon gekentert. Zerschlissene Kohlenkörbe treiben stromaufwärts. Die Jungen arbeiten wie besessen, doch die Strömung ist stärker. Sie dreht das Boot und treibt es quer über das Fahrwasser, den Sandbänken zu, wo vor über 200 Jahren Altbrunsbüttel in einer Sturmnacht versank. Da sehen sie auch die kleinen Leuchttürme, die die Einfahrt zum Kanal bezeichnen. Sie entfernen sich davon. Erschöpft lassen sie die Hände sinken. Es hat keinen Zweck!
Peter blickt sich um. Ein großes Schiff kommt von Hamburg herunter; an dem Aufbau erkennt man schon von weitem einen Monte-Dampfer mit zwei hohen weiß-roten Schornsteinen. Das Schiff ist über die Toppen geflaggt, die »Monte Rosa« auf einer Vergnügungsreise. Sie treiben mitten im Fahrwasser dahin, unfähig, aus dem Kurs des Schiffes zu gehen. Warnend erklingt laut tutend das Signal: »Aus dem Weg!« Doch die Jungen rühren sich nicht. Sie sehen den hohen Bug des Schiffes auf sich zukommen, als wolle es sie zerschneiden. Die »Monte Rosa« will anscheinend in den Kanal. Nur einige Meter fährt das Schiff an ihnen vorbei. Elke steht am Mast und winkt übermütig. Die Leute lachen und schreien und winken. Musik erklingt. Das Boot dümpelt im Sog. Die Jungen sitzen schweigend da, als ob sie das Ganze nichts anginge.
Nun ist die »Monte Rosa« vorüber. Da spritzt ein kleines Dampfboot der Wasserschutzpolizei heran. Man hat anscheinend vom Ufer aus den Vorgang mitangesehen. Das Schiff umkreist sie in großem Bogen; dann tritt der Beamte aus dem Steuerhäuschen und ruft: »Was macht ihr denn hier?« Peter antwortet achselzuckend: »Wir können nicht mehr. Segel havariert.« Der Beamte versteht. Das Schiffchen dampft heran, der Heizer klettert aus einer Luke und wirft ihnen eine dicke Trosse zu. Ein Ruck, das Segelboot dreht sich, und in rascher Fahrt geht es im Schlepp dem Ufer zu.
Die »Monte Rosa« steht jetzt still, und langsam drückt die Flut sie herum, sie liegt schon mit ihrer vollen Breite im Gegenlicht der Abendsonne.
Das Segelboot wird zur Station bei den alten Schleusen geschleppt. Die Beamten treten lachend heraus und mustern die Schiffbrüchigen. Elke ist auffällig lustig. »Es wäre schade um die Deern, wenn ihr versoffen wärt!« ruft man ihnen zu. Dann heißt es: »Achtung!« Die Trosse fliegt hinüber. Elke dankt und winkt. Peter springt ans Steuer und wendet das Boot, das noch Schwung hat, der alten Schleuse zu, die nur selten benutzt wird. Leise gleiten sie an der Leitmauer dahin, bis eine senkrechte eingelassene Eisenleiter kommt. »Festhalten!« ruft Peter. Das Boot steht. Hans steigt mit den Tauen hinauf und vertäut fachgerecht. Das Boot kann sich mit der Flut heben und bleibt doch an seinem Platz liegen.
Dann stehen sie auf der Kaimauer, Hans und Peter, und sehen sich an. Peter findet im Gesicht des andern einen neuen Zug, so kennt er Hans gar nicht. Sie schauen verlegen zum Boot hinunter. Heinrich will gerade hinaufsteigen, da winkt Elke ihn in die Kajüte. Man hört Lachen, Tuscheln, Flüstern. Beide steigen dann mit Elkes Koffer herauf. »Pet, du nimmst doch eben den Koffer mit rüber zur neuen Schleuse, ich will Herrn Mehrmann in der Stadt noch was zeigen, wir haben immer noch eine Menge Zeit, bis Vater kommt.« Ist sie ein wenig rot, oder macht das der Abendhimmel? Ihre Haare flattern im Wind, dann geht sie eilig voran, den Leitdamm hinunter, am Beamtenhaus vorbei der Stadt zu. Sie winkt Mehrmann. Beide verschwinden.
Peter und Hans stehen dann auf der Kaimauer der Schleuse und warten auf die »Bianka«, die bald durch den Kanal kommen soll. Es kann aber auch noch einige Stunden dauern. Sie gehen hinüber zu den neuen Schleusen. So ein großes Bauwerk hat Hans noch nie gesehen. Ein paar kleine dänische Kutter liegen in der Schleusenkammer. Der Danebrog weht übergroß vom Mast. Das Wasser in der Schleuse hat sich schon gesenkt, und vorn bewegt sich das große eiserne Tor. Mehrere Meter dick ist die Wandung und haushoch. Langsam schiebt sich die Wand zur Seite, Zoll um Zoll, in einen Seitenkanal hinein. Die Dänen puffen schon los, während die Torwand sich noch bewegt, und drängen sich durch die Öffnung. Der Petroleumrauch weht blau auf die Jungen zu. Sie laufen nach vorn an den Schleusenkopf; denn jetzt soll die »Monte Rosa«, die draußen wartet, einfahren. Ein Schlepper arbeitet hinten, das Heck des großen Schiffes gegen die Flut zu stemmen. Kaum merklich gleitet der Koloß näher. Nun taucht die Spitze in die Schleusenkammer hinein. Man sollte denken, sie könnte solch ein Ungeheuer nicht fassen, und doch bleibt noch viel Platz hinten und auch an den Seiten. Hinüber und herüber werden die Taue geworfen und das Schiff festgelegt. Die Menschen drängen sich zu Hunderten an der Reeling. Da setzt auch wieder die Musik ein, die sich auf dem Oberdeck aufgestellt hat. Es ist ein Lachen, Singen, Jubeln! So ein Schauspiel hat Hans in seinem Leben noch nicht gesehen. Ihm wird wehmütig zu Sinn. Die Sonne steht nur wenig über dem Horizont und beleuchtet die vielen kleinen bunten Flaggen, die sich von Mast zu Mast winden.
Unmerklich fast taucht das große Schiff in die Höhe. Die Wasserstrahle aus dem Rumpf plätschern höher. Ein Zittern durchbebt den schwarzen Koloß, wenn er sich hebt. Die Taue straffen sich und ächzen. Da bewegt sich vom schon das Tor. Mit eigener Kraft fährt die »Monte Rosa« behutsam in den Kanal.
Bald liegt die »Bianka« in der Kammer vertäut, ein Frachtschiff, klein gegen den Vergnügungsdampfer. Herr Marquart steht auf der Schleusenmauer und begrüßt seinen Sohn. Der Vater ist der Typ eines Handelskapitäns, doch schon schneeweiß. Das kommt von den Strapazen des Weltkrieges, wo er jahrelang als Blockadebrecher nach Norwegen fuhr. Er fragt nach Mehrmann und »seiner lütten Deern«, tritt dann an Holtz heran und mustert dessen schäbigen Anzug von unten bis oben. Doch als er ihm ins Gesicht sieht, streckt er ihm die Hand entgegen und sagt: »Na, Sie haben in diesen Tagen allerlei Schiffe gesehen.«
Dann deutet er auf die »Bianka«: »Ich fuhr auch eine ›Bianka‹ im Kriege, es war noch die erste, die Reeder Karsten hatte. Nach Norwegen, Nahrungsmittel und Fische zu holen. Der Engländer lauerte immer draußen mit seinen Kriegsschiffen und wußte ganz genau, wann ich ausfahren sollte. Mit großen Kreuzern waren sie hinter mir her. Aber ich kannte das Schärengebiet besser. Das waren tolle Fahrten. Nach dem Kriege mußte ich die ›Bianka‹ abliefern. Die Engländer fuhren damit bei der ersten Fahrt auf eine Mine.
Wir haben keine Zeit, sonst würde ich Ihnen meine ›Bianka‹ zeigen.«
Dann wendet er sich wieder an seinen Sohn: »Wo bleibt Elke? Wir liegen sowieso schon länger hier als sonst und gehen gleich weiter. Sie muß dann mit der Bahn nach Hamburg rauf.« Da winkt auch schon der Offizier von der Kommandobrücke. Kapitän Marquart nimmt Elkes Koffer und begibt sich an Bord.
Ein Pfiff, die Leinen sollen gelöst werden; denn das Schleusentor setzt sich schon in Bewegung. Da kommt jemand angerannt. Elke! Mit rauschendem Kleid und rotem Gesicht läuft sie an den Jungen vorbei und turnt auf das Schiff, ohne sich zu verabschieden. Aber dazu bleibt ja jetzt noch Zeit. Schwer atmend steht sie hinten und winkt herüber. »Ich bin ganz aus der Puste! Peter, Herr Mehrmann wartet beim Boot drüben. Wann reisen Sie, Holtz?«
»Heute abend noch!« ist die Erwiderung. Die Sehnsucht hat ihn gepackt, seinen Brotbeutel zu holen und loszuwandern, zu seiner Mutter. Keinen Augenblick braucht er mehr hierzubleiben, jetzt, wo Elke weggeht.
»Reisen Sie doch bitte morgen früh«, ruft sie vom Schiff herüber, das sich schon langsam entfernt, »es ist ein bequemer Tagesmarsch bis zur Stadt Burg, und da kenn ich die Wirtsleute in der Jugendherberge. Die grüßen Sie von mir. Versprechen Sie mir's! Ja, bitte?«
»Ja, ja!« ruft Hans Holtz hinüber. Die Verständigung wird schon schwer. Elke steht und winkt. Ohne daß Hans es will, geht er mit bis an die Molenspitze und winkt zurück. Die Sonne ist untergegangen. Auf der »Bianka« werden die Lichter aufgezogen. Das Schiff entgleitet. Hans steht da und sieht in den Strom hinein, der sich am Horizont mit dem Meer vermählt. Ruhendes Wasser bis dahin, wo Meer und Abendhimmel, in dem das letzte Rot verglüht, ineinander übergehen. Weit drüben leuchten kleine grüne und rote Lichter auf. Dort liegt die »Edinburgh Castle« auf dem Grunde der Elbe, und »Wille« und »Kraft«, die beiden Bergungsfahrzeuge, sind bei ihrer Arbeit.
Hohl und weit klingt in der Abendluft ein Dampferruf.
War es die »Bianka«? Wollte Elke ihm ein Lebewohl zurufen?